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Rio De Janeiro, Brasilien

An Bord der Kondor zu gehen, erinnerte Paul an die Einschiffung auf einem großen Ozeandampfer in den längst vergangenen Tagen des Reisens. Gamay und er betraten das Fabrikationsgebäude und glitten auf einem Fahrsteig die lange Gangway hinauf.

Am oberen Ende wartete eine luxuriös ausgestattete Halle mit einer dreißig Fuß hohen Decke und einer prächtigen, geschwungenen Treppe, die zum nächsten Deck hinaufführte. Die Wände waren mit Art-déco-Elementen geschmückt, und ein gewaltiger Kronleuchter tauchte den Raum in einen warmen Glanz.

Der große Saal erstreckte sich über das gesamte untere Deck des Luftschiffes und war mit stark geneigten Fenstern versehen, durch die die Passagiere sowohl auf die nahe als auch auf die gegenüberliegende Wand hinunterblicken konnten.

In der Mitte des Raumes saß ein Mann im Smoking vor einem glänzenden Flügel und entlockte den Elfenbeintasten schmeichelnde Klänge. Wie alles andere auf der Kondor war auch der Flügel vor allem entwickelt worden, um Gewicht zu sparen. Er bestand aus einem speziellen Holzkitt, der mit Luftblasen gefüllt und über einen hohlen Aluminiumkern gelegt war. Statt siebenhundert Pfund wog das Klavier nur neunzig.

Die eleganten Möbel waren in ähnlicher Weise entworfen worden, und selbst bei der Besatzung hatte man darauf geachtet, Gewicht zu sparen. Es gab strenge Normen für Größe und Gewicht, und man hatte allgemein kleiner gewachsene Besatzungsmitglieder engagiert. Direkt vor ihnen begrüßte eine Reihe uniformierter Offiziere jeden einzelnen Gast. Keiner der männlichen und weiblichen Uniformierten war größer als Gamay.

Solari trug die Uniform eines Commodore und begrüßte die Trouts persönlich. Er führte sie durch die Hauptlobby und dann einen Korridor hinunter zu ihrem Quartier. »Ich habe die Präsidentensuite für Sie reserviert«, erklärte er. »Für meine Freunde aus Amerika nur das Beste.«

Auf Knopfdruck glitten die Taschenschiebetüren zurück und gaben den Blick in ihr Zimmer frei. Es war modern eingerichtet, mit einem Kingsize-Bett und einem luxuriösen Bad.

Ein Steward verstaute ihre Reisetaschen im Schrank, während es Paul und Gamay zu den deckenhohen Fenstern auf der anderen Seite der Kabine zog. Wie die Fenster im Salon waren sie im Winkel des Luftschiffsrumpfs geneigt und gaben den Blick auf die Welt unter ihnen frei. Im Augenblick zeigten sie allerdings nur das Innere des massiven Hangars und das ruhige Wasser darunter.

Paul reckte seinen Hals, um das andere Ende zu sehen. Als sich die massiven Tore langsam öffneten, wurde es heller. Unten gingen zwei Schlepper in Position, von denen der rückwärtige sanften Schub gab, während der andere das Luftschiff vorsichtig nach vorn zog.

Gamay wandte sich an Solari. »Wie viel würde so eine Kabine auf einem Transatlantikflug kosten? Wenn zum Beispiel jemand eine Hochzeitsreise oder so etwas planen wollte.«

»Vierzigtausend pro Nacht«, sagte Solari. »US -Dollar.«

Paul war sichtlich beeindruckt. »Dann sollten wir uns wohl daran erfreuen, solange wir noch können.«

Solari lachte und reichte ihnen zwei dicke Ausweiskarten. »Das ist sozusagen die Schlüsselkarte für das Haus. Die luxuriösen Einrichtungen sind zwar alle ganz hübsch, doch ich vermute, dass die NUMA eher an den Maschinenräumen und den Eigenschaften des Luftschiffes interessiert ist. Sobald wir gestartet sind, werde ich dafür sorgen, dass einer meiner Leute Sie herumführt, wohin Sie auch wollen.«

Gamay nahm die Karten entgegen und bedankte sich.

»Wir sehen uns in dreißig Minuten beim Empfang im Astra-Salon«, fügte Solari hinzu. »Glauben Sie mir, es gibt keinen besseren Ort, um unsere Abreise zu genießen.«

Der Astra-Salon enttäuschte die Erwartungen nicht. Er befand sich neun Stockwerke über dem Hauptdeck an der Vorderseite des Luftschiffes. Der pfeilförmige Balkon war nach außen offen und mit versenkbaren Windabweisern und brusthohen Geländern aus klarem Acryl ausgestattet.

Ein paar Dutzend Passagiere waren bereits hier versammelt und nippten Champagner, der von uniformierten Cocktailkellnerinnen gereicht wurde. Gamay entdeckte mehrere brasilianische Politiker, einige Prominente, deren Namen sie nicht genau zuordnen konnte, sowie Dutzende anderer Gäste, die zu den Reichen, wenn nicht gar zu den Berühmtheiten der Welt zählten.

