1
Marie erschrak, als sie plötzlich merkte, sie würde in die Tiefe stürzen. Es war, als täte die Erde sich auf. Reflexartig versuchte sie, mit den Händen irgendetwas zu greifen, woran sie sich festhalten könnte. Sie griff ins Leere. Angst und Panik überkamen sie. Was war denn nur geschehen? Und dann fiel sie. Wohin? Halt suchend, ruderte sie mit Armen und Beinen, rang nach Luft, wollte schreien. Vergebens. Keinen Ton brachte sie aus ihrem weit aufgerissenen Mund.
Hilflos sank sie in dieses endlose Nichts. Das blanke Entsetzen lähmte ihre Sinne. Die Glieder wurden starr. Ihr Körper war von einem schrecklichen Schmerz durchzogen. Sie fiel – schwerelos – konnte nicht mehr denken.
Irgendwann fühlte sie einen kalten Boden unter ihren nackten Füßen. Sie schaute nach unten und sah sich auf einem Mosaiksteinboden stehen. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie und vertrieb die Panik und den Schmerz. »Ich falle nicht mehr», ging es ihr durch den Kopf. Sie konnte wieder denken, aber längst nicht begreifen, was hier eigentlich mit ihr geschah. Wie konnte es sein, dass sie heil hier angekommen war? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Ängstlich blickte sie sich um und erkannte im düsteren Licht schemenhaft die Wände eines großen Raumes. Er musste wirklich riesig sein, wie eine Halle, denn sie stand weit weg von den Mauern. Hoch über ihr wölbte sich eine silbern glänzende Decke, in der sie nur undeutlich das verzerrte Spiegelbild des Bodens erkennen konnte.
Plötzlich wurde die Halle von einem flackernden Licht erhellt. In einem wuchtigen Kamin, weit vor ihr an der Wand, loderte ein Feuer auf. Kerzen auf prächtigen, schmiedeeisernen Wandarmen entzündeten sich wie von Geisterhand. Nun war Marie in der Lage, die ganze Größe des Raumes zu erfassen. Er wirkte wie ein riesiges Kirchenschiff. Das hohe Gewölbe wurde von schweren Säulen getragen. Dazwischen thronten auf halbhohen Sockeln dämonenhafte Statuen mit Fratzengesichtern, die im Licht der Kerzen und des Kaminfeuers gespenstische Schatten auf den Boden und die Wände warfen. Das Mosaikbild des Fußbodens konnte Marie nicht deuten, es sah aus wie eine seltsame Landschaft aus der Vogelperspektive. Marie hatte das Gefühl, über dieser Szenerie zu schweben.
In einigem Abstand vor dem Kamin stand ein wuchtiger, reich verzierter Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem ein schweres Buch aufgeschlagen lag. Und davor, saß da eine Gestalt? Oder war es nur ein Schatten? Nein, es sah aus wie der finstere Eingang eines Tunnels in den Umrissen eines Monsters. Marie wich vor Schreck einen Schritt zurück, als sie darin eine fremdartige Kreatur erkannte. Sie hatte weder Gesicht noch Körper, war nur ein schwarzes Etwas. Sie hatte den Eindruck, durch sie hindurch in eine unendliche Leere zu blicken, ins Nichts, in einen endlosen Abgrund. Marie schauderte es.
«Du bist auserwählt», sagte die Gestalt mit ruhiger, aber kräftiger Stimme, «du gehörst jetzt mir.» In dem hohen Raum klang es so, als würde sie von der Kanzel einer Kathedrale sprechen.
Marie wollte zurückweichen, ihre Beine fühlten sich jedoch an wie Betonklötze. Sie kam nicht von der Stelle.
