EINSCHUB 3

Die Ameisen marschieren … meistens

Falls Sie jemals eine Natursendung oder irgendeinen beliebigen Cartoon mit Ameisen darin gesehen haben, kommt Ihnen wahrscheinlich das klassische Bild in den Sinn, wie die Ameisen in einer Reihe auf ein gemeinsames Ziel zumarschieren. So marschieren die Ameisen , eine nach der anderen, hurra, hurra! Das ist unsere Vorstellung von ihnen. Und Wanderameisen marschieren wirklich so.

Meistens.

Wenn Sie näher hinsehen, stellen Sie fest, dass zwar die meisten Ameisen in einer Reihe zu einer Nahrungsquelle und zurück laufen, doch es gibt immer einen gewissen Anteil an Wanderameisen, die scheinbar ziellos umherwuseln.

Sie folgen dem Programm nicht.

Sie sehen verdächtig nach Schmarotzern aus, die sich vor der Verantwortung drücken, Nahrung in den Bau zu transportieren. Sind das Ameisen mit einer bestimmten Einstellung? Sind sie Rebellen? Faule Herumlungerer? Ameisenanarchisten? Anti- Establishment-Ameisen?

Wie sich herausstellt, dienen diese Ameisen einem entscheidenden Zweck, und dieser Zweck hat eine Menge mit dem Aufhören zu tun.

Um sich die Vorgehensweise zu vergegenwärtigen, ist es hilfreich zu begreifen, wie die Ameisen überhaupt erst diese Reihe bilden.

Wenn Ameisen ein neues Territorium betreten, wandern sie herum, über das ganze Gebiet verteilt, das Gegenteil der klassischen Marschlinie, die wir zu sehen erwarten. Denn es gibt noch keine etablierte Nahrungsquelle, und die Ameisen sind auf der Suche danach.

Findet eine Ameise Nahrung, trägt sie sie zum Bau. Auf dem Weg hinterlässt sie einen chemischen Geruchsstoff, der Pheromonspur genannt wird und nur schwach ist, wenn er von lediglich einer Ameise kommt. Jede Ameise, die diesen Geruch wahrnimmt, folgt demselben Weg. Und wenn die Nahrungsquelle hochwertig genug ist, findet auch sie Nahrung und legt eine eigene Pheromonspur auf demselben Rückweg zum Bau.

Während der chemische Geruch stärker wird, beginnen auch andere Ameisen, dem Weg zu folgen. Je besser die Nahrungsquelle, desto stärker der Verkehr, was wiederum den Pfad stärker und stärker macht. So kommt am Ende das klassische Bild der in einer Reihe marschierenden Ameisen zustande.

Der Pfad ist wie ein Pheromon-Katamari.

Die Entscheidung der Aufteilung von Zeit zwischen der Suche nach Neuem und der Nutzung des bereits Entdeckten ist Teil des klassischen Exploration-Exploitation-Problems. 5 Wie viel Zeit sollten Sie mit dem Erforschen der Landschaft nach neuen Gelegenheiten verbringen, und wie viel Zeit sollten Sie der Nutzung von Dingen widmen, die bereits eine positive Werterwartung aufweisen?

Exploitation in diesem Sinne bedeutet nicht Manipulation oder etwas heimlich zu tun . Es bedeutet nur, dass Sie von einer Chance profitieren, die Sie bereits haben.

Bei einem Unternehmen, das über ein etabliertes Produkt verfügt, werden die Ressourcen, die in die Fortsetzung der Vermarktung, der Produktion und des Verkaufs dieses Produkts gesteckt werden , für die Exploitierung von etwas aufgewendet, das bereits entdeckt wurde , so wie Blockbuster ein profitables Geschäftsmodell des Ausleihens und Verkaufens von Videos in Ladenlokalen exploitierte. Dagegen werden Ressourcen, die in die Erforschung und Entwicklung neuer Produkte oder Strategien investiert werden , für die Exploration aufgewendet, die Entdeckung neuer Produkte oder Geschäftsmodelle , denen das Unternehmen nachgehen könnte. Da Firmen begrenzte Ressourcen haben , erkennen Sie sofort, wie wichtig es ist, das Gleichgewicht zwischen Exploration und Exploitation herauszufinden. Wenn das nicht gelingt und man zu wenig exploriert, hört man auf zu innovieren und hält an dem fest, was früher gut geklappt hat, bis man irgendwann raus ist aus dem Geschäft.

