Westkuba
Martin Colon saß auf dem Rücksitz eines ziemlich robusten Geländewagens, den sein Fahrer über eine Straße lenkte, die zuletzt vor mehreren Jahrzehnten gepflastert worden war. Der größte Teil des Betons war hier entweder durch den Regen abgetragen worden oder von dem immer weiter vordringenden Schmutz bedeckt. Hier und da ragten jedoch hartnäckige Betonbrocken wie Fossilien oder Eisberge oder Landminen hervor. Sie erinnerten den Oberst an sich selbst. Es waren die letzten Bastionen von dem, was einmal gewesen war – und das sich nicht wegspülen lassen wollte.
Der ehemalige Colonel war zum ersten Mal seit fast einem Jahr wieder in Kuba. Ein Gefühl der Nostalgie durchströmte ihn, als sie an verfallenen Häusern vorbeifuhren und an Bauern, die ihre Felder mithilfe von Ochsen pflügten.
Die Art und Weise, wie die Kubaner das Land bearbeiteten, hatte etwas Reines an sich, eine Würde, die sie sich bewahrten, indem sie es auf ihre hergebrachte Weise durchführten – ohne den Westen zu benötigen. Und hier herrschten Ruhe und Frieden, wie er es weder in Rio noch in Miami und nicht einmal auf der belebten Insel Providencia fand. Für einen kurzen Augenblick fragte sich Colon, ob er einen Fehler machte, wenn er versuchte, die Dinge zu ändern.
Dann kamen sie an einer Gruppe obdachloser Mütter vorbei, die in Lumpen gehüllt neben einem verfallenen Gemeindehaus auf Almosen warteten. Die Armut wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Vielerorts waren die Menschen unterernährt. Der Alkoholismus nahm zu, der fünfzigjährige Männer wie Neunzigjährige aussehen ließ. Und die Kinder wurden hohläugig.
Im vergangenen Jahr hatte es zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder auf der ganzen Insel echte Proteste in Städten und Gemeinden gegeben. Eine Welle der Verzweiflung baute sich auf, die weder von der Geheimpolizei noch von den Slogans der Vergangenheit in Schach gehalten werden konnte. Jedenfalls nicht mehr lange.
Auf der anderen Seite des Gemeindehauses befand sich ein ebenso verfallenes Gebäude. Ein verblasstes rotes Kreuz deutete darauf hin, dass es einmal ein Krankenhaus gewesen war. Den Oberst erinnerte es an den Ort, an dem seine Frau gestorben war, weil es ihr an einem einfachen Medikament gemangelt hatte, das in den USA zwar leicht erhältlich, in Kuba aber wegen des Embargos und der Armut nicht zu bekommen war.
Ihr Verlust war es, der ihn verbittert hatte. Aber ihr Tod war nicht das erste Mal gewesen, dass seine Familie unter den Amerikanern gelitten hatte. Colons Großonkel war damals mit Castro aus den Bergen nach Havanna marschiert, um dann im Kugelhagel der Exilkubaner in der Schweinebucht zu sterben. Und Colons Vater war als Söldner in Grenada gewesen, als das Schrapnell einer amerikanischen Mörsergranate seine Wirbelsäule zerschmettert hatte. In den nächsten anderthalb Jahren war er qualvoll und langsam gestorben. Und Colon hatte zugesehen, wie er hatte verrecken müssen.
Als das verlassene Krankenhaus hinter ihnen zurückblieb, erinnerte sich Colon an einen Untergebenen im Direktorat. Der Mann hatte ihm die rhetorische Frage gestellt, ob es sich überhaupt lohne, eine Operation durchzuführen, wenn sie das Risiko berge, einen Krieg mit den Vereinigten Staaten auszulösen. Colon hatte die Frage zurückgewiesen. Was ihn betraf, befand sich seine Familie seit sechzig Jahren im Krieg mit den USA .
