An der Westseite der Insel gingen Kurt, Joe und Dr. Pascal mit Hastings, Dr. Pinder und seinem Team vom bahamaischen Gesundheitsministerium an Bord eines vierzig Fuß langen Schnellboots. Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, verließ die siebenköpfige Gruppe den Hafen und fuhr in Richtung Westen zu dem schwimmenden Trockendock, das zwei Meilen entfernt vor Anker lag.
Sich mit dem kleinen Boot der Hercules zu nähern, war schon eine besondere Erfahrung. Es machte eher den Eindruck, als erreichten sie eine ummauerte Stadt oder eine Festung als ein schwimmendes Schiff. Die gewaltige Größe des Trockendocks war die eine Sache, andererseits wies es keine der üblichen visuellen Anhaltspunkte auf, die man mit einem Schiff verband. Statt eines anmutig geschwungenen Bugs und eines abgerundeten Hecks oder eines konischen Profils, das vom Wasser bis zum Hauptdeck immer breiter wurde, wirkte die Hercules wie ein massiver rechteckiger Block mit ein paar kleinen Kränen auf der Spitze.
Sie erinnerte Kurt an die brutalistische Architektur von Regierungsgebäuden aus Beton. Und offensichtlich war er nicht der Einzige, der das dachte.
»Sieht aus wie ein Wolkenkratzer, der auf der Seite liegt«, sagte Dr. Pascal.
»Der Vergleich ist gar nicht so abwegig«, erklärte Hastings. »Die Hercules ist zwölfhundertundsechzig Fuß lang und fast dreihundert Fuß breit. Man könnte Ihr Empire State Building darin unterbringen. Bis auf die Antenne vielleicht.«
Wirkte die Hercules von der Seite betrachtet wie ein Monolith, sah sie von vorne und hinten vollkommen anders aus. Aus diesen Blickwinkeln nahm das Schiff die Form eines eckigen U an, mit zwei vertikalen, plattenförmigen Seiten, die manchmal Flügel genannt, von den Erbauern der Hercules jedoch als Backbord- und Steuerbordwand bezeichnet wurden. Zwischen diesen Wänden, die den Boden des U bildeten, befand sich das Pontondeck – die breite, flache Fläche, auf der Schiffe ruhten, wenn sie aus dem Wasser gehoben wurden. Die Ballasttanks in beiden Wänden und im Pontondeck ermöglichten, dass die gesamte Konstruktion unter ein schwimmendes Schiff wie die Heron abtauchen, sich unter sie schieben und dann langsam wieder aufsteigen konnte, um das Schiff aus dem Wasser zu heben.
Das Schnellboot näherte sich der Hercules von der Backbordseite, entlang der Wand, die hundert Fuß über ihnen aufragte. Sie war so hoch, dass sie die Nachmittagssonne blockierte und die darauf montierten Kräne fast winzig aussahen.
Sie setzten ihren Weg zum Bug fort und kamen dabei aus dem Schatten ins Tageslicht. Von hier aus sahen sie die Heron , die auf Blöcken stand und an ihrem Platz gehalten wurde, als wäre sie nur ein Schiffsmodell oder ein Kinderspielzeug.
»Das ist wirklich ein beeindruckendes Schiff«, sagte Joe.
Das Schnellboot fuhr an den Rand des Pontondecks, das sich mehrere Fuß über die Wasseroberfläche erhob und weitere sechsundzwanzig Fuß darunter in die Tiefe reichte.
Sie fuhren an der Kante der Plattform entlang bis zu der Stelle, an der zwei Hafenarbeiter in orangefarbenen Westen schon auf ihre Ankunft warteten.
Als das Schnellboot gegen zwei Gummipuffer stieß, sprang eines der Besatzungsmitglieder an Bord. Der Mann schlang ein Tau um die Bug- und Hecklampen, zog es straff und sicherte es. Das Schnellboot war jetzt am Trockendock vertäut.