«Ich bin Luzifer. Komm näher!» Die Kreatur streckte ihr die Hand entgegen und winkte sie heran. «Komm! Hab keine Furcht.» Marie rührte sich nicht. Es graute ihr vor diesem unbegreiflichen Wesen. Was kann das nur sein, dachte sie. «Du wirst gehorchen.» Die Stimme wurde härter. Marie spürte plötzlich eine Kraft im Rücken, die sie nach vorne schob. Sie stemmte sich dagegen, konnte sich aber nicht widersetzen. Als sie vor ihr stand, erhob die Kreatur sich aus dem hölzernen Sessel, nahm das Buch und hielt es ihr vor. Sie erkannte eine Liste mit Namen, in dunkelroter Tinte oder Farbe. «Sie sind mit Blut geschrieben», sagte Luzifer, «dein Name wird darunter stehen, mit deinem Blut, damit der Bund geschlossen ist.»
Marie war gelähmt vor Angst und schaute gebannt zu ihm auf. Ihr Mund wurde ganz trocken, und sie zitterte. Luzifer schaute nach oben und brüllte:
«Was meine Besinnung,
dich zu verdammen,
zu nutzen die Gabe,
den Blitz und die Flammen,
andren zum Schaden,
ist nun deine Bestimmung.»
Die Halle vibrierte. Marie hielt sich die Ohren zu. Das Feuer und die Kerzen loderten hell auf. Plötzlich zuckte sie zusammen. Im rechten Zeigefinger spürte sie einen brennenden Stich. Ihre Fingerspitze blutete aus einer offenen Wunde.
«Schreib deinen Namen in dieses Buch!», dröhnte es gebieterisch aus des Teufels Kehle. Willenlos setzte Marie ihren blutenden Finger auf das Papier und schrieb jeden Buchstaben unter Schmerzen. Sofort durchzog ein Brennen ihren Körper, und eine seltsame Energie durchströmte sie. Wie von selbst breiteten sich ihre Arme aus, und ihr Blick ging nach oben. Sie traute ihren Augen kaum. An der gewölbten Decke entstand aus der verzerrten Spiegelung des Mosaikbodens ein erkennbares Bild. Marie sah einen Berg, der ihr bekannt und vertraut vorkam: Es war das Brockenplateau, und sie schien vor dem Hexenaltar zu stehen. Gebannt starrte sie hinauf.
Dann verlor sie auf einmal wieder den Boden unter den Füßen und stürzte erneut in die Tiefe. Marie schrie so laut sie konnte.
* * *
Das Licht ging an. Marie saß mit Herzrasen im Bett und hielt ihren blutenden Finger. Er tat fürchterlich weh. Schweißtropfen rollten von ihrer Stirn und vermischten sich mit den Tränen, die in ihren Augen standen.
«Marie, mein Schatz, was ist denn?» Ihre Mutter kam zur Tür herein, setzte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. Marie legte den Kopf auf ihre Schulter, weinte laut auf und schluchzte. Es tat gut und befreite von der Angst und dem Schmerz.
«Es ist alles in Ordnung, Liebes. Du hast nur geträumt», versuchte ihre Mutter, sie zu beruhigen. Dann sah sie das Blut an Maries Hand und auf dem Bettlaken.
«Oh, Schatz, du blutest ja, was ist passiert?», fragte sie und hielt rasch ihre Hand unter Maries, damit nicht noch mehr aufs Bett tropfte. «Lass uns gleich ins Bad gehen, wir müssen den Finger verbinden.»
Sie gingen zusammen die Treppe hinunter. Die Hand ihrer Mutter war bereits voller Blut. Unten im Flur stand Maries Vater im Schlafanzug und Hauslatschen.
«Was ist denn los?», fragte er gähnend und kratzte sich in den strubbeligen, schon leicht ergrauten Haaren, «wie spät ist es?»
«Schnell, Torsten, hol den Verbandkasten aus dem Schrank. Marie blutet. Wir brauchen ein Pflaster.»
«Wieso blutet sie, was um Gottes Willen ist passiert?», er war nun hellwach, lief ins Bad und kramte das Verbandszeug aus dem Badezimmerschrank. Einige Toilettenartikel fielen dabei polternd zu Boden. Marie hielt ihren Finger über das Waschbecken, ihre Mutter drehte den Hahn auf. Das Wasser verfärbte sich rot.
