KAPITEL 11

Die Kurzsichtigkeit der Ziele

D ER LONDON MARATHON VON 2019 WAR DER GRÖSSTE in der Geschichte dieses Events; über 42.000 Teilnehmer absolvierten die 42 Kilometer. Bei so vielen Teilnehmern überrascht es nicht, dass das Rennen voller ungewöhnlicher Geschichten und Errungenschaften war. Das Guinness-Buch der Rekorde vergab an diesem Tag achtunddreißig Titel, darunter »schnellster Marathon mit zwei durch Handschellen aneinandergeketteten Läufern (gemischt)«, »schnellster Marathon als Weihnachtsbaum verkleidet (männlich)« und, seltsamerweise vier Minuten langsamer als der Weihnachtsbaum, »schnellster Marathon als Baum verkleidet (männlich)«.

Und dann ist da noch die Geschichte von Siobhan O’Keeffe. O’Keeffe hatte vier Monate für das Ereignis trainiert und hoffte, es in ungefähr fünf Stunden zu schaffen. Nach 6 Kilometern fing ihr Knöchel an zu schmerzen und wurde immer schlimmer. Sie rannte trotzdem weiter und ignorierte die Signale, die ihr Körper ihr schickte.

Nach weiteren 6 Kilometern brach ihr Wadenbein in zwei Teile.

Warum rannte jemand mit wachsenden Schmerzen, wie O’Keeffe sie verspürte, so lange weiter, bis er sich das Bein brach?

Wenn jemand, der einen Marathon laufen will, wüsste, dass er sich nach 12 Kilometern das Bein bricht, sagt uns allen unsere Intuition, dass er gar nicht erst antreten würde. Und wenn man jemanden fragt, der bereits gestartet ist, ob er zu laufen aufhören würde, bevor er sich das Bein bricht, da einer solchen Verletzung doch wohl erhebliche Schmerzen vorausgehen müssen, wäre seine Antwort ebenfalls ein deutliches Ja.

O’Keeffe verstößt gegen unsere Intuition. Und die Sache wird sogar noch seltsamer.

Die Mediziner rieten ihr, den Lauf abzubrechen – kein Wunder, immerhin war ihr Wadenbein durchgebrochen –, doch sie weigerte sich. Sie legte die letzten 30 Kilometer unter schier unerträglichen Schmerzen zurück und beendete den Marathon in 6:14:20.

Vielleicht halten Sie das für eine bizarre, schräge, abwegige Story, aber eigentlich ist sie gar nicht so ungewöhnlich, wie man meinen sollte. Genau genommen brach sich am selben Tag, beim selben Marathon und an derselben Stelle des Rennens ein weiterer Läufer den Fuß und legte damit die restlichen 30 Kilometer zurück. Steven Quayle war nach 12 Kilometern auf eine weggeworfene Wasserflasche getreten und hatte sich dabei den rechten Fuß, die Wade und die Hüfte verletzt. Die Schmerzen wurden schlimmer. Bei Kilometer 25 musste er zur Behandlung an einem Physiozelt anhalten, der erste von vier oder fünf solcher Stopps, ehe er in 3:57:33 durchs Ziel ging.

Vier Wochen später, beim Edinburgh Marathon, brach sich Mike Lewis-Copeland bei Kilometer 25 das Wadenbein. Der Schmerz war anders als alles, was er je erlebt hatte, aber er humpelte weiter, zog das Bein hinterher und bewältigte die restlichen 17 Kilometer, ehe er in 4:30 durchs Ziel ging.

Beim London Marathon von 2014 hatte Graham Colborne genau dasselbe getan wie Steven Quayle fünf Jahre später: Nach 12 Kilometern trat er auf eine Wasserflasche, brach sich einen Fußknochen und rannte die restlichen 30 Kilometer unter Höllenqualen weiter.

Eine rasche Google-Suche ergibt etliche solcher Geschichten nur allein vom London Marathon. Im Jahr 2012 brach sich Darren Oliver nach nur anderthalb Kilometern das Bein und rannte die restliche Strecke bis zum Ziel unter furchtbaren Schmerzen. Beim Marathon 2021 hatte Angie Hopson schon beim Start Schmerzen. Es wurde so unerträglich, dass sie nach 9 Kilometern anhalten musste, aber nur kurz. Sie legte die letzten 33 Kilometer zurück und stellte am nächsten Tag fest, dass sie dies mit einem gebrochenen Bein getan hatte.

Viele dieser Verletzungen widerfuhren passionierten Langstreckenläufern. Indem sie unter Schmerzen weiterliefen, riskierten sie nicht nur ihre Gesundheit oder den Schmerz einer noch schlimmeren Verletzung. Sie gefährdeten auch ihre Fähigkeit zum Trainieren und zur Teilnahme an weiteren Rennen, also etwas, das sie sehr liebten und dem sie in ihrem Leben Priorität einräumten. Sowohl Oliver als auch Hopson klagten darüber, wie lange sie würden aussetzen müssen, ehe sie wieder laufen konnten. Lewis-Copeland, der 2019 den London Marathon gelaufen war, ehe er sich in Edinburgh das Wadenbein brach, erkannte an, dass seine Erholung und Rehabilitation ihn von seinen Plänen abhalten würde, in diesem Jahr noch sechs weitere Marathons zu laufen.

Warum missachten diese Läufer ihren Schmerz bis zu dem Punkt, dass ihr Weitermachen zu Knochenbrüchen führt? Und warum laufen sie nach der Verletzung weiter und setzen ihre zukünftige Teilnahme an weiteren Rennen aufs Spiel?

Weil es eine Ziellinie gibt.

Ziellinien sind eine komische Sache. Entweder erreicht man sie oder nicht. Entweder hat man Erfolg, oder man scheitert. Es gibt nichts dazwischen. Der dabei zurückgelegte Fortschritt spielt kaum eine Rolle.