»Seien Sie bitte vorsichtig und passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte das Besatzungsmitglied und schob einen Block heran, um ihnen den Aufstieg auf die Plattform zu erleichtern.
Das Team des Gesundheitsministeriums ging zuerst an Bord, gefolgt von Dr. Pinder. Hastings und das NUMA -Team folgten.
Als sich die gesamte Gruppe auf dem Pontondeck versammelt hatte, übernahm Hastings die Führung und erklärte seine prächtige Schöpfung, während sie langsam auf den gekaperten Frachter zugingen.
Und während er die Gruppe auf verschiedene Einzelheiten hinwies, wurde Kurts Aufmerksamkeit von der Heron gefesselt.
Das Schiff lag in der Mitte des Docks. Der Bug war ihnen zugewandt, und der Abstand zwischen seinem Rumpf und den Flügeln des Docks schien auf beiden Seiten gleich zu sein. Sein Kiel ruhte nicht auf dem Pontondeck selbst, sondern auf einer Reihe dicker Holzblöcke, die das Gewicht des Schiffes stützten und verteilten. Oben war ein Netzwerk aus Tauen von den Wänden des Docks zur Oberseite des Schiffes gespannt, um die Stabilität zu erhöhen.
Da Kurt in einer Familie aufgewachsen war, die ein Bergungsunternehmen betrieb, und dann in der Marine gedient hatte, hatte er viel Zeit in Trockendocks verbracht. Aber niemals hatte er das Gefühl der Ehrfurcht verloren, das sich bei dem Anblick einstellte, wenn ein großes Schiff aus dem Wasser gehoben wurde.
Ein großes Schiff vom Pier oder von einem anderen Boot aus zu betrachten, war schon beeindruckend. Aber unter einem zu stehen und von unten daran hochzublicken, das hatte noch einmal eine ganz andere Dimension. In dieser Perspektive kamen weitere zwanzig bis dreißig Fuß rot gestrichenen Rumpfs hinzu, der normalerweise unter der Wasserlinie verborgen lag. Außerdem enthüllte sie die überdimensionale Maschinerie, die die großen Schiffe lenkte, antrieb und stabilisierte, aber nie von der Oberfläche aus zu sehen war. Neben einem Ruder, das höher war als ein dreistöckiges Haus, oder einem Propeller mit fünfzehn Fuß langen Schaufeln und einem Gewicht von dreißig Tonnen fühlte sich der Mensch klein und unbedeutend. Als wäre das Schiff ein Lebewesen, ein Gigant der Meere, und die Menschen, die sich auf ihm bewegten, nur geduldete Trittbrettfahrer. Sie wurden ganz genauso ignoriert wie die winzigen Vögel auf dem Rücken eines ausgewachsenen Elefanten.
Sogar die Heron , ein Binnenfrachter, beeindruckte, wie sie da hoch und trocken auf den Holzblöcken saß.
Als sie näherkamen, zeigte sich der Schaden an der Vorderseite des Schiffes deutlicher. Der bauchige Bug, der aus dem Wasser ragte und die Wellen brach, war ein Trümmerfeld aus verbogenem und zerfetztem Stahl. Weiter oben und hinten waren die Rumpfplatten verbeult und nach innen gequetscht. Einige schienen sogar stark beschädigt zu sein. Trotz der Zeit, die das Schiff bereits im Trockenen auf den Blöcken verbracht hatte, sickerte weiterhin Seewasser aus den Rissen und Pfropfen, die die Besatzung des Trockendocks von der Unterseite des Schiffes entfernt hatte.
»Das war eine High-Speed-Kollision.« Kurt stützte seine Vermutung auf die zerquetschte Nase und die lange Reihe von Falten, Abschürfungen und anderen Deformationen, die sich an der Steuerbordseite noch fortsetzten.