«Ein Pflaster reicht nicht», sagte ihr Vater, «die Wunde muss richtig verbunden werden.» Er kramte in dem Holzkästchen herum und holte eine Mullbinde und Wundauflagen heraus. Dann tupfte er die Verletzung vorsichtig mit Desinfektionsmittel ab und legte einen Verband an. «Alles okay, Kleines?», fragte er Marie und strich ihr mit der Hand über das feste, leicht rötlich schimmernde Haar, das sie immer ziemlich kurz trug.
«Ja, ja, Papa, geht schon.»
«Und du, Heike?» Er sah seine Frau an, die ziemlich blass im Gesicht geworden war. «Setz dich auf den Hocker, damit du nicht noch aus den Latschen kippst. Ich mach das hier.»
«Ich kann einfach kein Blut sehen, Torsten», sagte sie und setzte sich auf den Hocker.
«Sooo, fertig.» Zufrieden betrachtete Maries Vater den Verband. «Sieht doch ganz ordentlich aus, oder? Tut’s noch weh?»
Marie hielt ihren dick verbundenen Zeigefinger hoch. «Es puckert ein bisschen», antwortete sie, sah dabei in den Spiegel und erschrak. Was war mit ihren Augen geschehen? Ein seltsam heller, leuchtender Glanz lag darauf. Marie rieb sie mit den Händen und schaute noch einmal hin. Es veränderte sich nichts. Sie blinkerte ein paar Mal. Keine Veränderung. Dann drückte sie die Lider ganz fest zu und öffnete sie wieder. Das Leuchten blieb.
Marie beugte sich zu ihrer Mutter, die noch bleich dasaß und fragte mit zittriger Stimme: «Mama, ist da etwas mit meinen Augen?»
«Was soll damit sein, Kleines? Nein, da ist nichts. Du hast wunderschöne blaue Augen, nur etwas verweint.»
Maries Herz klopfte wieder schneller. Sie konnte es nicht verstehen. Ihre Mutter musste das doch auch sehen.
«Papa? Guckst du mal?»
Ihr Vater nahm zärtlich ihren Kopf zwischen seine Hände und schaute sie mit einem Lächeln an. «Hasilein, du hast die schönen Augen deiner Mutter. Es ist alles in Ordnung damit. Ich mache mir eher Sorgen um deine Verletzung. Wie ist das denn nur passiert?»
«Ich weiß es nicht», antwortete Marie mit weinerlicher Stimme, «wirklich nicht. Ich hatte einen Alptraum, der mir große Angst gemacht hat. Dann war da dieser Schmerz und ich bin aufgewacht.»
«Wovon hast du geträumt?», wollte ihre Mutter wissen.
«Ich kann mich nicht erinnern.» Marie legte ihren Kopf auf Torstens Schulter und schluchzte leise.
«Nun lass mal gut sein», sagte ihr Vater ruhig und drückte sie an sich, «vielleicht hast du dir im Schlaf auf den Finger gebissen. So was soll ja vorkommen. Lasst uns jetzt wieder ins Bett gehen. Morgen ist dein Geburtstag, und zur Schule musst du auch.»
«Morgen ist schon heute», wandte ihre Mutter ein, «es ist bereits nach Mitternacht.» Sie nahm Marie in den Arm. «Herzlichen Glückwunsch zum 13. Geburtstag, mein Schatz.» Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
«Na ja, es sieht ja nicht so aus, als sei 13 deine Glückszahl, nach diesem nächtlichen Blutbad», flachste ihr Vater, «trotzdem, auch von mir alles Liebe, mein Kleines. Geschenke gibt’s aber erst nach dem Frühstück.»
Ach ja. Ihr Geburtstag, den hatte sie in der Aufregung ganz vergessen. Bei dem Gedanken fühlte sie sich besser.
