Rudi Gunn stand im Foyer des Mandarin Oriental Hotel und beobachtete durch die Türen, wie ein sintflutartiger Regenguss die Stadt Washington tränkte.
Die Versammlung in dem Fünf-Sterne-Hotel war ein politisches Treffen, an dem eine Handvoll US -Senatoren, ein Dutzend Mitglieder der Exekutive und eine Schar ausländischer Würdenträger teilnahmen, die alle über den Schutz der Meere diskutierten.
Rudi hatte die Nacht damit verbracht, Hände zu schütteln und Smalltalk zu machen, während er sein Smartphone ständig nach aktuellen Informationen über die Lage auf den Bahamas checkte und gelegentlich einen Blick auf die Fernsehberichte warf, in denen das halb versunkene und auf einer Sandbank festsitzende Trockendock gezeigt wurde.
Er wusste, dass Kurt, Joe und Elena mittlerweile in Sicherheit waren und dass die bahamaische Regierung für ihre Hilfe bei der Rettung des Trockendocks und der Besatzung dankbar war. Aber so etwas konnte sich schnell ändern. Irgendjemandem musste man die Verantwortung für eine solche Katastrophe anhängen.
Erst als er eine Pressekonferenz des Oberbefehlshabers der bahamaischen Streitkräfte sah, in der verlautbart wurde, dass Terroristen für den Anschlag verantwortlich wären, begann sich Rudi zu entspannen. Die NUMA wurde mit keinem Wort erwähnt. Nicht mal mit einer Andeutung. Darauf erhob Rudi sein Glas zu einem Toast.
Da sich die Versammlung inzwischen dem Ende zuneigte und die Lage auf den Bahamas stabil schien, beschloss Rudi, den Abend zu beenden. Er holte seinen Mantel aus der Garderobe und zog ihn an, dann ging er zur Tür. Es regnete weiter in Strömen, die Straßen waren überschwemmt, die Regenrinnen liefen über, und das Wasser ergoss sich in Gestalt wilder Bäche in die Gullys.
Als Rudi überlegte, wie lange er diesen Wolkenbruch noch aussitzen wollte, tauchte eine Gestalt neben ihm auf. »Wenn das so weiterregnet, wird einer von uns ein Boot rufen müssen.«
Rudi drehte sich um und sah Konteradmiral Marcus Wagner, der vor Kurzem zum Chef der Naval Intelligence ernannt worden war. »Solange wir nicht die Ruder bemannen oder die Segel setzen müssen.«
Die beiden Männer reichten sich die Hand.
»Was führt dich hierher?«, fragte Rudi.
»Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um mir die Versammlung anzusehen.«
Rudi hob eine Augenbraue. »Das hier hört sich aber gar nicht nach einer Party an, wie die Navy sie schätzt.«
Wagner warf ihm einen gespielt verletzten Blick zu. »Wir kümmern uns um die Meere«, betonte er mit großer Empörung. »Ohne die Meere sind wir nur … die Army.«
Rudi lachte. Es ging doch nichts über eine gute alte Rivalität zwischen den Diensten.
»In welche Richtung fährst du?«, wollte Wagner wissen.
»Zurück ins Büro«, sagte Rudi und zog seinen Kragen fest zu. »Ich habe noch etwas zu tun, jetzt, wo das Händeschütteln vorbei ist.«
»Ich werde gleich von meinem Fahrer abgeholt«, sagte Wagner. »Begleite mich doch.« Der Tonfall in seiner Stimme verriet, dass er eine Gelegenheit suchte, um mit Rudi allein und inoffiziell zu sprechen. Das war typisch für solche Versammlungen in Washington. Und es gehörte zu den Gründen, aus denen Rudi sie nicht gern besuchte.
Seufzend trat er vor, griff nach seinem Regenschirm und stieß die innere Schwingtür auf. »Du kannst machen, was du willst«, sagte Rudi. »Ich gehe zu Fuß.«
Wagner warf ihm einen unglücklichen Blick zu und sah dann in den Regen hinaus. Mit einem frustrierten Seufzer knöpfte er seinen Mantel bis oben hin zu und zog den Hut fest in die Stirn. Vom Portier ließ er sich einen Schirm geben und folgte Rudi hinaus in den Regen.
