39

Während sich Torres, Colon und Solari um ihre Investoren kümmerten, nahmen Paul und Gamay im Hauptspeisesaal einen Imbiss zu sich und sprachen leise miteinander.

»Was hältst du davon?«, fragte Paul.

»Das ist merkwürdig«, antwortete sie. »Jetzt ist es schon das zweite Mal, dass sich Solaris Persönlichkeit nach ihrer Ankunft plötzlich verändert hat.«

»Ich meinte die Warnung, die Technikräume am Heck nicht zu betreten.«

»Das Heck solltest du auch nicht unbedingt als erste Anlaufstelle wählen«, sagte sie.

»Meine erste Anlaufstelle?«, fragte Paul. »Ich dachte, wir machen das zusammen?«

»Ich habe einen Termin in dem Wellnesscenter, das hier Angelus Spa genannt wird«, sagte sie. »Ich bin mir zwar nicht sicher, was das bedeutet, bin aber fest entschlossen, es auszuprobieren.«

»Viel Erfolg bei der Spurensuche mit Gurkenscheiben über den Augen«, meinte Paul.

Gamay lachte, da kamen bereits zwei Besatzungsmitglieder des Luftschiffes auf sie zu. Ein junger Mann im Overall eines Ingenieurs und eine Frau in der Uniform einer Bademeisterin. Dies waren ihre persönlichen Begleiter.

»Wir sehen uns in unserer Kabine«, sagte Paul. »Und sei nicht neidisch, wenn ich mich besser amüsiere als du.«

»Das ist im wahrsten Sinne des Wortes gar nicht möglich«, behauptete Gamay.

Fünfzehn Minuten später stieg Gamay – gekleidet in ihren Badeanzug – in ein Becken mit salzhaltigem Wasser, das auf eine Temperatur von dreißig Grad Celsius erhitzt worden war, sodass ihre Haut die Flüssigkeit kaum noch wahrnehmen konnte, sobald sie darin eingetaucht war.

»Wie ist das Wasser?«, fragte die Bademeisterin.

»Goldlöckchen-Zone«, erwiderte Gamay. »Nicht zu heiß und nicht zu kühl.«

»Ausgezeichnet. Jetzt setzen Sie die Schwimmbrille auf und legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten ins Wasser.« Gamay hatte eine gebogene Schwimmbrille bekommen. Sie passte genau auf ihr Gesicht und ermöglichte eine fast unverzerrte Sicht von knapp hundertachtzig Grad.

Mit der Schutzbrille legte sie sich ins Wasser und atmete durch einen Schnorchel, wie sie es schon tausendmal zuvor in ihrem Leben getan hatte. Der dunkle Pool wirkte entspannend. Eine Art Reizentzugtank, vermutete sie. Dann begann sich der Tank zu bewegen und senkte sich auf hydraulischen Armen ab.

Sie war sich nicht sicher, wie weit sie sich bewegt hatten, als die Bewegung wieder aufhörte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Ich werde jetzt nicht in ein Haibecken oder so was hinabgelassen, oder?«

»Aber natürlich nicht«, sagte die Bademeisterin. »Versuchen Sie einfach, sich zu entspannen. Ein beeindruckendes Erlebnis erwartet Sie.«

Wenn jemand ihr sagte, sie solle sich entspannen, führte das meistens dazu, dass Gamay sich verkrampfte. Aber diesmal kämpfte sie dagegen an und atmete langsam und tief, während sie schwebte und nach unten in die Dunkelheit starrte. Eine Dunkelheit, die sich aufhellte. Der Pool oder die Gondel, in der sie sich befand, war im Grunde eine Acrylwanne, deren Wände von rauchig und undurchsichtig zu klar wechselten. Als die Schatten verschwanden, stellte sie fest, dass sie immer noch im Wasser schwebte, der Pool aber über und unter dem Rumpf hinausragte.

Unmittelbar unter ihr befanden sich die Bäume eines Regenwaldes, über deren Wipfel der Schatten des riesigen Luftschiffes glitt. Zur Rechten zogen dünne Nebelfäden wie Rauchschwaden an ihr vorbei. Von links kam ein Schwarm von großen Vögeln. Sie flogen dicht heran und drehten dann ab. Ihr buntes Gefieder blitzte kurz auf, bis sie im Sturzflug an Geschwindigkeit gewannen und wieder auf das Luftschiff zusteuerten. Anschließend schlossen sie sich ihm in einer Art Formationsflug an. Das Muster ihrer Bewegungen erinnerte Gamay an Delfine, die in der Bugwelle eines Schiffes spielten.