Maries Mutter holte frische Bettwäsche, ging mit ihr nach oben und bezog das Bett neu. Marie konnte jedoch nicht gleich einschlafen. Was war nur mit ihren Augen?
* * *
Durch die Schlitze der Jalousie fiel Sonnenlicht in Maries Zimmer und zeichnete ein Streifenmuster auf den Boden und das gegenüberliegende Wandregal, was ziemlich überfüllt war mit Büchern, Spielekartons und Plüschmonstern. Von der alten Wandpendeluhr, die Marie von ihrer Großmutter Hilde geerbt hatte, klang ein zartes «Bimm», das eine halbe Stunde verkündete. Marie sah auf den Digitalwecker, der auf dem Nachttisch stand. Erst halb Sieben. Gut, ging es ihr durch den Kopf, genug Zeit, um ohne morgendlichen Stress zum Schulbus zu kommen.
Sie gähnte ausgiebig und reckte sich. Ihre Augen fielen ihr plötzlich wieder ein. Sie zog die obere Schublade ihres Nachttisches auf und holte einen runden Handspiegel heraus. Den brauchte sie manchmal, um vor dem Schlafengehen etwas Salbe auf die Pickel aufzutragen, die sie in letzter Zeit häufiger ärgerten. Sie zauderte etwas, bis sie hineinsah. Es hatte sich über Nacht nichts verändert. Immer noch dieser auffallend schimmernde Glanz in den Augen. Wenn sie nur nicht so leuchten würden, sähen sie ganz schick aus und andere Mädchen würden mich darum beneiden, dachte Marie, aber es scheint ja außer mir niemand zu sehen. Mama und Papa hätten es doch sonst bemerken müssen. Warum sehen sie es nicht? Marie war ziemlich verstört und unterdrückte die aufkommenden Tränen. Sie hatte keine Erklärung dafür, und das machte ihr große Sorgen. «Hoffentlich geht das bald wieder weg», sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Marie fühlte sich nicht krank dabei, ganz im Gegenteil, eher frisch und munter, und gucken konnte sie genauso gut wie immer.
Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hauslatschen und ging die Holztreppe hinunter. Es roch nach Kaffee und Toast. Als Marie die Küche betrat, stellte ihre Mutter die Kaffeekanne auf dem Tisch ab und drehte sich zu ihr um. «Guten Morgen, Geburtstagskind», begrüßte sie Marie, drückte sie und strich ihr sanft durch das strubbelige Haar. Ihr Vater, der auf der Eckbank unter dem Küchenfenster saß, legte die Zeitung zur Seite, stand auf und umarmte Marie ebenfalls. «Alles Gute für dich, mein Schatz. Was macht dein Finger?»
«Tut nicht mehr weh», beruhigte sie ihn.
«Schön», sagte Torsten. «Geh und mach dich erst mal fertig und hinterher seh ich mir deinen Finger noch einmal an.» Marie ging ins Bad und wickelte den Verband ab. Die Wunde sieht aus wie der Buchstabe L, stellte sie nebenbei fest. Ein Pflaster würde jetzt reichen, denn sie hatte sich gut verschlossen. «Eine kleine Narbe wird wohl bleiben und dich immer an diesen besonderen Geburtstag erinnern», meinte ihr Vater später, als er sich den Finger ansah. Wie Recht er damit hatte, konnte er zu diesem Zeitpunkt kaum erahnen.
«So, nun lasst uns erst einmal frühstücken», schlug Heike vor, «und danach wartet eine Überraschung auf dich, Marie. Torsten steckst du bitte die Kerze für Marie an?», bat sie ihn im gleichen Atemzug. Vor Maries Platz stand eine weiße Geburtstagskerze in einem kleinen Porzellanständer, der mit einem Kranz aus künstlichen Blumen geschmückt war. Heike legte großen Wert auf solche Rituale. «Besondere Anlässe brauchen auch einen besonderen Rahmen», sagte sie.