»Sie hat etwas Kleineres getroffen«, fügte Joe hinzu und wies darauf hin, dass sich der Schaden auf die halbe Höhe des abgewinkelten Bugs begrenzte. »Sie ist wohl einfach darüber weg gepflügt.«
Dr. Pascal nickte, von dieser Schlussfolgerung offenbar beeindruckt.
Dr. Pinder dagegen konnte man nicht so leicht imponieren. »Wir sind mehr an dem interessiert, was sich im Inneren des Schiffes befindet.«
Sie gingen weiter an dessen Flanke entlang und schoben sich zwischen der grauen Wand des Docks zu ihrer Rechten und dem mit Seepocken verkrusteten Rumpf des Frachters zu ihrer Linken. Schließlich erreichten sie einen Bereich etwa mittschiffs und kamen zu einem Schafott, das in der Lücke zwischen dem Frachter und der Backbordwand der Hercules errichtet worden war.
In diesem Gerüst befand sich ein Aufzug mit einem Käfig wie in einem Bergwerk oder in einem alten Gebäude. Er führte nach oben zu einer Metallbrücke, die die Lücke zwischen dem Hauptdeck der Heron und einer offenen Luke an der Seitenwand des Trockendocks überspannte, hinter der der Kontrollraum des Docks lag.
Hastings versicherte allen, dass sowohl der Aufzug als auch das provisorische Gerüst, das ihn beherbergte, sicher seien. Er winkte die Gruppe herein, trat hinter sie, schob das Tor zu und griff nach einem Hebel, der den Aufzugskäfig aktivierte.
Der Käfig stieg mit einem unregelmäßigen Ruck an, glitt dann aber sanft bis zum oberen Ende. Auf Höhe der Brücke kam er zum Stehen, und Hastings schob das Tor zurück.
»Ich bin im Kontrollraum mit dem Kommandeur des Trockendocks«, sagte Hastings zu ihnen. »Wir behalten Sie von dort aus im Auge.«
Sie trennten sich, Hastings ging nach rechts über die Brücke und betrat durch eine offene Luke den Kontrollraum, Pinder und sein Team wandten sich nach links über die Metallbrücke auf die Heron zu.
Dr. Pascal hielt an der Schwelle inne, verunsichert durch den schmalen Metallsteg und den siebzig Fuß tiefen Abgrund auf beiden Seiten.
»Schauen Sie nur nicht nach unten«, riet Joe.
»Dafür ist es zu spät.«
Sie umklammerte das Geländer und zwang sich, mit vorsichtigen Schritten weiterzugehen, bis sie einen Fuß auf das Hauptdeck der Heron setzen konnte.
Kurt bildete das Schlusslicht, bis sie ein weißes Zelt erreichten, das außerhalb des Unterkunftsblocks errichtet worden war. Hier erhielten sie Schutzanzüge mit Atemschutzmasken und eine Notfall-Luftversorgung, sollten sie eine vollständige Isolierung von der Luft an Bord benötigen. Es wurden auch Funkgeräte verteilt, doch es gab nicht genug für alle, sodass Kurt und einer der Techniker verzichteten.
Nachdem die Ausrüstung überprüft worden war, funkte Pinder Hastings an. »Wir sind gerüstet und bereit. Melden Sie uns an.«
Hastings stand im Kontrollraum und blickte durch ein Fenster, das sich nach unten neigte, um einen besseren Blick auf das Geschehen auf dem Pontondeck zu ermöglichen. Zu seiner Linken saß der Dockmanager vor einer Konsole mit einer eingebauten Computertastatur und anderen Bedienelementen. Zwei Flachbildschirme zeigten den Status der Systeme des Trockendocks an, einschließlich der Ballasttanks. Eine Reihe von Symbolen meldete, dass alle Ventile und Entlüftungsöffnungen geschlossen, die Pumpen in Bereitschaft und die Tanks zu neunzig Prozent leer waren, sodass das Dock und seine Ladung hoch im Wasser schwammen.