Für einen Augenblick war sie vor Ehrfurcht wie erstarrt. Schwerelos im Wasser schwebend, fühlte sie sich, als würde sie selbst fliegen.

»Mrs. Trout«, sagte die Bademeisterin leise. »Bitte vergessen Sie nicht zu atmen. Diese Erfahrung hat den besten Einfluss, wenn Sie langsam ausatmen.«

Gamay merkte, dass sie tatsächlich den Atem angehalten hatte. Also folgte sie den Anweisungen der Frau, atmete ruhig weiter und sah sich in alle Richtungen um. Es war friedlich und auch etwas verwirrend. Wie ein Traum, nur real und greifbar.

Unablässig sah sie sich um und verlor bald das Zeitgefühl. Dies hier war eine der erstaunlichsten Erfahrungen ihres Lebens. Und ihr schoss durch den Kopf, dass Paul es keine zehn Sekunden in dem Pool ausgehalten hätte, nachdem das Acrylglas klar geworden war.

Wie sich herausstellte, warf Paul gerade ebenfalls einen Blick durch eine durchsichtige Acrylbarriere. Doch statt auf Nebel, Bäume und Vögel starrte er in die riesigen Ansaugschächte, die die Luft zu den glänzenden Flügelrädern aus Keramik führten, die das Luftschiff antrieben. Die riesigen Scheiben drehten sich langsam, komprimierten die Luft und drückten sie durch die Auslassdüsen am Heck nach draußen. Ihre Kraft trieb die Kondor mit einer gemächlichen Geschwindigkeit von vierzig Knoten an.

Wie alles andere an der Kondor arbeiteten auch die Motoren reibungslos und leise. Als Paul im Maschinenraum stand, hörte er nichts, was dem Brummen von Hochgeschwindigkeits-Propellern, dem Heulen von Düsentriebwerken oder dem endlosen Wummern von Rotoren über den Köpfen nahegekommen wäre. Nur ein sanftes und gleichmäßiges Rauschen, wie Wasser, das durch ein großes Rohr strömte.

Der Chefingenieur zeigte ihm die Kontrollsysteme und prahlte damit, dass die Kondor und ihre Schwesterschiffe eine Höchstgeschwindigkeit von einhundertfünfzig Knoten erreichen konnten. Er schränkte allerdings ein, dass dies nur selten nötig sei, weil sie die Windverhältnisse rund um den Globus ausnutzten und fast überall mit Rückenwind flogen.

Vom Maschinenraum aus ging es nach vorne zum Kontrolldeck, das sich im unteren Teil der Nase des Luftschiffes befand. Es war breit und geräumig und ähnelte eher der Brücke eines Hochseeschiffes als dem engen Cockpit eines Verkehrsflugzeugs.

Dort traf Paul auf Kapitän Miguel Bascombe, einen Mann Anfang sechzig mit grauem Haar unter der Kapitänsmütze, langen Koteletten und einem ausgewachsenen Schnauzbart.

Bascombe stand hinter zwei Besatzungsmitgliedern, die an den nach vorne geneigten Fenstern Wache hielten und gleichzeitig die riesigen Computerbildschirme im Auge hatten, auf denen das Umfeld des Luftschiffes durch eine Reihe von Kameras eingespeist wurde.

»Unser Hauptinteresse in dieser Höhe ist es, Vogelschlag und Abwinde zu vermeiden«, sagte Kapitän Bascombe. »Als wir zum ersten Mal auf dieser Route unterwegs waren, haben sich die Vögel zerstreut wie … na ja, wie Krähen … Mittlerweile scheinen sie sich an unsere großen, aber leisen Schiffe gewöhnt zu haben. Sie schließen sich uns an und fliegen auf beiden Seiten, manchmal steigen sie über uns hinweg und lassen sich hinter uns wieder fallen, um in unserem Sog zu segeln.«

»Was machen Sie, wenn einer frontal auf Sie zugeflogen kommt?«, fragte Paul.