Wenn wir berücksichtigen, wie falsch unsere Intuition liegt, dass wir aufhören, wenn die Umstände deutlich machen, dass wir dies tun sollten, machen uns diese Marathonläufer verständlich, warum wir uns da so irren. Hat man das Rennen erst einmal begonnen, wird der Erfolg nur am Erreichen der Ziellinie gemessen. Und selbst ein gebrochenes Bein lässt uns nicht aufhören, wenn wir vor der Wahl stehen, zu versagen oder unter Schmerzen weiterzumachen.

Das Alles-oder-nichts-Problem

Die Vorteile der Zielsetzung sind wohlbekannt. Ziele definieren Ihre Richtung und geben Ihnen etwas, das Sie anstreben können. Sie motivieren Sie zum Durchhalten, wenn es anstrengend wird. Wiederholt wurde nachgewiesen, dass Ziele, die sowohl herausfordernd als auch spezifisch sind, einen härter arbeiten lassen und effektiver sind als schwammigere und allgemeinere Ziele. Wenn Sie sagen: »Ich will 25 Kilometer pro Woche laufen«, oder: »Ich möchte meinen Notendurchschnitt im nächsten Semester um eine halbe Note verbessern«, machen Sie mehr Fortschritte bei der Erreichung dieser Dinge, als wenn Sie sagen: »Ich möchte mehr laufen«, oder: »Ich will mir im Unterricht mehr Mühe geben.«

Aber nur weil das Setzen von Zielen viele Vorteile hat, heißt das noch lange nicht, dass es nicht auch Nachteile mit sich bringt. Wie Sie vielleicht bereits vermuten, sollten klar definierte Ziellinien mit einer Warnung versehen sein: Achtung, Gefahr von eskalierendem Commitment.

In einer Reihe von Veröffentlichungen stellten Maurice Schweitzer von der Wharton School, die damals an der University of Arizona tätige Lisa Ordóñez sowie mehrere andere Wissenschaftler wie Max Bazerman, Adam Galinsky und Bambi Douma die Behauptung auf, dass Ziele auch eine dunkle Seite haben. Sie verwiesen auf zahlreiche negative Folgen der Zielsetzung, von denen einige das rationale Ausstiegsverhalten beeinträchtigen. Im Besonderen verweisen sie auf den Alles-oder-nichts-Aspekt von Zielen, ihre Inflexibilität und dass sie möglicherweise dazu verleiten, andere verfügbare Chancen zu ignorieren.

Ein wiederkehrender Hinweis der Autoren lautet, dass Ziele uns zwar zu mehr Durchhaltevermögen verhelfen, dass Durchhalten aber nicht immer eine Tugend ist. Wie Sie bereits wissen, ist Beharrlichkeit gut, um schwierige, aber lohnenswerte Vorhaben umzusetzen, doch sie lässt einen auch an schwierigen, nicht mehr lohnenswerten Zielen festhalten.

Was Ziele so effektiv macht, ist zum Teil, dass sie Ihren Fokus auf die Ziellinie lenken und Sie zum Weitermachen motivieren. Die Dualität ist jedoch, dass Ziele Sie auch davon abhalten, in einer schlimmen Situation auszusteigen, weil sie Ihren Fokus auf die Ziellinie lenken und Sie zum Weitermachen motivieren.

Warum? Zum Teil weil sie nur »erreicht« oder »verfehlt« kennen.

Um zu begreifen, warum dieser Alles-oder-nichts-Faktor von Zielen Fortschritt verhindern und eskalierendes Commitment verstärken kann, machen wir mal ein Gedankenexperiment. Was fühlt sich schlimmer an? Wenn Sie gar nicht erst versuchen, einen Marathon zu laufen, oder wenn Sie es versuchen und nach 25 Kilometern abbrechen müssen? Im ersten Fall haben Sie nie für einen Marathon trainiert, sind nie bei einem gestartet und haben nie einen beendet. Sie laufen 0 Kilometer. Im zweiten Fall beschließen Sie, es zu versuchen, Sie trainieren, Sie gehen an den Start, und nach 25 Kilometern müssen Sie aufhören.

Ich glaube, wir neigen intuitiv alle dazu, dass der letztere Fall schlimmer ist, obwohl diese Version Ihrer selbst den Langstreckenlauf trainiert hat und tatsächlich 25 Kilometer eines 42-Kilometer-Rennens bewältigt hat, verglichen mit der Version Ihrer selbst, die den Hintern gar nicht erst vom Sofa hochbekommen hat.

Der Grund dafür, dass es sich schlimmer anfühlt, ist der: Wenn Sie es nicht versuchen, wenn Sie nicht an den Start gehen, ist die Nichterreichung der Ziellinie kein Scheitern, denn Sie haben sich dieses Ziel ja gar nicht erst gesetzt.

Die Alles-oder-nichts-Beschaffenheit von Zielen behindert Ihren Fortschritt, weil sie Sie davon abhält, mit etwas anzufangen, aus Angst, dass Sie es nicht beenden können. Kein Zweifel, die Person, die trainiert hat und 25 Kilometer eines Marathons gelaufen ist, ist fitter als jene Person, die gar nicht erst angefangen hat. Wenn Ihr Ziel eine bessere Fitness ist, dann hat die erste Person eindeutig mehr Fortschritte in diese Richtung gemacht.

Aber viele von uns lässt diese Angst vor dem Scheitern gar nicht erst anfangen.

»Wenn eine Olympia-Goldmedaille die einzige Möglichkeit zum Bestehen ist«, witzelte Richard Thaler, »will man eigentlich nicht mal einen ersten Gymnastikkurs machen.«

Haben wir uns erst mal ein Ziel gesetzt, so messen wir uns daran. Wenn wir einen Marathon laufen, ist alles außer 42,195 Kilometern ein Versagen. So verstärken Ziele die Eskalation des Commitments, denn alles diesseits der Ziellinie ist für uns inakzeptabel. Es spielt keine Rolle, was in der Welt oder in unserem Körper passiert. Wir wollen uns nur einfach nicht als Versager fühlen.

Wir rennen einfach weiter zur Ziellinie, bis wir uns das Bein brechen.