»Warum hast du mich hierhergebracht?«, fragte jemand neben ihm. »Dieser Ort deprimiert mich.«
Colon drehte sich zu Lobo um, der von seinem Kampf auf den Bahamas noch immer angeschlagen und zerschrammt war, aber wölfischer denn je aussah. Ein bisschen Fett war weggebrannt worden. Ein paar Zähne waren zum Vorschein gekommen. Das war gut. Ein Wolf sollte Zähne haben.
»Ist das hier schlimmer als Havanna?«, fragte Colon.
»Schlimmer jedenfalls als in meinem Teil von Havanna«, erwiderte Lobo nachdrücklich. »Wohin fahren wir eigentlich?«
Colon sagte nur: »Nach Hause.«
Der Geländewagen fuhr weiter, bis er ein Bauernhaus auf einem weitläufigen, hügeligen Gelände erreichte. Dahinter standen zwei lange Scheunen, in denen früher Tabak zum Trocknen aufgehängt worden war. Im Schutz der ersten Scheune waren ein Dutzend Fahrzeuge geparkt, eine Mischung aus Autos, Allradfahrzeugen und SUV s.
Colon wies den Fahrer an, in den Schatten zu fahren. Er stieg aus dem Geländewagen und ging zur anderen Scheune hinüber. Lobo folgte ihm.
Ein Trio von schwer bewaffneten Männern wartete neben einer Stahltür. Ein weiterer Mann hielt mit einem Fernglas und einem langen Gewehr auf dem Dach Wache. Lobo erkannte sie an ihrer Art: Es waren ehemalige Militärangehörige, die jetzt für Colon arbeiteten.
Schweigend machten die Wachen Colon den Weg frei und öffneten ihm die Tür. Als er hindurchging, trat er in eine andere Welt.
Ähnlich wie bei der Anlage in Arcos hatten sie das Äußere der Scheune rustikal gehalten, damit sie nicht besonders auffiel, während sich im Inneren ein hochmodernes Produktions- und Testzentrum befand. Der Boden bestand aus Beton und die Wände waren aus hochfesten Kunststoffplatten gebaut, deren glatte Oberflächen das Licht der Deckenbeleuchtung reflektierten.
Hinter einer Glaswand arbeiteten Männer in gelben Schutzanzügen in einem kleinen, aber sterilen Raum. Sie bedienten Maschinen, die amerikanischen Computerchip-Herstellern gestohlen worden waren. Mit dieser Ausrüstung stellten sie eine Waffe her, die den Westen in die Knie zwingen würde.
Während Lobo zusah, floss eine geringe Menge Flüssigkeit aus einer Hightech-Gießerei in eine gehärtete Glasschale. Als sie abkühlte, nahm die Flüssigkeit eine spiegelnde, kupferne Farbe an. Dann wurde sie vorsichtig in eine große Maschine geschoben, die ein Verfahren namens Fotolithografie anwandte, um die Siliziumschale in ein sich wiederholendes Muster aus mikroskopisch winzigen Computerchips zu verwandeln.
Trennte man diese Chips, erhielt man Millionen davon, und jeder einzelne war kleiner als ein Pollenkorn. Wenn man sie anstieß oder fallen ließ, schwebten sie genauso leicht in der Luft wie die unsichtbaren Pollen, die im Frühling so viele Augen rot färbten. Würfe man eine Handvoll davon hoch, würden sie sich wie eine Wolke ausbreiten und wie Rauch in der Luft schweben.
Colon und seine Männer nannten dieses Produkt »Polvo«, auf spanisch Staub oder Pulver. In einer Ecke des Labors wurden winzige Mengen des raffinierten Polvo getestet und verarbeitet und schließlich sorgfältig in Reagenzgläser gesiebt.
Verblüfft betrachtete Lobo das Szenario. »War dieses Zeug auf dem Frachter?«
»Genug davon, um uns zu verraten«, gab Colon zu.