»Dagegen können wir nicht viel tun«, räumte Bascombe ein. »Aber wir verdrängen so viel Luft, dass selbst die entschlossensten Harpyien vor dem Aufprall aus dem Weg gedrückt werden.«

Paul lachte. »Das ist mir auch immer passiert, wenn ich mit unserem Hummer über die Autobahn gefahren bin.«

Der Kapitän deutete auf die Flugoffiziere, die direkt vor den beiden Ausguckwachen standen. Der Pilot befand sich zu seiner Linken, der Systemingenieur zu seiner Rechten. Die Kontrollen waren alle computergestützt, was Piloten ein gläsernes Cockpit nennen, das aus Touchscreens und Tastaturen bestand.

Der Pilot stand regungslos da, seine Hand ruhte auf einem einzelnen hervorstehenden Hebel mit einem Handgriff und einer dreieckigen Spitze, die wie ein Richtungspfeil daraus herausragte.

»Wir nennen diesen Hebel All-Con, was für ›All control‹ steht«, erklärte Bascombe. »Wir verwenden ihn für die manuelle Steuerung, wenn wir landen und starten oder Manöver in Bodennähe durchführen. Er kann nach vorn geschoben, nach hinten gezogen, zu beiden Seiten bewegt und sogar angehoben und abgesenkt werden, um die Flughöhe zu verändern. Ebenfalls ist es möglich, ihn auf der Stelle nach links und rechts zu drehen. Damit nutzen wir die seitlichen Triebwerke und die Windkanäle und richten uns auf, wenn wir Seitenwind abbekommen – was wir aus offensichtlichen Gründen nicht besonders schätzen.«

Paul verstand. Die Seiten des Schiffes bildeten eine Fläche wie hundert ausgebreitete Segel. Bei starkem Seitenwind würde sich die Kondor wie eine Krabbe seitwärts bewegen, egal, wie sehr sie auch dagegen ankämpfte.

»Also kann ein einziger Mann dieses Schiff nur mit diesem einen Hebel steuern?«, fragte Paul.

Der Kapitän nickte. »Wollen Sie es ausprobieren?«

»Machen Sie Scherze?«

»Keineswegs.«

Paul ging in Position, legte seine Hand auf den All-Con und atmete tief ein. Für eine kurze Sekunde fühlte er sich wieder wie ein Kind und erinnerte sich an die Zeit, als sein Vater ihn im Alter von zwölf Jahren mit dem Auto über einen leeren Parkplatz hatte fahren lassen. Der Nervenkitzel war derselbe wie damals. Als er bereit war, schaltete der Kapitän den Autopiloten ab.

»Ändern Sie unseren Kurs«, sagte der Kapitän. »Nach Backbord oder Steuerbord, ganz wie Sie wünschen.«

Mit dem All-Con drehte Paul die Nase nach links. Das Ruder reagierte zwar langsam, aber bald spürte er, wie sich das Deck unter seinen Füßen neigte.

Der Kapitän rümpfte die Nase, und sein Schnauzbart zuckte hin und her. »Das ist keine Wende«, sagte er. »Geben Sie etwas mehr Dampf. Schwingen Sie sie herum. Erinnern Sie diese verwöhnten Passagiere daran, dass sie sich auf einem Luftschiff befinden, um Himmels willen.«

Paul drehte den Regler fester, und das Luftschiff drehte mit weitaus größerem Schwung nach links. Und das geschah für ein Schiff von der Größe eines Wolkenkratzers schockierend schnell, fand Paul.

Während sich die Kurve fortsetzte, bemerkte Paul, dass am Horizont mehr Bäume und weniger Himmel zu sehen war. Er hatte die Nase unbeabsichtigt auch nach unten gedrückt, als er das Schiff in die Kurve drehte. Es mochte zwar nicht gerade ein Sturzflug sein, nach all den Stunden eines unglaublich stabilen Fluges fühlte es sich jedoch schlimmer an, als es tatsächlich war.

Dass sie sich aber nur fünfhundert Fuß über dem grünen Teppich des Regenwaldes befanden, ließ ihn ein wenig nervös werden.

»Bringen Sie die Kondor jetzt wieder hoch«, empfahl ihm der Kapitän, der die Hände gelassen hinter dem Rücken verschränkt hielt.

Paul zog den All-Con zurück, um den Sinkflug zu stabilisieren, und das riesige Schiff schwang wie ein Kutter der Küstenwache auf einer Welle hoch. Als nur noch Himmel die Windschutzscheibe füllte, wusste er, dass er zu weit gegangen war. Er senkte die Nase wieder und tarierte es aus.