Das Problem unserer Abneigung gegen das Abschließen von Konten im Verlustbereich wird durch den Alles-oder-nichts-Aspekt von Zielen noch verstärkt. Sobald man sich ein Ziel setzt, gerät man sofort in die Verlustzone, zumindest im Verhältnis zur eigenen Entfernung von diesem Ziel. Sobald man die Startlinie überquert hat, hat man die Ziellinie nicht erreicht.

Wenn ein Wirtschaftsfachmann darüber spricht, in der Gewinn- oder Verlustzone zu sein, meint er damit, ob man im Vergleich zur Ausgangssituation gerade gewinnt oder verliert. Doch wie es so häufig der Fall ist, schert sich unsere Kognition nur sehr wenig um die Aussagen von Wirtschaftsfachleuten, wenn es um Ziele geht.

Im Verlustbereich zu sein, ist ebenso ein Geisteszustand wie alles andere. Wir sehen uns nicht in der Gewinnzone, obwohl wir weiter sind als zu Anfang, weil wir uns nicht daran messen, wie weit wir die Startlinie hinter uns gelassen haben. Wir messen uns nur daran, dass wir noch nicht die Ziellinie erreicht haben.

Weil wir mentale Konten nicht mit Verlusten abschließen wollen, rennen wir einfach weiter auf die Ziellinie zu, selbst wenn wir das Gefühl haben, unser Bein würde bald brechen, und sogar danach.

Wenn Sie 90 Meter vor dem Gipfel des Mount Everest umkehren, wird sich das wie ein Scheitern anfühlen. So müssen Rob Hall und sein Kunde Doug Hansen sich gefühlt haben, als sie 1995 so nah am Gipfel umkehrten, in dem Jahr, ehe die Expedition in Jon Krakauers Buch beschrieben wurde.

Egal, dass Hansen über 8500 Meter hoch geklettert war, etwas, das die meisten Menschen niemals geschafft haben.

Hansen beschrieb dieses Gefühl des Scheiterns im vorherigen Jahr gegenüber Krakauer sehr prägnant: »Der Gipfel wirkte sooo nah. Glaub mir, es ist seither kein Tag vergangen, an dem ich nicht daran gedacht hätte.«

Als Hall Hansen überredete, zurückzukommen und es noch einmal zu versuchen, ließ das die beiden in der Verlustzone starten. Sie eröffneten ein neues Konto, einen zweiten Versuch, den Everest zu besteigen, und jedes Nichterreichen des Gipfels würde ein erneutes Scheitern bedeuten.

Hall fühlte sich verpflichtet, Hansen diesmal die Ziellinie erreichen zu lassen, und so wartete er, der ansonsten als extrem methodischer Bergführer und Expeditionsleiter bekannt war, zwei Stunden am Gipfel auf Hansens Ankunft, bis die Umkehrzeit, die er für seine Kunden festgelegt hatte, längst vorüber war. Natürlich endete das mit einer Tragödie für die beiden.

Der Fortschritt auf dem Weg sollte eine Rolle spielen, doch wir wischen ihn beiseite, denn bei Zielen heißt es »erreicht« oder »verfehlt«, alles oder nichts, ja oder nein. Es werden keine Teilkredite gegeben.

Insgesamt kann dieser Alles-oder-nichts-Aspekt von Zielen den Fortschritt behindern, eskalierendes Commitment verursachen und uns davon abhalten, den auf unserem Weg erzielten Fortschritt als Erfolg zu betrachten.

Das Schlimme an der Sache ist, dass diese Ziellinien oft willkürlich sind.

Wenn man im Kontext eines 5K 5 Kilometer schafft, ist man erfolgreich. Läuft man aber genauso weit im Kontext eines Halbmarathons, ist das ein Versagen. Wenn man 21 Kilometer im Kontext eines Halbmarathons läuft, ist das ein Erfolg, im Kontext eines Vollmarathons dagegen hat man versagt. Und die erfolgreiche Bewältigung von 42 Kilometern wird zum Scheitern, wenn man einen Ultramarathon laufen wollte.

Wenn wir begreifen wollen, warum Sasha Cohen nach der Olympiade von 2006 drei Jahre lang unglücklich war, müssen wir uns nur den Alles-oder-nichts-Faktor von Zielen vor Augen führen. Ihre Ziellinie, die sie als Favoritin der Olympischen Spiele 2006 erreichen wollte, war die Goldmedaille. Sie scheiterte, als sie bei ihrer Kür ins Straucheln geriet und sich mit Silber zufriedengeben musste.

Es zählt wenig, die Zweitbeste auf der Welt zu sein, wenn das Ziel lautet, die Beste zu sein. Und so trat sie unglücklich bei Eiskunstlaufshows auf und hielt durch, um 2010 noch einmal zu versuchen, die Ziellinie zu erreichen. Als sie die Aufnahme in das olympische Team um zwei Plätze verfehlte und schließlich die Altersgrenze überschritten hatte, zwang sie das, dieses mentale Konto zu schließen. Sie fühlte sich von der Last befreit, die diese Alles-oder-nichts-Ziele ihr auferlegt hatten.

Ziele funktionieren, manchmal allerdings so gut, dass sie uns klare Signale ignorieren lassen, dass ihre weitere Verfolgung sich nicht lohnt. Wenn es bei einem Ziel um alles oder nichts geht, haben Sie im Grunde nur die Wahl, gar nicht erst anzufangen oder um jeden Preis am Ziel festzuhalten.

Dies trägt zum Paradox des Aufhörens bei. Das Schöne an einer Ausstiegsoption ist, dass sie uns leichter Entscheidungen unter ungewissen Umständen treffen lässt. Wann immer wir eine Entscheidung treffen, sei es, zu einem Rennen anzutreten, auf einen Berg zu steigen, ein Geschäft zu gründen oder eine Beziehung anzufangen, so treffen wir sie mit unvollständigen Informationen in einer stochastischen Welt. Wir werden vom Glück beeinflusst. Die Welt kann sich verändern. Wir können uns verändern.

Bei fast allem, das zu glauben oder zu tun wir uns entschließen, haben wir die Option, unsere Meinung zu ändern oder an irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt auszusteigen. Wenn wir mit dieser Entscheidung konfrontiert sind, haben wir im Allgemeinen viel bessere Informationen als zu dem Zeitpunkt, da wir uns anzufangen entschlossen haben.