»Wir liegen etwas weit oben«, bemerkte Hastings.
»Solange das Wasser aus der Heron abläuft, verlieren wir an Gewicht«, sagte ihm der Dockmanager. »Bis jetzt sind es viertausend Tonnen. Wir werden den Gewichtsverlust ausgleichen, sobald die Untersuchung abgeschlossen ist. Solange Menschen auf der Plattform sind, möchte ich das aber nur ungern tun.«
Hastings nickte und griff nach einem auf dem Tisch montierten Schwanenhalsmikro. Er bog es an seinen Mund und sprach zu Dr. Pinder. »Sie haben die Erlaubnis, an Bord zu gehen. Ihre Funkgeräte sind auf einen offenen Kanal eingestellt.«
Zurück auf dem Deck der Heron betrat das Untersuchungsteam das Schiff am Fuße des Unterkunftsblocks. Schon bald erreichten sie das Haupttreppenhaus.
Dort blieb Pinder stehen und wandte sich an Kurt und Joe. »Wie ich höre, haben Sie den Unterkunftsblock erkundet.«
»Das ist korrekt«, sagte Kurt. »Von der Brücke bis zu einer Ebene über unserem derzeitigen Standort.«
Pinder wandte sich an seine Teammitglieder. »Verfolgen Sie ihren Weg zurück. Ich brauche Proben von den Lebensmitteln in der Kombüse, dem Wasser und den anderen Nahrungsmitteln. Machen Sie Abstriche von den Stoffen in den Offiziersquartieren und nehmen Sie auch regelmäßig Luftproben.«
Nachdem die Befehle bestätigt worden waren, zog die Hälfte des Teams ab und ließ Kurt und Joe mit den beiden Ärzten zurück. »Da Sie schon einmal hier sind«, fuhr Pinder fort, »könnten Sie uns vielleicht zu den Bereichen des Schiffes führen, die Sie bisher noch nicht untersucht haben.«
»Und Ihnen dann aus dem Weg gehen«, scherzte Joe.
Dr. Pinder lächelte. »Das wäre ausgezeichnet.«
Er schien das zu genießen. Kurt nahm es ihm nicht übel. Dem Mann war ein Trio von aufdringlichen Außenseitern aufgebürdet worden, da konnte er es ihnen auch ruhig schwer machen.
»Hier entlang«, sagte Kurt.
Er führte sie in den nächsten Raum und dann durch den Aufenthaltsraum der Besatzung. Es folgten ein Umkleideraum und schließlich eines der Schiffsbüros. An jeder Station entnahmen Dr. Pinder und Dr. Pascal Proben und legten sie in eigens gekennzeichnete Behälter.
Sie erreichten den Maschinenraum ein Deck tiefer. Hier fanden sie eine weitere Leiche. Der Mann war zwischen einer Reihe von Rohren und einem Metallschott eingeklemmt. Er hielt einen Schraubenzieher in der Hand.
»Ist er bei der Arbeit eingeklemmt worden?«, fragte Dr. Pascal.
Es war unmöglich, das mit Sicherheit zu sagen, aber der Schraubenzieher wurde eher wie ein Dolch und weniger wie ein Werkzeug gehalten.
»Das glaube ich nicht«, sagte Joe. »Es mag sein, dass ich mich auf das Verhalten des Kochs stütze, aber es sieht doch ganz so aus, als hätte er sich versteckt oder sich darauf vorbereitet, etwas abzuwehren.«
Dr. Pinder griff nach unten und befreite die Leiche aus ihrer Klemme. Sobald der Tote auf dem Deck lag, begannen die Tests von Neuem. Blut- und Hautproben wurden entnommen, seine Kleidung wurde nach bekannten Chemikalien abgesucht. Ähnlich wie bei dem Koch waren die einzigen äußeren Anzeichen für eine Verletzung die roten Augen und das getrocknete Blut in seiner Nase.