»Gut gemacht für einen Neuling«, erklärte der Kapitän und übernahm erneut die Kontrolle – anstelle seines nervösen Besuchers. »Wahrscheinlich war das noch nicht stark genug, um etwas von den Getränken zu verschütten, aber mit etwas Glück ist vielleicht ein bisschen Poolwasser über den Rand geschwappt.«

Verlegen trat Paul zurück. Er bedankte sich, warf noch einen Blick aus den vorderen Fenstern und verließ dann mit seiner Eskorte die Brücke. »Was kommt als Nächstes?«

»Die Hubkammern«, sagte der junge Ingenieur.

Statt den Durchgang zum Hauptdeck zu nehmen, stiegen sie eine Leiter hinauf und gingen durch einen Wartungskorridor, der in das Innere der vorderen Hubkammer führte. Es war eine riesige Sektion, die an das Innere eines Kuppelstadions erinnerte.

Oben befanden sich scheinbar endlose Reihen praller, zylindrischer Röhren, die in Siebenergruppen gebündelt waren. Jede dieser Röhren war fünfzig Fuß lang und maß acht Fuß Durchmesser. Sie bestanden aus einem leichten Material und waren bis zur maximalen Volumensgrenze mit Helium gefüllt.

Über ihm und zu beiden Seiten erstreckten sich ganze Reihen dieser Bündel. Der Gang durch die Kammer glich einem Spaziergang durch Wolken. Am Ende des Laufstegs wartete eine Gestalt auf sie.

»Señor Solari?«, fragte der Ingenieur.

»Ab hier übernehme ich.«

Inzwischen schien Solari wieder ganz der Alte zu sein. »Mr. Trout, wie gefällt Ihnen Ihre Tour?«, fragte er.

»Unglaublich … bis jetzt«, sagte Paul.

»Haben wir Ihre Flugangst überwunden?«

»Es ist keine Angst vor dem Fliegen«, sagte Paul. »Eher eine vor dem Absturz.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, riet Solari mit Nachdruck. »Wir haben tausend Sicherheitsvorkehrungen getroffen, die es vor einem Jahrhundert noch gar nicht gab. Wir verwenden Helium anstelle von Wasserstoff. Wie Sie sicher wissen, brennt Helium nicht. Unser Schiff ist aus den stärksten und leichtesten Materialien gebaut. Die Genauigkeit unseres Wettersatelliten ist unübertroffen. Wir haben sogar mehr Kraftwerke, als wir benötigen, falls mal eines ausfällt.«

»Eines von ihnen war ja bereits … anfällig«, erinnerte ihn Paul. »Was passiert, wenn die anderen Flügelräder kaputt gehen oder ausfallen?«

»Selbst wenn wir nur treiben würden«, sagte Solari, »können wir mit den Flügelklappen unsere Richtung kontrollieren und Helium ablassen, um uns dem Boden zu nähern. Und wenn wir dort sind, setzen wir einfach das ein, was ich unsere Kapitän-Ahab-Eventualität nenne.«

»Kapitän-Ahab-Eventualität?«, wiederholte Paul. »Was, bitte schön, ist das denn?«

»An Bug und Heck sind raketengetriebene Anker installiert, insgesamt ein Dutzend. Wir können sie wie Harpunen in den Boden schießen, um das Schiff zu stabilisieren. Vergleichbar mit den Ankern eines Ozeandampfers«, erläuterte Solari. »Und falls doch einmal etwas schiefgeht, kann das Schiff auf dem Wasser landen oder die Passagiere in Rettungsbooten auf die Erde bringen.«

»Sie haben Rettungsboote an Bord?«

Solari nickte. »Wir verfügen über zahlreiche aufblasbare Rettungsflöße der üblichen Art«, begann er. »Und eine Reihe großer Drohnen für mehrere Personen, um Passagiere und Besatzung zum Boden und vom Boden weg transportieren zu können. Falls etwas Drastisches passiert, können sie im Notfall verwendet werden. Die neuesten Modelle können sechs Passagiere befördern, und eine Version für bis zu zehn Personen ist in Planung. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich die Technologie entwickelt, sehe ich sogar den Tag voraus, an dem sie groß genug sind und wir genug davon haben, dass wir das Schiff nicht mehr landen müssen, sondern nur noch über der Landefläche schweben, während die Drohnen hin und her fliegen.«

Von dieser Vorstellung war Paul fasziniert. Er vermutete, dass dies seine einzige Chance sein könnte, einen Blick auf die Drohnen zu werfen, die sie an Bord hatten. »Das würde ich gern mal sehen.«

»Dann kommen Sie mit«, lud Solari ihn ein.