Doch diese Abbruchoption ist nur dann von Nutzen, wenn wir sie auch anwenden. Das Problem ist, dass wir es nicht tun, und hier sehen wir auch warum. Haben wir erst einmal begonnen, versetzen wir uns selbst in die Verlustzone. Wir haben unser Ziel nicht erreicht, der Fortschritt, den wir auf dem Weg gemacht haben, zählt praktisch nichts.

Das lässt uns weiter auf die Ziellinie zu rennen, zur Hölle mit dem gebrochenen Bein.

Feste Objekte in einer veränderlichen Welt

Verstärkt wird das Alles-oder-nichts-Problem noch dadurch, dass wir ein Ziel nur selten überarbeiten, nachdem wir es einmal festgelegt haben. Ziele werden eher gesetzt und dann vergessen. Die Ziellinie bewegt sich nicht.

Wenn es keine Ungewissheit gäbe und die Welt sich nicht veränderte, wäre das kein Problem, denn egal welchem Leitstern Sie zustreben, er wäre nicht nur genau der richtige Leitstern für Sie, sondern würde dies auch bleiben. Natürlich ist die Welt ungewiss und verändert sich. Das heißt, dass in Reaktion darauf auch unsere Ziele sich verändern sollten. Doch von uns festgelegte Ziele sind bemerkenswert unempfänglich für neue Informationen.

Wann immer wir ein Ziel setzen, gehen wir Kompromisse ein. Uns sind alle möglichen unterschiedlichen Dinge wichtig – Geld, Zeit mit der Familie, Zeit für Hobbys, Zeit für Freunde, die Gesundheit, anderen zu helfen und so weiter und so fort. Es gibt kein Ziel, das uns alles maximieren lässt, woran uns gelegen ist.

Naturgemäß räumen Ziele bestimmten Dingen, die uns wichtig sind, mehr Wert ein als anderen. Im Kern fragen wir uns: »Was will ich erreichen, und was bin ich dafür aufzugeben bereit?« Die Vorteile der Zielverfolgung werden die Kosten mutmaßlich überwiegen.

Ein Ziel ist der Ausdruck dieses Balanceakts. Mit anderen Worten, wir versuchen, unsere Werterwartung zu maximieren, und die Ziele, die wir uns setzen, sollen uns dabei helfen.

Wenn Sie sich beispielsweise das Ziel setzen, einen Marathon zu laufen, erwarten Sie, dass Sie manches bekommen und manches aufgeben. Es könnte Ihnen wichtig sein, etwas Schweres zu schaffen. Oder das Ziel spiegelt die Bedeutung wider, die Fitness für Sie hat. Oder vielleicht fühlt es sich für Sie wunderbar an, in der freien Natur zu laufen. Es können auch viele andere Dinge sein. Was man will und welche relative Wichtigkeit das besitzt, ist bei jedem anders.

Das gilt auch für das, was Sie im Hinblick auf andere Ihnen wichtige Dinge zu opfern bereit sind. Für einen Marathon zu trainieren, heißt natürlich, dass Sie Zeit mit Ihrer Familie oder Ihren Freunden opfern müssen oder andere Hobbys, die Ihnen Freude machen. Die meisten Menschen genießen das körperliche Wohlbefinden, und Sie werden das bis zu einem gewissen Grad eindeutig aufgeben müssen. Routinemäßige Erschöpfung und Verletzungen sind Teil des Trainierens und Ausübens von Langstreckenläufen. Sicher kalkulieren Sie auch ein, dass Sie einige Zeit draußen verbringen müssen, wenn es kalt ist oder regnet, und das manchmal frühmorgens, statt auszuschlafen.

Auch bei der beruflichen Zielsetzung nehmen Sie eine solche Kosten-Nutzen-Analyse vor. Wenn es Ihr Ziel ist, in die Führungsebene eines Fortune-500-Unternehmens aufzusteigen, räumen Sie bestimmten Dingen, die Ihnen wichtig sind (zum Beispiel Ihre Karriere oder Ihren Kontostand voranzubringen), Priorität ein gegenüber anderen Dingen, die Sie aufzugeben bereit sind (zum Beispiel einen gemütlichen Job zu haben, bei dem Sie keine Arbeit mit nach Hause nehmen müssen).

Ob explizit oder implizit, das von Ihnen gesetzte Ziel ist ein Stellvertreter für eine Werterwartungsgleichung, in der die Vorteile, die Sie zu erzielen versuchen, gegen die Kosten abgewogen werden, die Sie dafür tragen werden.

All das gehört zum Prozess der Zielsetzung. Doch was passiert mit der Kalkulation, wenn das Ziel festgelegt ist und Sie darauf hinarbeiten?

Nach der Festlegung eines Ziels wird es zum festen Objekt. Dieses Ding, das stellvertretend für etwas anderes steht, wird zum Objekt selbst. Das Ziel ist das, was wir zu erreichen versuchen, statt all der Werte, die wir bei seiner Festlegung ausgedrückt und ausbalanciert haben.

Das Ziel wird fixiert, obwohl all die Faktoren, die zu seiner Wahl geführt haben, sich weiterentwickeln. Die Bedingungen in der Welt verändern sich. Unser Wissen verändert sich. Unsere Gewichtung von Nutzen und Kosten verändert sich. Unsere Vorlieben und Werte verändern sich.

Würden wir erneut eine Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen, während all diese Veränderungen geschehen, käme sicherlich ein anderes Ergebnis dabei heraus. Tun wir aber nicht.

Um das zu erreichen, was wir erreichen wollen, müssen wir darauf reagieren, wie die Welt ringsumher sich verändert und wie wir selbst uns verändern. Das würde bedeuten, unsere Ziele loszulösen, aber von selbst tun wir das nicht.

Die Kombination aus Alles-oder-nichts-Beschaffenheit und Festgelegtheit von Zielen lässt uns immer weiter auf die Ziellinie zurennen, selbst wenn sie gar nicht mehr das ist, das wir anstreben sollten.

Unflexible Ziele passen nicht gut in eine flexible Welt.