»Wir sollten einen Abstrich von seinen Nasengängen machen«, schlug Dr. Pascal vor.
Dr. Pinder stimmte zu, und sie nahmen weitere Proben.
Kurt war es leid, dabei zuzusehen, wie der Mann behandelt wurde, und tat, was ihm befohlen worden war: Er ging aus dem Weg und sah sich den Rest der Technik an.
Sie befanden sich jetzt ein Level unter dem Hauptdeck, direkt über dem eigentlichen Maschinenraum. Es war die Art von Raum, in dem es normalerweise schwül war, wenn die Motoren liefen. Auch jetzt war es noch ziemlich stickig. Besonders in den Schutzanzügen.
Bei dem Gedanken an die Anstrengungen, die unternommen werden würden, um den Raum zu kühlen, erinnerte sich Kurt an den seltsamen Geruch, der aus dem Lüftungssystem gekommen war, und fand schnell die offenen Lüftungsschlitze in dem Raum.
»Jemand sollte unbedingt die Luftzufuhr- und die Umwelteinheiten überprüfen«, sagte er. »Hätte man vor, Menschen auf einem Schiff zu vergasen, wäre das wohl der richtige Weg.«
Joe ging zu einer Schalttafel mit den Kontrollen für die Kabinenklimatisierung. »Nach dem, was ich sehe, sind die Außenlüfter offen. Sie haben Luft von außen angesaugt. Das lässt es eher unwahrscheinlich wirken, dass sie vergast wurden.«
Es war logisch, dass die Lüftungsschlitze offen waren. Als der Notruf eingegangen war, war die Nacht karibisch kühl gewesen. Kurt strich mit seinen behandschuhten Fingern über eine Lüftungsöffnung.
Eine dünne Schicht grauen Staubs blieb auf dem weißen Kunststoff der Handschuhe zurück, der Kurt an Kreosot erinnerte. Als er ihn zwischen seinen Fingern verrieb, verschmierte er die Substanz.
»Bitte fassen Sie nichts an«, bat Dr. Pascal, trat zu ihm und wischte Kurts Finger mit einem Testtuch ab. »Alles, was hier drin ist, könnte giftig sein.«
»Deshalb tragen wir ja auch diese Anzüge«, erwiderte Kurt.
»Die können leicht perforiert werden.«
Kurt hob seine Hände, als wolle er sich ergeben, erlaubte Dr. Pascal, sie noch einmal abzuwischen, und trat dann zur Seite, als sie mit Pinder die forensische Untersuchung fortsetzte.
Derartig gerüffelt, hielt Kurt so lange still, bis ihn Joe mit einem Pfiff auf sich aufmerksam machte. »Sieh dir das mal an.«
Joe stand vor einem Whiteboard. Darauf war eine Reihe von Zahlen und Berechnungen gekritzelt, teilweise weggewischt und dann wieder neu geschrieben. Das dazugehörige Diagramm bildete so etwas wie einen Dreieckswinkel. Ein schlecht gezeichnetes Objekt an dem einen Ende ähnelte einem Boot.
»Was sehen wir uns da überhaupt an?«, erkundigte sich Kurt.
»Das sind Berechnungen der Zugkraft«, sagte Joe. »Man stellt sie an, um die Belastung eines Schleppkabels zu bestimmen.«
»Bist du sicher?«
»Todsicher.« Er deutete auf eine andere Reihe von Zahlen. »Siehst du dies da? Das ist eine Berechnung der Propellergeschwindigkeit. Wenn du ein Schiff schleppst, erzeugt dein Kielwasser einen Widerstand gegen das Schiff hinter dir. Wenn du die Geschwindigkeit erhöhst, wird der Widerstand noch größer und die Belastung des Schleppkabels steigt exponentiell an. Das ist auch der Grund, warum Lastkähne häufiger geschoben als gezogen werden.«
»Was sagt dir das alles?«, fragte Kurt.