Dasselbe gilt natürlich für unser Privatleben und wie wir unsere Zeit-, Geld-, Aufwands- und Aufmerksamkeitsressourcen zwischen dem Erforschen neuer Möglichkeiten und dem Festhalten an den bereits vorhandenen aufteilen.

Wenn Akademiker über das Exploration-Exploitation -Problem nachdenken, führen sie häufig die Ameisen als Beispiel für die angemessene Balance zwischen den beiden an.

Das führt uns zu dem Rätsel der herumwuselnden Ameisen. Wenn die Pheromonspur so ein verlässliches Signal ist und fast alle Ameisen sie sofort aufgreifen und anfangen, die Nahrungsquelle zu nutzen, was ist dann mit diesen paar anderen los?

Die Antwort ist, dass diese Ameisen weiterhin das Territorium erforschen. Das erfüllt für die Kolonie aus zwei Gründen einen wichtigen Zweck.

Erstens werden die Ameisen manchmal gezwungen, die von ihnen ausgebeutete Nahrungsquelle aufzugeben. Schließlich können Nahrungsquellen instabil sein. Die Ameisen können Pech haben. Die Nahrungsquelle kann verschwinden. Für die Kolonie ist es besser, einen Ausweichplan zu haben. Diese Ameisen, die weiter die Gegend erkunden, suchen genau diesen.

Zweitens: Selbst wenn die Nahrungsquelle stabil bleibt, heißt das nicht, dass es nicht noch eine bessere gibt als die derzeit genutzte. Nur weil die Ameisen etwas Gutes haben , heißt das nicht, dass es nicht noch etwas Besseres zu finden gibt.

Wenn alle Ameisen in den Exploitierungsmodus gehen und 100 Prozent von ihnen im Gleichschritt denselben Pheromonpfad entlangmarschieren, werden sie diese bessere Nahrungsquelle nie entdecken, weil keiner von ihnen danach Ausschau hält.

Das ist schlecht für das Überleben der Ameisen, denn wenn es da draußen eine hochwertigere Nahrungsquelle gibt , sollten die Ameisen zu dieser überwechseln, aber das können sie nur, wenn sie davon wissen.

Deshalb stellt sich heraus, dass die Ameisenanarchisten überhaupt keine Anarchisten sind.

Natürlich liegt darin eine Lektion für uns Menschen. Wenn die Ameisen neu in ein Territorium kommen, erforschen sie es nach Gelegenheiten. Haben sie eine Gelegenheit gefunden, eine hochwertige Nahrungsquelle, beginnen sie mit deren Ausbeutung . Doch ein gewisser Prozentsatz von ihnen hört nicht mit dem Erforschen auf. Das ermöglicht es ihnen, Alternativpläne zu entdecken. Diese Alternativpläne sind wirklich nützlich, wenn die Ameisen zum Aufhören gezwungen werden, wenn sie Pech haben und die Nahrungsquelle verschwindet. Doch ebenso wichtig ist, dass sie bei der Suche nach einem Plan B manchmal etwas finden, das sogar noch besser ist als Plan A.

So müssen wir auch denken. Wenn wir etwas finden, das für uns gut funktioniert, sei es ein Arbeitsplatz, ein Beruf, ein Produkt, das wir entwickeln, eine Geschäftsstrategie oder auch ein Lieblingsrestaurant, zu dem wir gern gehen, ist es in einer so ungewissen Welt wie der unseren eine gute Strategie, weiterhin zu erforschen, welche weiteren Optionen zur Verfügung stehen könnten.

Hören Sie nie auf zu forschen.

Diesem Thema wenden wir unsere Aufmerksamkeit im letzten Teil des Buches zu .