Jedes Ziel braucht mindestens ein »Außer«

Ziele sind wirkungsvolle Instrumente. Sie können es ermöglichen, Lohnendes zu erreichen. Doch nur allein die Tatsache, dass man ein Ziel hat, kann zu eskalierendem Commitment führen, bei dem man letztlich an einem Ziel festhält, das gar nicht mehr die beste Möglichkeit ist, um das zu erreichen, was man erreichen will.

Es ist natürlich zum Teil die Unveränderlichkeit von Zielen, die einen solchen Schaden anrichtet. Sobald wir ein Ziel festgelegt haben, erhalten wir neue Informationen. Die Welt verändert sich. Wir verändern uns. Wir trainieren bestimmte Affen. Flexiblere Ziele zu schaffen, ist eine Art, damit umzugehen.

Ein »Außer« ist etwas Mächtiges. Unseren Zielen ein paar wohlüberlegte Außers hinzuzufügen, lässt uns die Flexibilität erreichen, die wir brauchen, lässt uns besser auf die veränderlichen Bedingungen reagieren und verringert ein eskalierendes Commitment bei zum Scheitern verurteilten Vorhaben.

»Ich arbeite weiter an diesem Verkauf, außer ich kann keine Führungskraft in den Besprechungsraum kriegen.«

»Ich behalte meinen Arbeitsplatz, außer ich muss ständig Arbeit mit nach Hause nehmen oder fange an, morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit zu gehen, und dieses Gefühl hält an.«

»Ich entwickle dieses Produkt weiter, außer ich verfehle innerhalb der nächsten beiden Monate klare Benchmarks, die ich mit meinem Ausstiegscoach festgelegt habe.«

»Ich laufe diesen Marathon weiter, außer ich breche mir etwas.«

Deshalb sind K.-o.-Kriterien so wichtig. Wenn Sie sich ein Ziel setzen, erstellen Sie eine Liste von K.-o.-Kriterien, die Ihnen die notwendigen Außers liefern, um rationaler darüber zu entscheiden, wann der richtige Moment zum Aufhören gekommen ist.

Solche K.-o.-Kriterien könnten das umfassen, was das Wort schon andeutet, zum Beispiel ein Verhalten Ihres Chefs, das Ihnen seine Toxizität deutlich macht, oder steigende Zinsen, oder ein aufziehender Nebel, oder der Beginn einer Pandemie.

Oder sie könnten sich auf Ihre eigenen Veränderungen beziehen, sei es der Schmerz, den Sie spüren, bevor Ihr Wadenbein bricht, oder, wie in meinem Fall, eine Krankheit, an der Sie schon länger laborieren und die plötzlich akut wird.

Es kann auch sein, dass sich einfach Ihre Vorlieben ändern oder dass die Dinge sich ändern, die Ihnen wichtig sind. Dass eine Tätigkeit in der Dienstleistungsbranche nichts mehr für Sie ist. Oder dass der Sport, den Sie früher geliebt haben, Ihnen jetzt keinen Spaß mehr macht.

Damit diese Außers möglichst effektiv werden, müssen wir Vorbindungsverträge eingehen, die bestimmen, wie wir mit diesen K.-o.-Kriterien umgehen. Und um sicherzustellen, dass wir die Außers auswählen, die uns am schnellsten Auskunft darüber geben, ob das, was wir tun, sich überhaupt lohnt, müssen wir uns die Mühe machen, Affen und Podeste zu identifizieren.

Dies gemeinsam mit einem Ausstiegscoach zu tun, der Sie für diese Außers in die Pflicht nimmt, ist sogar noch besser.

Natürlich müssen die Außers im Vorfeld geplant werden. Sie versuchen, möglichst viele Szenarios vorauszusehen. Sie können aber nicht jeden Umstand vorausplanen, unter dem Sie dranbleiben, und jeden Umstand, unter dem Sie aussteigen würden.

Das heißt, Sie müssen immer wieder die Kosten-Nutzen-Analyse überprüfen, für die das Ziel ein Stellvertreter ist. Sie sollten in regelmäßigen Abständen evaluieren, ob die Werte, denen Sie Priorität einzuräumen versuchen, immer noch Priorität genießen, und ob die Werte, die Sie weiter unten ansiedeln, also die Kosten, die Sie tragen, immer noch lohnenswert sind. Solche Überprüfungen bieten auch die Gelegenheit, alte K.-o.-Kriterien noch einmal zu evaluieren und neue festzulegen.

Mit guten Außers können wir dem Drängen kurzfristiger Ziele entkommen, die uns eigentlich gar nicht bei der Erreichung unserer langfristigen Ziele helfen.

Wir gehen so leicht in die Falle und versuchen, nur eine einzige Pokerrunde zu gewinnen, oder dafür zu sorgen, dass wir nicht als Verlierer aus einem Spiel hervorgehen. Aber solche lokalen Ziele können uns davon abhalten, mit unserem Handeln die Realität abzubilden, dass das Leben ein einziges langes Spiel ist. Also zu versuchen, die Werterwartung über unsere gesamte Lebensdauer hinweg zu maximieren, wozu wir manchmal diese Zwischenziellinien aufgeben müssen.

Es gibt viele Außers, die man beim Pokern anwenden kann. Ich spiele weiter, außer ich habe einen bestimmten Geldbetrag verloren, oder außer neue Spieler sind in die Runde gekommen, die deutlich besser sind als die vorherigen, oder außer ich habe länger als eine bestimmte Zahl von Stunden gespielt, oder außer ich werde emotional oder müde oder krank. Außers können uns von den Kräften befreien, die uns kurzfristig weiterspielen lassen, auf der Jagd nach einem Gewinn, und stimmen unser Verhalten besser auf unsere langfristigen Interessen ab.

Mit etwas weiterzumachen, das sich nicht mehr lohnt, wird Sie daran hindern, die Vorteile zu erzielen, die der eigentliche Grund dafür waren, dass Sie sich dieses Ziel überhaupt gesetzt haben, oder es erlegt Ihnen mehr Kosten auf, als Sie ursprünglich zu tragen bereit waren.