»Die Heron hat etwas geschleppt«, antwortete Joe. »Und irgendjemand, möglicherweise der arme Kerl dort drüben, hat versucht herauszufinden, wie viel an Geschwindigkeit er zulegen kann, ohne dass das Kabel reißt.«
Das war eine kluge Schlussfolgerung, dachte Kurt. Es gab allerdings ein Problem. »Die Heron hatte nichts im Schlepptau, als wir sie erreicht haben. Und wir haben keine Ahnung, wann diese Berechnungen aufgeschrieben wurden.«
»Ich glaube schon«, sagte Joe. Er deutete auf den roten Marker, der auf dem Whiteboard benutzt worden war, und dann auf den toten Ingenieur. An den Fingerspitzen und der Innenfläche der Hand waren rote Flecken zu sehen.
»Sieht so aus, als hätte er den Marker ziemlich nah am Ende gehalten und die ersten Zahlen mit der Handfläche wieder ausradiert, anstatt sich die Mühe zu machen, ein Tuch zu holen.«
»Sherlock Holmes ist nichts gegen dich«, sagte Kurt stolz.
»Dieses Schiff hat zwei große Winden in der Nähe des Hecks«, sagte Joe. »Ich schlage vor, wir überprüfen sie. Falls die Last zu groß war, finden wir Spuren für eine Überlastung des Kabels oder der Leine.«
Kurt nickte und lenkte die Aufmerksamkeit der Ärzte auf sich. Er sprach in leisem, entschuldigendem Ton. »Wie sich herausgestellt hat«, sagte er ihnen, »haben Joe und ich das Gefühl, dass wir hier unten nur im Weg sind. Also … wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehen wir wieder an Deck und warten dort auf Sie.«
Dr. Pinder sah aus, als hätte er einen Hauptgewinn gezogen.
Dr. Pascal mitnichten. Sie starrte Kurt misstrauisch an. Als Kurt hinter dem durchsichtigen Visier seines Anzugs schwieg, richtete sie ihren Zorn auf Joe. »Woher der plötzliche Sinneswandel?«
»Es ist furchtbar heiß in diesen Dingern«, sagte Joe beiläufig. »Und Kurt bekommt Klaustrophobie. Wenn wir noch länger hier unten bleiben, werden Sie einen erwachsenen Mann weinen sehen.«
Diese Antworten ließen sie nur noch misstrauischer werden, aber sie spielte mit. »Genau das hat mir Sorgen gemacht«, sagte sie, bevor sie in spöttischem Tonfall hinzufügte: »Seien Sie tapfer, Kurt. Wir sehen uns oben, wenn wir hier fertig sind.«
Die beiden Gruppen gingen in entgegengesetzte Richtungen davon. Die Ärzte stiegen ein Deck tiefer zum Maschinenraum, während Kurt und Joe die Haupttreppe zum Deck erklommen.
»Sie hat uns auf dem Kieker«, stellte Joe fest.
»Sie müsste schlagartig hundert IQ -Punkte verloren haben, wenn sie nicht misstrauisch wäre«, erwiderte Kurt. »Ich und klaustrophobisch?«
»Was anderes ist mir grad nicht eingefallen«, gab Joe zurück. »Vor allem, weil ich mich selbst in diesen Anzügen so fühle.«
»Ist schon okay«, antwortete Kurt. »Sie hat ihre Gedanken für sich behalten, was entweder bedeutet, dass sie dich mag oder dass sie es erst später gegen uns verwenden wird.«
Joe hoffte, dass Ersteres der Fall war, befürchtete aber, dass wahrscheinlich Letzteres zutraf.
Als sie das Hauptdeck erreichten, stiegen sie durch die Luke hinaus und dann aus dem Zelt. »Entledigen wir uns dieser Anzüge und gehen zum Heck.«