Sie setzten ihren Weg über den Laufsteg fort, durchquerten mehrere Trennschotts und gelangten schließlich in die hintere Hubkammer.

Auf dem Weg dorthin kreuzten sie weitere Laufstege, die quer horizontal angeordnet waren und zu den Seiten des Rumpfs abzweigten.

Leitern führten nach oben und nach unten und verbanden die verschiedenen Ebenen des Laufstegsystems. Paul stellte sich vor, dass das alles wie ein 3D-Straßennetz aussehen musste. Aber es war schwer zu erkennen, denn in jeder Richtung versperrten ihm die Bündel aufgeblasener Heliumzellen in Gestalt zylindrischer Röhren die Sicht. Als sie weitergingen, wurde Paul langsam klar, dass man hier leicht tagelang herumirrten konnte.

Als sie sich dem Heck näherten, passierten sie eine größere, noch massivere Stützstruktur. Sie verlief durch den Rumpf und stützte den vertikalen Hauptstabilisator, der fünf Stockwerke über dem Luftschiff herausragte. Die Träger hatten eine ovale Form und waren aus Kohlefaser gefertigt, vergleichbar mit den Masten von Rollos Segelbooten.

Hinter dieser Stützstruktur erreichten sie ein weiteres Schott. Auf einem Schild stand: »HECK -FLUGDECK . NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL

Weder Solari noch Paul wussten, dass die reguläre Besatzung diese Sektion möglichst mied. Sie wurde von Colons Ladungsteams, den Grauhemden, kontrolliert und auch von seinen Security-Leuten bewacht.

Gerüchten zufolge hatte sich schon mehr als eine Person auf das hintere Flugdeck verirrt und war danach nicht mehr gesehen worden.

Als sie sich der Tür näherten, wurden sie von einem Security-Mann aufgehalten. Zwar stand er zunächst in voller Arroganz da, wurde aber nervös, als er merkte, wer sich ihm näherte.

»Señor Solari«, sagte er mit spanischem Akzent. »Wie ungewöhnlich, Sie hier zu sehen. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich führe diesen Herrn herum«, erklärte Solari. »Wir wollen uns das Flugdeck und die Drohnen ansehen.«

»Tut mir leid«, sagte der Mann. »Da drin ist zurzeit sehr viel los. Viel Arbeit. Vielleicht wäre es später besser.«

»Unsinn!«, rief Solari. »Das ist der richtige Zeitpunkt.« Entschlossen trat er vor, und der Mann machte ihm Platz.

Paul folgte Solari durch die Tür in den hintersten Bereich des Luftschiffes, einen großen, offenen Raum mit einer hohen Decke und einem flachen Deck. Er erinnerte Paul an die Hangardecks, die er von Flugzeugträgern kannte, wenn dieser Raum auch deutlich kleiner war. Hier und da sah er Männer, die an verschiedenen Maschinen arbeiteten. Auf der linken Seite war eine kleine Flotte von Navigationsdrohnen an Ladestationen angeschlossen. Zu ihrer Rechten bereiteten zwei Deckarbeiter eine kühlschrankgroße Drohne für einen Flug vor, und direkt vor ihnen bot sich ein Ausblick, der selbst den aus dem Cockpit übertraf.

Am hinteren Ende des Abteils waren zwei knapp vierzig Fuß breite Tore geöffnet und heruntergelassen worden. Sie erlaubten einen unglaublichen Blick auf die Welt dahinter. Sie umrahmten Wolkenberge, die in der Ferne über dem dunkelgrünen Blätterwald unter ihnen schwebten. Ihre oberen Bereiche leuchteten in der Mittagssonne in einem strahlenden, fast schon blendenden Weiß.

Während Paul das alles in sich einsog, landete gerade eine kleine Drohne. Sie näherte sich von der Backbordseite, folgte dem Luftschiff eine Weile und bewegte sich dann nach innen, überquerte die Schwelle und landete diesseits einer gelben Warnlinie, die niemand überschreiten durfte.