Ihre Ziele sollten sich ändern, weil die Welt sich ändert und Sie sich ändern. Um mit all diesen Veränderungen Schritt zu halten, müssen Sie regelmäßig überprüfen, ob Sie noch auf dem kürzesten Weg zur Ziellinie sind oder ob Sie überhaupt am richtigen Ort laufen.

Fortschritte markieren

Erfolg nur als Überschreiten der Ziellinie zu definieren, ist eine ziemlich eingeschränkte Weltsicht.

Es ist nicht nur so, dass wir flexiblere Ziele setzen müssen. Wir selbst müssen auch flexibler werden beim Evaluieren von Erfolg und Misserfolg.

Die Art, wie wir Ziele als erreicht oder verfehlt betrachten, ist per definitionem unflexibel und strikt und lässt uns sämtliche erzielten Fortschritte geringschätzen oder vollständig ignorieren. Das heißt, um diesem Problem zu begegnen, müssen wir Möglichkeiten finden, um diese Fortschritte zu markieren, um das zu feiern, was wir auf dem Weg zur Ziellinie erreicht haben.

Wenn Sie versuchen, den Mount Everest zu besteigen, weil diese körperliche und mentale Herausforderung für Sie einen hohen Wert hat, haben Sie objektiv keinen Verlust erzielt, wenn Sie es bis zum Lager 1, 2, 3 oder 4 oder bis auf 90 Meter vor dem Gipfel schaffen, ganz gewiss nicht im Vergleich dazu, es gar nicht erst versucht zu haben.

Das entspricht natürlich nicht unserer subjektiven Erfahrung. Und das ist es, was wir ändern müssen.

Wir müssen eine Möglichkeit finden, von diesem Schema abzuweichen und uns nicht nur daran zu messen, wie weit wir von der Ziellinie entfernt sind. Wir müssen anfangen, stärker zu würdigen, wie weit wir es vom Startpunkt aus geschafft haben.

Wenn wir das tun, ist eine Silbermedaille weniger enttäuschend, denn tatsächlich ist das eine gewaltige Leistung gemessen an dem, wo alle Eiskunstläufer mal angefangen haben. Das würde Sie erkennen lassen, welche Errungenschaft es ist, als Privatschüler von Itzhak Perlman angenommen zu werden oder, wie in meinem Fall, fünf Jahre auf Graduiertenniveau gearbeitet zu haben.

Es ist leichter, Ihre Fortschritte im Hinblick auf ein Ziel zu markieren und zu feiern, wenn das Ziel selbst nicht so sehr alles oder nichts ist. Manche Ziele haben nur einen geringen Wertertrag, wenn man sie nicht erreicht. Andere dagegen beinhalten viel Wertvolles, das man schon auf dem Weg dorthin schaffen oder lernen kann, egal ob man am Ende wirklich die Ziellinie überschreitet.

Das sind die Ziele, denen wir Priorität einräumen sollten.

Astro Teller hat das wirklich verstanden. Wenn er die Wahl hat zwischen einem Projekt, bei dem nur wenig Technologie oder Lernergebnisse aus dem Versuch hervorgehen, und einem, bei dem das Gegenteil der Fall ist, bevorzugt er das Projekt, dessen Umsetzung mehr Ergebnisse mit sich bringt.

Der Hyperloop ist ein Beispiel für ein Alles-oder-nichts-Ziel. Der Gleisbau war eine alte Technologie. Auch die Beschleunigung des Zugs und sein Betrieb bei hoher Geschwindigkeit waren etwas, das bereits umgesetzt worden war. Das zu schaffen, erforderte nichts Neues. Der Affe, ob man die Passagiere sicher ein- und aussteigen lassen konnte, war die technologische Herausforderung. Das Problem war, dass all diese Podeste gebaut werden mussten, ehe sie herausbekommen konnten, ob der Affe zu bewältigen war. Und wenn sie es nicht schafften, hätten sie nichts Neues gewonnen.

Anders dagegen ein Projekt wie Loon, dessen Mission es war, mithilfe von riesigen Ballons auch abgelegenen Regionen einen Internetzugang zu verschaffen. Es gab viele verschiedene Vorgehensweisen, um die Ballons mit dem Boden kommunizieren zu lassen. Eins der ersten Dinge, die ausprobiert wurden, war die Erfindung einer neuen Lasertechnologie. Wie sich zeigte, war das nicht die beste Lösung, daher wandte man sich einer anderen Methode zu, aber die entwickelte Lasertechnologie wurde für X sehr wertvoll bei einem späteren Projekt. Das Loon-Team aus Laserexperten wurde ein Teil von Taara, die an einer erheblichen Ausweitung von Telekommunikationsbandbreiten arbeiten.

Im großen Maßstab denkt Teller intensiv darüber nach, wie man eine Kultur schaffen kann, welche die Siege auf dem Weg feiert, die 5Ks und 10Ks und Halbmarathons, die wir laufen, selbst wenn wir die 42 Kilometer nicht schaffen.

Das ist eine wichtige Lektion für Führungskräfte im Allgemeinen, denn unsere Führung kann die Probleme verschärfen, die durch den Alles-oder-nichts-Faktor und durch die Unbeweglichkeit von Zielen hervorgerufen werden. Häufig begehen Führungskräfte den Irrtum, ihre Mitarbeiter nur aufgrund dessen zu bewerten, ob sie ein Ziel erreicht haben oder nicht. Damit erhöhen sie das Potenzial für eskalierendes Commitment.

Wenn Vorgesetzte Erfolg nur daran bemessen, ob das Ziel erreicht oder die Deadline eingehalten wird, lernen ihre Mitarbeiter schnell, dass sie die Ziellinie um jeden Preis überschreiten müssen. Sie melden sich nicht zu Wort, wenn sie den Eindruck haben, das Ziel sei nicht mehr lohnenswert. Sie wollen nicht aufgeben, selbst wenn die Situation das eigentlich erfordern würde, weil die Führung das als Versagen bewerten würde.