Das Mandarin Oriental lag am Ende der Maryland Avenue. Rudi bog nach rechts ab und ging die Allee hinunter, während eine kleine Flut über die Straße neben ihm spülte.
Die beiden Männer gingen mit mehreren Fuß Abstand zwischen sich nebeneinanderher, was durch die ausladenden Regenschirme bedingt war.
»Warum macht ihr NUMA -Leute die Dinge immer auf die harte Tour?«, fragte Wagner. »Wir könnten doch einen Drink an der Bar nehmen oder gemütlich und trocken durch die Gegend fahren.«
»Bequemlichkeit wird überbewertet«, sagte Rudi. »Das macht die Leute weich. Viel wichtiger ist, dass ich herausfinden wollte, wie dringend du reden möchtest. Ziemlich dringend, wie es scheint.«
»Und wir müssen beide nass werden, nur um deine Neugierde zu befriedigen?«
»Komm schon, Marcus«, sagte Rudi tadelnd. »Wenn du dieses Wetter nicht aushältst, solltest du lieber zur Air Force gehen.«
Trotz seiner Gereiztheit musste der Konteradmiral lachen. Ihm war klar, dass Rudi einen Ort gefunden hatte, an dem sie höchstwahrscheinlich nicht belauscht wurden. Der Regenschauer hätte genauso gut der Kegel des Schweigens sein können. Also kam er gleich zur Sache. »Ich habe gehört, dass einige deiner Leute in den Vorfall mit dem Trockendock auf den Bahamas verwickelt waren.«
»Das ist nur ein böswilliges Gerücht«, antwortete Rudi, »aber was ist, wenn sie es wären?«
»Es ist nicht das Trockendock, an dem wir interessiert sind«, sagte Wagner. »Sondern der Frachter.«
An der Ecke zur Twelfth Street bog Rudi nach Norden ab. Das Smithsonian und die National Mall waren nur ein paar Blocks entfernt. Ebenso die nächste Metrostation.
»Was ist damit?«
»Wir sind sehr daran interessiert zu wissen, was mit ihm passiert ist.«
»Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist«, antwortete Rudi. »Der größte Teil der Besatzung war verschwunden. Diejenigen, die sich noch an Bord befunden haben, waren nicht ansprechbar.«
»Du meinst, sie waren verrückt«, sagte Wagner. »Sie redeten von UFO s und so was.«
Rudi hielt inne. Eine schwarze Limousine fuhr zügig über die überflutete Straße und spritzte einen Wasserschwall auf den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite. »Hast du meine E-Mails gelesen?«
»Nein«, behauptete Wagner.
»Woher weißt du das dann?«
»Weil das nicht das erste Schiff ist, das auf dem Meer treibt und dessen Besatzung dem Wahnsinn verfallen ist.«
Das war Rudi neu. »Du machst jetzt aber keine Scherze, oder?«
»Wir glauben, dass es das Ergebnis einer PSYOPS -Waffe sein könnte.«
»PSYOPS ?«, wiederholte Rudi.
»Psychologische Operationen«, erklärte Wagner. »Die neueste Front in der Kriegsführung. Und höchstwahrscheinlich bald auch die größte.«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Rudi.
»Den Feind zu töten, ist die eine Sache«, begann Wagner. »Wenn man es tun muss, dann tut man es. Aber wenn es sich nicht um ein besonders bösartiges Individuum handelt, oder wir gegen Nazis, Orks oder Zombies kämpfen, gibt es eine Menge unerwünschter Rückwirkungen. Wir bemühen uns bereits sehr, den Kollateralschaden zu begrenzen, und wir bemühen uns auch, wenn möglich, eher die Anführer unserer Angreifer zu verfolgen als das Fußvolk. Aber es wird immer noch eine Menge Blut vergossen, was nicht passieren müsste, wenn man den Feind dazu bringen könnte, sich zu ergeben, ohne einen Schuss abzugeben. Genau darum geht es bei PSYOPS . Den Feind dazu zu bringen, seine Waffen niederzulegen und wegzulaufen. Selbst wenn er im Vorteil ist, und auch wenn er in der Überzahl ist. Möglicherweise wird man ihn sogar dazu bringen, sich gegen seine Kameraden zu wenden und deine Arbeit für dich zu erledigen. Alles durch psychologische Manipulation.«
»Erzähl mir mehr davon«, forderte Rudi ihn auf.