Da es sich bei dieser Fahrt im Grunde um eine Goodwill-Tour handelte, war die Kondor nur zur Hälfte ausgelastet, obwohl Solari versicherte, dass sie gerade tausend Tonnen eilige Fracht transportierten.

Gamay trank einen Schluck Champagner und bewunderte die Aussicht, während sie die Gelegenheit nutzte, einige Fragen zu stellen.

»Zweitausend Tonnen sind möglich – das klingt erst einmal nach einer Menge Fracht, aber im Vergleich zu einem durchschnittlichen Hochseefrachter sind das natürlich Peanuts.«

»Wir transportieren ausschließlich Objekte, die sich teuer verkaufen«, erklärte Solari. »Und wir liefern innerhalb von Tagen statt Wochen. Sie erinnern sich doch sicherlich an die Engpässe in der Versorgungskette? Als wegen des Unfalls im Panamakanal die Häfen verstopft waren und die Schiffe nicht anlegen konnten? Als überall das Chaos ausbrach, hat unsere Flotte innerhalb von neun Monaten zweihundertneunzehn Fahrten über den Pazifik unternommen und damit dazu beigetragen, die Situation zu entschärfen. Und da wir mit einem Speichennetzwerk arbeiten, statt wie ein normales Containerschiff von Punkt zu Punkt zu fahren, verbessert sich das ökonomische Verhältnis jedes Mal, wenn wir ein neues Schiff auf den Markt bringen – so wie dieses hier.«

Paul war beeindruckt. »Wie hoch ist Ihr Treibstoffverbrauch?«

»Null«, antwortete Solari. »Das hier ist ein vollelektrisches Luftschiff. Sie haben es noch nicht gesehen. Aber ich führe Sie auf das Oberdeck und zeige Ihnen den Solarpark. Er besteht aus zwanzigtausend Quadratmetern Solarfolie, die vollständig bündig mit dem Rumpf angelegt ist. Sie reicht sogar an den Seiten ganz runter, sodass wir die Sonneneinstrahlung auch aufnehmen können, wenn die Sonne tief steht.«

»Wie viel Strom erzeugen Sie damit?«

»An einem sonnigen Tag reicht es, um eine kleine Stadt zu versorgen. Mehr als genug für unsere Motoren und den allgemeinen Verbrauch an Bord.«

»Und an bewölkten Tagen?«, fragte Gamay.

Solari grinste. »Wo wir hinfliegen, gibt es keine bewölkten Tage.«

»Aber es gibt lange Nächte.«

»Wir verwenden ein Festkörperbatteriesystem«, antwortete Solari. »Es ist leichter und leistungsfähiger als Lithium-Ionen-Systeme. An einem einzigen sonnigen Tag speichert es genug Strom für sechsunddreißig Stunden Flug mit voller Leistung. Und falls wir doch einmal Energie sparen müssen, können wir ein paar Lichter ausschalten oder mit einem Motor arbeiten.«

Allmählich geriet Paul in einen Zustand der Glückseligkeit. Er wollte die Motoren, den Solarpark und die Batterien sehen. Er konnte es kaum erwarten, das Schiff von vorn bis hinten zu erkunden.

Gamay reagierte jedoch kritischer. Festkörperbatterien waren genau der Typ von Batterie, der in dem von Kurt gefundenen Drohnenwrack verwendet worden war.

»Wann starten wir?«, fragte Paul. »Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie das Ding fliegt.«

»Was denn, Mr. Trout, haben Sie es etwa nicht bemerkt? Wir sind längst gestartet.«

Paul blickte über den Balkon. Tatsächlich waren sie aus dem Fabrikationsgebäude in die Bucht gezogen worden, aber das Luftschiff hatte auch zu steigen begonnen. Es gab keinen Ruck oder Schub, der ihm gesagt hätte, dass sie bereits flogen, kein Dröhnen von Motoren oder Heulen von Propellern. Es schien eher so, als bewegte sich der Hintergrund anstelle der Kondor .

Solari führte sie zur Reling. Gamay ging darauf ein, lehnte sich dagegen, blickte hinaus und dann nach unten. Paul dagegen hielt mehrere Meter Abstand zwischen sich und dem durchsichtigen Geländer. Von seiner Position aus konnte er gut genug sehen.

»Unglaublich«, sagte Gamay. »Wir sind schon einhundert Fuß über dem Boden. Ich habe nicht einmal gespürt, dass wir uns bewegen.«

»Das werden Sie auch so gut wie nie«, betonte Solari. »Ein weiterer Vorteil, den eine Reise mit einem Luftschiff bereithält, ist der, dass es nur sehr wenig sogenannte Turbulenzen gibt.«

Die anderen Gäste auf dem Balkon schienen ähnlich erstaunt und begeistert zu sein, wenn man ihren Ausrufen glauben konnte.