»Was ist das für ein Zeug?«
»Die Zukunft Kubas.«
Polvo war wie ein Schlüssel, mit dem man den menschlichen Geist aufschließen konnte. Sobald er eingeatmet, injiziert oder geschluckt wurde, gelangte er schnell in die Blutbahn und fand schon bald seinen Weg zum Gehirn. Aufgrund seiner Größe und Form konnte er die sogenannte Blut-Hirn-Schranke durchdringen, und sobald er diese gewaltige Mauer einmal überwunden hatte, setzte er sich in der dahinter liegenden grauen Substanz fest.
Eingebettet an Ort und Stelle blieb der Polvo harmlos, bis er durch ein Niederfrequenzsignal aktiviert wurde, das jeder winzige Chip empfing und im Einklang mit den anderen weiterleitete. Mit nur ein paar Tausend Körnern an Ort und Stelle, weniger als einem Zehntel Gramm des Materials, konnte diese harmonische Übertragung das bioelektrische System, das der Mensch als Verstand bezeichnet, überwältigen und verheerende Folgen auslösen.
In jahrelangen brutalen Experimenten – die Historiker als böse bezeichnen würden, wenn sie jemals davon erführen – hatten Colon und seine Wissenschaftler gelernt, wie man den Polvo aktivieren konnte, um Emotionen zu manipulieren. Und danach fanden sie heraus, wie man den Geist einer Versuchsperson so vorbereitete, dass er Suggestionen von außen auf eine Weise annahm, als kämen sie von innen, von ihm selbst.
Bei einer bestimmten Frequenz wurden viele der mit dem Polvo infizierten Personen in einen hypnoseähnlichen Zustand versetzt. In diesem Zustand konnte der Mensch zu fast allem gezwungen werden. Colon hatte zum Beispiel beobachtet, wie Männer markerschütternde Schreie ausstießen, weil sie glaubten, sie stünden in Flammen, obwohl das nicht der Fall war.
Er hatte auch gesehen, wie ein Mann sich mit einer Waffe selbst erschossen hatte, die ihm als ein Heilmittel gegen den Schmerz angeboten wurde. Außerdem hatte er miterlebt, wie andere ihre Hände über eine Lötlampe hielten und nicht mit der Wimper zuckten, weil man ihnen sagte, es gäbe keine Hitze.
Ähnlich wie bei der Hypnose reagierten die Menschen unterschiedlich, manche brauchten mehr Indoktrination, andere weniger. Einige wenige konnte man nie ganz kontrollieren. Stattdessen wurden sie von den widerstreitenden Gedanken in ihrem Gehirn in den Wahnsinn getrieben.
Bei denjenigen, die auf eine tiefere Ebene der Unterwerfung geführt werden konnten, war man dann in der Lage, komplizierte Befehle zu erteilen und ihnen posthypnotische Suggestionen einzuflößen. Diese Personen verhielten sich so lange völlig normal, bis ein bestimmter Ton erklang oder zuvor festgelegte Worte ausgesprochen wurden, die ihr Programm auslösten. Sie wurden zu den ultimativen Maulwürfen: Männer und Frauen, die nicht einmal wussten, dass sie kompromittiert worden waren.
Mit dieser Technologie in der Tasche hatte Colon das Direktorat verlassen, war unter- und im Inneren der Ostro Airship Corporation wieder aufgetaucht.
Er hatte den Polvo in kleinen Dosen gegen diejenigen eingesetzt, die ihm im Weg standen. In größeren Mengen hatte er es für die weit verbreitete Piraterie verwendet. Jetzt, endlich, war er bereit, sein Meisterstück zu vollbringen. Und dafür würde er jedes Gramm verbrauchen, das er herstellen konnte.
»Komm mit!« Colon riss Lobos Aufmerksamkeit von den Männern in dem Reinraum los. »Deine alten Freunde wollen dich persönlich sehen.«
Sie verließen den Produktionsraum, gingen durch die Scheune und betraten einen bewachten Raum am anderen Ende. Darin warteten mehrere Männer auf sie, die letzten, die von den wahren Gläubigen der Picadors übrig geblieben waren.