Eine der schönen Eigenschaften der Außers ist, dass sie Ihnen einen anderen Weg zum Erfolg verschaffen. Gut ausgewählte K.-o.-Kriterien bedeuten, dass Sie gewinnen können, indem Sie ein Ziel erreichen oder indem Sie erfolgreich diese K.-o.-Kriterien einhalten. Zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören, ist eine wertvolle Errungenschaft. Das Befolgen eines Außers ist eine Möglichkeit, dies umzusetzen.

Die Außers, die wir den von uns gesteckten Zielen hinzufügen, lassen uns nach dem Grundsatz »Der Prozess ist wichtiger als das Ergebnis« leben. Das Ziel selbst ist ergebnisorientiert, aber die Außers fokussieren sich auf den Prozess.

Zielbezogene Kurzsichtigkeit

Wir haben bereits gesehen, wie unsere einseitige Fixiertheit auf ein Ziel uns dazu bringen kann, deutliche Hinweise darauf zu übersehen, dass wir aussteigen sollten – deutlich zumindest für jemanden, der nicht mittendrin steckt.

Doch es sind nicht nur diese Ziele, die uns Veränderungen ignorieren lassen, die uns auf unserem Weg begegnen oder die dabei mit uns selbst vorgehen. Ziele können auch eine Kurzsichtigkeit im Hinblick auf andere uns zur Verfügung stehende Wege auslösen, auf andere Chancen, denen wir stattdessen folgen könnten.

Sie sind bereits vertraut mit dem Problem der vernachlässigten Opportunitätskosten. Die Zielsetzung kann so eine Schwierigkeit verstärken. Sobald wir eine Ziellinie und den Weg dorthin festgelegt haben, werden wir kurzsichtig und schaffen es nicht mehr, andere mögliche Wege zu sehen oder andere Ziellinien, die uns bessere Dienste erweisen würden.

Wir erkennen sie nicht, und das ist nicht bloß eine Schwäche unseres peripheren Sehens.

Nur allein die Verfolgung eines Ziels kann dazu führen, dass wir nicht bemerken, was unmittelbar vor uns liegt. So ging es Stewart Butterfield, als er Slack vor der Nase hatte. Er konnte dieses Potenzial nicht würdigen, ehe er Glitch beendet und dieses Konto geschlossen hatte, was ihn zurück in den Explorationsmodus zwang. So ging es auch mir mit dem Pokern, das ich nicht als möglichen Berufsweg betrachten konnte, bis ich gezwungen war, meine Graduiertenlaufbahn zu verlassen.

Unser Leben ist besser, wenn uns ein größeres Portfolio an Qualifikationen und Möglichkeiten zur Verfügung steht. Die durch Ziele verursachte Kurzsichtigkeit schränkt die Größe dieses Portfolios ein, weil wir nicht nach Alternativen suchen oder sie nicht erkennen.

In dieser Hinsicht haben es Ameisen besser als Menschen, denn sie sind eine Kolonie, ein Zusammenschluss von zusammenarbeitenden Individuen. Das macht es Ameisen leichter, gleichzeitig zu explorieren und zu exploitieren. Einige der Ameisen folgen der Pheromonspur, während andere Ameisen neue Nahrungsquellen erforschen. Selbst wenn die Ameisen auf der Pheromonspur kurzsichtig sind, spielt das für die Kolonie keine Rolle, weil die anderen Ameisen sich immer noch umschauen.

Aber wir sind nur wir selbst. Sie sind nur eine Person. Haben Sie erst einmal eine Pheromonspur festgelegt, der Sie folgen, werden Sie kurzsichtig, was es Ihnen schwer macht, andere Chancen zu erkennen, die Ihre Ameisenfreunde ansonsten für Sie ausfindig machen würden.

Eine der bekanntesten Studien, die nachweist, dass die Fixierung auf eine Aufgabe oder ein Ziel einen im wahrsten Sinne des Wortes nicht sehen lässt, was man direkt vor sich hat, ist das Experiment des unsichtbaren Gorillas, das 1999 von den Harvard-Psychologen Daniel Simons und Christopher Chabris durchgeführt wurde. Die Teilnehmer sahen sich ein Video an, in dem eine Gruppe von Personen einen Basketball hin und her warf, und sollten die Pässe zählen.

Mitten während des Videos lief eine Frau in einem Gorillakostüm durchs Bild.

Nachdem die Aufgabe des Zählens von Ballwechseln erledigt war, wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt hätten. Wenn sie Nein sagten, wurden sie gefragt, ob sie außer den sechs Spielern noch jemanden oder etwas anderes gesehen hätten. Sagten sie erneut Nein, wurden sie gefragt: »Haben Sie einen Gorilla durchs Bild laufen sehen?«

Über die Hälfte der Probanden (56 Prozent) beantwortete alle drei Fragen mit Nein.

Der Gorilla war unübersehbar für jeden, der sich einfach das Video anschaute, ohne die Anweisung, etwas zu zählen. Als die Forscher den Teilnehmern das Video ein zweites Mal zeigten, waren sie tatsächlich schockiert, dass sie das nicht gesehen hatten.

Wenn sie den Gorilla direkt vor ihrer Nase nicht sehen konnten, was glauben Sie dann, was Ihnen alles entgeht, wenn Sie ein Ziel verfolgen?

Sie sollten wirklich auf der Hut sein vor dieser Kurzsichtigkeit, denn sie untergräbt das Erkennen der Sie umgebenden Chancen. Das ist ein weiterer Grund, warum die Entwicklung einer Explorationshaltung so wichtig ist. Sie müssen dafür sorgen, eine gute Sicht auf die Umgebung zu haben, die Anrufe von Headhuntern anzunehmen, andere Positionen auszuloten und ganz allgemein neue Dinge auszuprobieren, damit Sie Ihr Portfolio ergänzen und ausweiten können.

Auch Ausstiegscoaches können die Kurzsichtigkeit verringern, denn sie erkennen Ihre Chancen im Allgemeinen besser als Sie selbst.