Ihre Propeller schalteten sich augenblicklich ab. Als sie verstummten, bemerkte Paul, dass auch auf dem Rest des Flugdecks Stille eingekehrt war. Die Grauhemden und die Mechaniker starrten sie an.

Aber es war nicht die Rückkehr der Navigationsdrohne oder das Auftauchen des Geschäftsführers an einem Arbeitsplatz, die diese Wirkung erzeugten.

Vielmehr fuhr in mitten im Raum eine Aufzugsplattform in die Höhe und füllte eine Öffnung in der Mitte des Decks. Zu Pauls großer Überraschung stand darauf eine der donutförmigen Drohnen, umringt von mehreren Männern. Unter ihnen erkannte Paul Torres und Colon.

Bedauerlicherweise erkannte Colon auch ihn.

Paul trat einen Schritt zurück. »Wir sollten wohl besser gehen.«

»Stopp!«, rief Colon.

Paul befolgte den Befehl nicht, sondern ging rückwärts, bis er in eines der Grauhemden stieß, das unversehens hinter ihm aufgetaucht war. Der Arbeiter schob ihn wieder nach vorn. Dann betrat der Security-Mann ebenfalls den Raum und verschloss hinter sich die Tür.

»Was ist hier los?«, fragte Solari.

»Sie sollten nicht hier hinten sein«, gab Colon zurück.

Die Arbeiter verfolgten die Vorgänge schockiert. Offenbar wussten sie nicht, was sie tun sollten.

»Aber … das ist mein Unternehmen«, sagte Solari. »Mein Schiff. Ich kann überall hingehen, wohin ich verdammt noch mal hingehen will. Was auch immer Sie hier tun, Sie hören sofort damit auf.«

Wie ein enttäuschter Vater schüttelte Colon den Kopf. »Das alles haben wir doch zu Genüge durchgekaut«, betonte er. »Ich kümmere mich um die Frachträume. Was hier passiert, ist ausschließlich meine Sache.«

»Nur, wenn ich es genehmige!«, gab Solari nachdrücklich zurück.

»Selbstverständlich«, räumte Colon abschätzig ein. »Aber Sie sind ja immer einverstanden. Dafür sorge ich schon.«

Bei diesen Worten zog er ein kleines Gerät aus seiner Tasche und drückte auf einen Schalter.

Paul zuckte zusammen, als würden sie gleich erschossen oder betäubt werden, aber nichts geschah. Zumindest nichts, was er sehen oder hören konnte. Solari, der ein paar Schritte von ihm entfernt dastand, reagierte jedoch ganz anders. Er versteifte sich und verstummte.

»Setzen Sie sich, Señor Solari.« Colon sprach die Worte laut und deutlich aus, als gäbe er einem dressierten Tier Befehle. »Zählen Sie bis tausend, bevor Sie wieder sprechen.«

Solari blickte starr geradeaus. Das war ein Blick in die Ferne, der vermuten ließ, dass er überhaupt nichts wahrnahm. Dann ging er zu einer Werkbank in der Nähe und setzte sich auf den Stuhl, der daneben stand.

Er starrte weiterhin in die Ferne. Paul hatte den Eindruck, dass er genau das tat, was ihm befohlen worden war.

Und damit wollte er nichts zu tun haben. Er drehte sich von dem Mann weg, der ihm den Weg versperrt hatte, und stürmte zur Tür. Der Wachmann versuchte, ihn aufzuhalten, doch Paul stieß ihn um und warf ihn zu Boden.

Als er die Tür erreichte, griff Paul nach dem Türgriff und zog daran. Die Tür war verschlossen, der Griff ließ sich nicht bewegen. Er trat zurück, bereit, seinen Körper gegen die leichte Aluminiumplatte zu werfen und sie einzudrücken. Aber bevor er dazu kam, griffen ihn zwei von Colons Männern an.

Einer der Mechaniker packte seinen Arm und versuchte, ihn auf Pauls Rücken zu biegen, während ihn ein zweiter um die Taille packte. Die drei gingen gemeinsam zu Boden. Mit einer Ringerbewegung, die er in jungen Jahren gelernt hatte, drehte sich Paul und warf einen der Männer ab. Den zweiten stieß er ebenfalls zur Seite. Paul war vielleicht nicht der agilste Mann, aber er war groß und stark.