Wagner schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
»Warum erwartest du dann, dass ich dir sage, was ich weiß?«
»Weil du nicht auf sensiblen Informationen hockst. Ich spreche hier von Dingen, die mehr als streng geheim sind. Im Augenblick ist der Frachter für dich nur ein Bergungsjob.«
Rudi legte nicht viel Wert auf Stolz – der neigte nur dazu, Ergebnissen im Weg zu stehen –, aber ihm lag viel am Schutz seiner Teams. »Drei meiner Leute haben inzwischen mehrfach ihr Leben für diesen verirrten Frachter riskiert. Ich würde das kaum als Bergungsjob bezeichnen.«
»Du gibst also zu, dass da noch mehr ist«, sagte Wagner und runzelte die Stirn. Rudi ging weiter.
Wagner machte lange Schritte, um aufzuholen. »Komm schon, Rudi. Sei nicht so. Du hast mich ertappt und ich dich. Jetzt lass uns mit den Spielchen aufhören und ehrlich reden. Die Navy hat dir letztes Jahr mit Informationen aus unserer Abhörstation in Naha geholfen. Ich möchte nicht mehr als dasselbe Entgegenkommen von dir.«
Sie überquerten die Independence Avenue und blieben am Jefferson Drive stehen. Das Smithsonian Institution Building, das sogenannte Castle, lag zu ihrer Rechten, das Museum für Naturgeschichte auf der anderen Seite der Mall. Sehr viel weiter zu ihrer Linken hob sich das Washington Monument vor der dunklen Nacht ab. Seine roten Warnleuchten warfen ein ominöses Glühen auf die Unterseiten der Wolken.
Bei Rudi leuchteten ähnliche Warnlampen auf. »Wir wissen nicht, was auf diesem Schiff vorgefallen ist«, sagte er. »Niemand weiß es. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass zwei meiner Männer an Bord gewesen sind, erwarte ich von dir, dass du alle Informationen, über die du verfügst, weitergibst, vor allem, wenn sie für ihre Gesundheit relevant sein könnten.«
Wagner wirkte jetzt besorgt. »Geht es deinen Männern gut?«
»Sag du es mir.«
»Ich wünschte, ich könnte es.«
»Hast du Leute, die diesen Vorfällen nachforschen?«, fragte Rudi.
»Ja und nein«, antwortete Wagner. »Es träfe die Wahrheit genauer, wenn ich sagen würde, wir hatten solche Leute.«
Sie haben also jemanden verloren, dachte Rudi. Jetzt verstand er Wagners persönliches Interesse besser. Sie hatten alle schon Leute im Feld verloren, irgendwann einmal. Man kam damit klar, aber man überwand es nie. Nicht, wenn auch nur eine kleine Chance bestand, dass man etwas hätte anders machen können, um das Resultat zu ändern.
Rudi starrte seinen alten Freund an und traf eine Entscheidung, die er eines Tages möglicherweise bereuen würde. »Ich werde dir mitteilen, was wir erfahren«, sagte er ihm. »Ich gehe davon aus, dass du es auf privatem Wege erfahren möchtest. Und ich werde nicht fragen, warum.«
Wagner nickte.
»Im Gegenzug«, fügte Rudi hinzu, »verlasse ich mich allerdings darauf, dass du mich warnst, wenn meine Leute in Gefahr sind, selbst wenn der Grund dafür top secret ist.«
Wagner zögerte nicht. »Wenn ich etwas erfahre, das sie betrifft, weißt du es im selben Augenblick wie ich.«
Es regnete weiter. Der Regen lieferte einen düsteren Hintergrund und einen Deckmantel für ein Geschäft, das im Dunkeln abgeschlossen wurde.
Jetzt gab es nichts mehr zu sagen. Rudi wandte sich ab, überquerte den Jefferson Drive und ging auf die beleuchteten Rolltreppen zu, die ihn hinunter zu der Metrostation unter dem Einkaufszentrum brachten.
Wagner blickte sich um, als begriffe er gerade erst, wo sie waren.
»Ich dachte, du wolltest zu Fuß gehen?«
»Nur zur Metro«, antwortete Rudi. »Das NUMA -Gebäude ist acht Meilen von hier entfernt. Mach dir keine Sorgen, deine Limousine mit dem Navy-Kennzeichen wird bald auftauchen. Sie ist erst dreimal an uns vorbeigefahren.«