Hören Sie auf, über Verschwendung nachzudenken

Wenn wir über die Hindernisse nachdenken, die ein Abbrechen so schwer für uns machen, erkennen wir, wie das Setzen von Zielen den Katamari vergrößert. Wir hassen es, mentale Konten mit Verlusten abzuschließen. Doch sobald wir uns ein Ziel setzen, bringen wir uns in die Verlustzone. Das trägt noch zu dem Durcheinander bei, das all die anderen Verzerrungen bewirken, welche die Waagschale zuungunsten des Aufhörens manipulieren.

Wir hängen an unseren Zielen, sie können leicht zu einem Teil unserer Identität werden. Sie werden der Status quo. Haben wir erst einmal angefangen, auf eine Ziellinie zuzulaufen, häufen sich die versunkenen Kosten in Form von Zeit und Mühe und Geld beim Bemühen, sie zu erreichen.

Wenn wir alles zusammenfassen müssten, das in diesem Buch besprochen wurde: Was uns das Aufhören so schwer macht, ist unsere Angst vor zwei Dingen – dass wir versagt haben und dass wir Zeit, Mühe und Geld verschwendet haben.

Wir müssen neu definieren, was »versagt« und »verschwendet« bedeuten.

Wenn wir uns sorgen, dass Aufhören ein Versagen bedeutet, wobei genau haben wir versagt? Wenn Sie etwas aufgeben, dem nachzugehen sich nicht länger lohnt, ist das kein Versagen. Es ist ein Erfolg.

Grundsätzlich stellen wir uns Versagen als ein Aussteigen vor dem Ziel vor, so wie beim Nichterreichen der Ziellinie. Aber ist es nicht eigentlich ein Versagen, wenn wir mit etwas fortfahren, das zu verfolgen sich gar nicht mehr lohnt? Wie können wir das neu definieren und das Versagen eher damit verknüpfen, dass wir es nicht schaffen, einem guten Entscheidungsprozess zu folgen?

Erfolg heißt, einem guten Entscheidungsprozess zu folgen, nicht nur eine Ziellinie zu überschreiten, besonders wenn es sich um die falsche handelt. Das bedeutet, die K.-o.-Kriterien angemessen zu berücksichtigen, auf unsere Ausstiegscoaches zu hören und zu erkennen, wie viel es zählt, dass wir auf unserem Weg Fortschritte gemacht haben.

Wir müssen auch neu definieren, was Verschwendung ist. Was bedeutet es, Ihre Zeit oder Ihr Geld oder Ihre Mühe zu verschwenden? Unser Problem ist, dass wir so etwas eher rückblickend betrachten. Wir haben das Gefühl, etwas aufzugeben bedeute, dass wir alles vergeudet haben, was wir darin investiert haben. Doch die Ressourcen sind bereits verbraucht. Sie können sie nicht zurückbekommen.

Wir müssen anfangen, die Verschwendung als bevorstehendes Problem zu betrachten, nicht als zurückliegendes. Das heißt, die wahre Verschwendung ist jede weitere Minute, jeder weitere Dollar oder jede weitere Mühe für etwas, das nicht mehr lohnenswert ist.

Wenn Sie es erst einmal so betrachten, erkennen Sie, wie viel Zeit Sie tatsächlich mit der Vorstellung vergeudet haben, ein Abbruch würde die bereits aufgewendete Zeit wertlos machen. Schauen Sie sich nur den kalifornischen Hochgeschwindigkeitszug an, in den immer weiteres Geld gepumpt wird aus Angst, dass die bereits darin investierte Zeit und die Steuergelder vergeudet sein könnten.

Wir müssen das Versagen neu definieren. Wir müssen die Verschwendung neu definieren. Aber letztlich müssen wir vor allem die Vorstellung des Aufhörens rehabilitieren.

Viele schwierige Dinge sind lohnenswert, und Durchhaltevermögen ist gut, um dranzubleiben, wenn das richtig ist. Doch viele schwierige Dinge sind auch nicht lohnenswert, und die Fähigkeit aufzuhören, wenn das richtig ist, ist ebenfalls eine Kompetenz, die zu entwickeln sich lohnt. Dieses Buch hat Ihnen hoffentlich die Mittel dafür an die Hand gegeben.

Sie gehen – wir alle gehen – letztlich den Weg mit der größten Werterwartung in unserem Leben. Zu diesem Weg wird eine Menge Abbruch gehören.

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung brechen Gewinner häufig ab. So gewinnen sie.

Zusammenfassung Kapitel 11

  • Ziele können die Erreichung lohnender Dinge ermöglichen, aber Ziele können auch die Wahrscheinlichkeit eines eskalierenden Commitments erhöhen, wenn wir eigentlich aussteigen sollten.
  • Bei Zielen gibt es nur »erreicht« oder »verfehlt«. Entweder erreichen Sie die Ziellinie oder nicht, und der Fortschritt auf dem Weg dorthin spielt kaum eine Rolle.
  • Betrachten Sie nicht nur, ob Sie das Ziel erreicht haben, sondern fragen Sie sich auch, was Sie auf dem Weg dorthin geschafft und gelernt haben.
  • Setzen Sie Zwischenziele, und geben Sie den Zielen Priorität, die Sie Fortschritte auf dem Weg dorthin erkennen lassen oder etwas Wertvolles beisteuern, selbst wenn Sie das Ziel nicht erreichen.
  • Festgelegte Ziele sind Stellvertreter für eine Werterwartungsgleichung, in der die Vorteile, die Sie zu erzielen versuchen, gegen die Kosten abgewogen werden, die Sie zu tragen bereit sind.
  • Unflexible Ziele passen nicht gut in eine flexible Welt.
  • Mit besserer Vorausplanung (etwa der Identifizierung von Affen und Podesten oder K.-o.-Kriterien) und der Hilfe eines guten Ausstiegscoachs können Sie Ziele flexibler gestalten, mindestens ein »Außer« festlegen und eine regelmäßige Überprüfung der Analyse einplanen, die Sie ursprünglich zu dieser Zielsetzung bewogen hat.
  • Beim Aufhören fürchten wir uns im Allgemeinen vor zweierlei: dass wir versagt haben und dass wir Zeit, Mühe oder Geld verschwendet haben.
  • Verschwendung ist ein bevorstehendes Problem, kein zurückliegendes.