In der Sekunde, die er frei war, sprang er auf und sah einen dritten Mann, der mit einem schweren Schraubenschlüssel nach ihm schlug. Der Hieb landete in seinem Magen, und er krümmte sich. Als Paul zusammensackte, tauchten zwei weitere Grauhemden auf. Er war fünf zu eins in der Unterzahl und wurde überwältigt.

Als der Kampf vorbei war, kam Colon auf ihn zu.

»Ich habe versucht, Sie rücksichtsvoll zu behandeln«, sagte er. »Sie brauchten nichts weiter zu tun, als Ihre Reise zu genießen, Ihren Champagner zu schlürfen und ruhig nach Hause zu gehen. Jetzt muss ich Ihnen zeigen, was es bedeutet, wirklich zu fliegen.«

Colon wandte sich an die Männer, die Paul überwältigt hatten.

»Schmeißt ihn raus. Wir werden allen erzählen, dass er zu nah dran war und ausgerutscht ist.«

Die Männer hoben Paul hoch und zerrten ihn in Richtung der Öffnung. Paul wehrte sich, drehte und wendete sich, trat und schlug um sich. Seine Größe war ein Vorteil, ebenso wie seine Entschlossenheit, sich nicht über die gelbe Linie schleifen zu lassen.

Er riss mit den Armen zwei Männer zu sich, die aufeinanderprallten. Einer verlor den Halt, der andere umklammerte Paul weiter, bis dieser ihn zu Boden schleuderte. Als er die beiden los war, rammte Paul einem Dritten seinen Ellbogen gegen den Kopf. Doch schon eilten weitere Besatzungsmitglieder herbei, und dann waren es zu viele, als dass er sie hätte bezwingen können.

Einer der Männer trat ihm von hinten in die Kniekehlen und warf ihn zu Boden. Ein anderer nahm ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn neben sich her. Paul sah die gelbe Warnlinie nur noch Zentimeter entfernt. Danach waren bloß noch drei Fuß Deck übrig. Als sie ihn weiter stießen, geriet er erst in Panik und wurde dann plötzlich stinksauer. Wenn er nicht kämpfen konnte, würde er eben so viele von ihnen wie möglich mit in die Tiefe reißen. Doch dann kam ihm ein besserer Gedanke. Er sah eine Möglichkeit, Colons Ängste gegen ihn zu verwenden.

»Wir wissen, dass Sie hinter den Drohnenangriffen stecken!«, rief Paul. »Wenn ich verschwinde, werden hundert FBI -Agenten dieses Schiff bei der Landung in San Diego erwarten. Und wenn Sie irgendwo anders hinfliegen, wird Interpol Sie trotzdem verfolgen. Es ist vorbei. Sie sollten lieber darauf verzichten, auch noch einen Mord zu Ihrer Liste von Verbrechen hinzuzufügen.«

Colon beugte sich zu Paul. »Sie sind schockierend naiv, wenn Sie glauben, dass Mord nicht längst auf meiner Liste steht. Und glauben Sie mir, sobald wir San Diego erreicht haben, werden weder das FBI noch die CIA oder gar das US -Militär überhaupt noch in der Lage sein, meine Pläne zu vereiteln.«

Das bedeutete, dass sich der Vorhang bald heben würde. Was auch immer Colon plante, in den nächsten Tagen würde es gewiss geschehen. Wenn er nicht in den Tod gestürzt werden wollte, musste Paul einen Weg finden, diese Information weiterzugeben.

Informationen weitergeben!, dachte er. Ja, natürlich.

»Ich muss mich jede Nacht zurückmelden!«, rief er. »Wenn ich mich nicht bei meinen Vorgesetzten melde, ist dieses Luftschiff noch vor dem Morgengrauen von amerikanischen Militärflugzeugen umzingelt.«

Colon zögerte, während er offensichtlich herauszufinden versuchte, ob Paul bluffte. Schließlich entschied er, das Risiko lieber nicht einzugehen. Er wandte sich an Yago. »Bringen Sie ihn nach unten … Und behandeln Sie ihn angemessen.«

Das gefiel Paul ebenso wenig – auch wenn es besser war, als ohne Fallschirm aus dem Luftschiff geworfen zu werden. Er konnte sich noch einmal losreißen, aber bevor er auch nur in die Lage kam, einen Hieb zu landen, krachte ein Schraubenschlüssel auf seinen Hinterkopf.

Paul sah Sterne, alles wurde dunkel, und er spürte noch, wie er fiel. Als er auf dem Deck aufschlug, war er bereits bewusstlos.