Die Kondor stieg weiter, drehte sich und flog über die Fabrikationsgebäude hinweg nach Rio. Als sie noch an Geschwindigkeit zulegte, senkten sich eine Reihe von Windschutzgittern, die die Luft um den Salon herum lenkten. Es blieb nicht mehr als eine angenehme Brise übrig, die den Raum belüftete, aber keine Böen, die stark genug gewesen wären, die Dekoration durcheinanderzubringen oder jemandes Frisur zu zerzausen. Wenn das Luftschiff schließlich bis auf Reisegeschwindigkeit beschleunigte, würden die Windschutznetze eingezogen werden und klare Acrylfenster bis auf das brusthohe Geländer hinabfahren. So war der Astra-Salon vollkommen vor den Elementen geschützt. Aber im Augenblick war es hier noch wie auf dem offenen Deck eines Kreuzfahrtschiffes.

Während sich Paul in sicherem Abstand von der Reling hielt, genoss Gamay den Anblick und die Geräusche von unten. Sie glitten in einer Höhe von fünfhundert Fuß nach Süden über den Strand von Ipanema. Die Motoren waren so leise und so weit vom Astra-Salon entfernt, dass man sie nicht hören konnte.

Stattdessen vernahm sie die Rufe der Möwen und das Rauschen der Wellen am Strand unter sich.

Am Boden flog der riesige Schatten des Schiffes lautlos über den Sand und das Meer. Die Menschenmassen sahen ihm nach, als es vorbeizog. Sie ließen alles stehen und liegen und starrten nach oben, bis sich das stattliche Luftschiff wieder entfernte.

Bald näherten sie sich dem Zuckerhut und der Christusstatue, die sie und Paul am Vortag besucht hatten. Langsam schwebten sie an der Statue vorbei, eine halbe Meile entfernt, aber ungefähr auf Höhe der Aussichtsplattform. Gamay sah Hunderte von winkenden Menschen. Sie winkte zurück.

Wenige Augenblicke später hörte sie einen großen Jubelschrei, und die Kondor gab ein Signal mit einem Presslufthorn, um den Gruß zu erwidern.

Nach diesem kleinen Rundflug drehte die Kondor nach Osten ab, in Richtung des Atlantiks und nahm dann Kurs nach Nordwesten, der sie über Brasilien und Venezuela führen sollte.

Schon am nächsten Morgen würden sie über den blauen Gewässern der Karibik kreuzen.

Gamay gesellte sich wieder zu Paul. »Das ist unglaublich«, sagte sie. »Das ist locker vierzigtausend pro Nacht wert, wenn ich das mal so sagen darf.«

Solari grinste. »Lassen Sie mich ein solches Luftschiff für die NUMA bauen, dann können Sie so etwas als Büro nutzen.«

»Daran könnte ich mich gewöhnen«, antwortete sie.

Paul schüttelte den Kopf. Ironischerweise wollte er damit nichts zu tun haben.

Solari wirkte gekränkt. »Ich dachte, das würde Ihnen Spaß machen, Mr. Trout?«

»Das tut es auch, ich habe nur ein bisschen Höhenangst.«

»Aber Sie sind doch zwei Meter groß«, hielt Solari dagegen.

»Das höre ich nicht zum ersten Mal«, gab Paul zurück. »Was soll ich sagen?«

Während Solari und Paul sich weiter unterhielten, bemerkte Gamay, dass die beiden Männer auf sie zukamen, die am Vortag den Testflug verhindert hatten – Colon und Mr. Torres.

Als sie sie erreichten, schien Solaris Laune ebenso in den Keller zu sinken wie am Tag zuvor.

»Entschuldigen Sie die Störung«, ergriff Colon das Wort. »Das Geschäft ruft.« Er sah Solari an. »Sie müssen mit einigen Passagieren sprechen.«

»Verstehe.« Solaris Stimme klang plötzlich monoton.

Gamay warf einen Blick auf Paul. Irgendetwas wirkte hier definitiv merkwürdig.

Dann wandte sich Colon an sie. »Ich habe gehört, Sie wollen das Schiff erkunden. Seien Sie aber bitte vorsichtig. Es gibt zahlreiche Bereiche, in denen noch gearbeitet wird. Vor allem im Heck.«

»Das ist nicht schlimm«, erwiderte Paul. »So manches Schiff ist auf seiner Jungfernfahrt mit einem Arbeitstrupp an Bord ausgelaufen, der dem Schiff noch den letzten Schliff verpasst hat.« Paul erinnerte sich an eines der bekannteren Schiffe, die in einem solchen Zustand in See gestochen waren. Die Titanic . Wohlweislich behielt er das allerdings für sich.

»Wie dem auch sei«, sagte Torres, »ich kann nicht dulden, dass sie gestört werden. Außerdem wollen wir auf jeden Fall sicherstellen, dass wir auf unserer Jungfernfahrt Unfälle von Passagieren und Besatzung vermeiden.«