«Oder eine besondere Kerze», scherzte Torsten und kramte eifrig in einer Schublade herum. «Wo ist denn das Feuerzeug?»
«Sonst lag es doch immer im Schrank», wunderte Heike sich, «in der linken Schublade oben.»
«Ja, sonst, aber heute leider nicht. Wo hast du es wieder hingelegt?»
«Wieso ich? Wer braucht es denn meistens? Du musst mal richtig gucken!», verteidigte sich Heike und war auf dem Weg zum Küchenschrank. Nun wühlten beide in den Schubfächern herum, konnten aber weder Streichhölzer noch Feuerzeug finden. Typisch Mama und Papa, schmunzelte Marie in sich hinein und sah die Kerze vor sich an. Ein Licht, das nicht brennt, dachte sie, wirkt so leblos, wie ein Kamin ohne Feuer.
Dann passierte es. Für einen kurzen Augenblick spürte Marie ein leichtes Kribbeln in den Augen. Es fühlte sich an wie ein schwacher elektrischer Strom, der aus ihnen herausfloss. Für einen Moment sah sie alles in ihrem Blickfeld viel heller und klarer. Es war nicht unangenehm, nur fremdartig und seltsam. Als das sonderbare Kribbeln abrupt endete, brannte plötzlich die Kerze. Marie starrte sprachlos auf das züngelnde Flämmchen vor ihr. Sie schluckte. Das gibt es doch nicht, durchfuhr es sie, vielleicht war das eine Trickkerze, die Papa sich als Geburtstagsspaß ausgedacht hatte. Manchmal überraschte er ja Marie oder ihre Mutter mit solchen lustigen Spielchen, so wie neulich, als er Marie mit einem Trickwürfel, der nur Sechsen würfelte, beim Kniffeln verblüffte. Ja, das musste es sein. Marie lachte. «Eh, super Papa, wie hast du das gemacht.»
«Was gemacht?» Er unterbrach das Suchen und sah zu Marie, die auf die brennende Kerze zeigte. «Du kleiner Schlawiner, du. Hast das Feuerzeug versteckt, und wir suchen uns schwindelig. Na, dann können wir ja endlich frühstücken», sagte er und setzte sich zurück auf die Eckbank.
«Nun tu mal nicht so, Papa, ich kenne dich doch. Das war wieder einer deiner Scherzartikel. Gib’s zu!» Heike brachte den Kaffee und eine Tasse Kakao für Marie.
«Diesmal wirklich nicht, ehrlich. Aber das Feuerzeug legst du nachher wieder an seinen Platz. Okay?», antwortete er, nahm sich eine Scheibe Toast, angelte mit der Messerspitze etwas Honig aus dem Glas und bestrich sie damit.
«Ich habe aber kein …» Marie sprach nicht weiter. Sie griff das Honigglas und tauchte einen Löffel hinein. Dann ließ sie den Honig in Kringeln auf ihren Toast fließen und kam ins Grübeln über die wundersame Kerzenflamme. Kein Scherzartikel von Papa, kein Feuerzeug und trotzdem brennt die Kerze. Komisch, sehr komisch sogar. Vielleicht Zauberei, oder ein Wunder?, dachte Marie ziemlich irritiert und starrte vor sich hin.
Ihre Mutter bemerkte wohl, dass Marie etwas bedrückte. «Ist alles in Ordnung mit dir, Marie? Tut der Finger wieder weh?»
«Nein, nein, Mama. Alles okay», antwortete sie rasch, aber sie fühlte, dass an diesem Morgen etwas anders war, genau genommen schon seit letzter Nacht. Es passierte etwas, wofür sie absolut keine Erklärung fand. Was geschieht hier eigentlich?, dachte sie, ich verstehe das nicht. Alles war so unwirklich. «Bekomme ich jetzt meine Überraschung?», fragte sie, um sich von diesen Gedanken zu befreien.
«Na klar! Dann geh mal ins Wohnzimmer», forderte ihre Mutter sie auf.
Marie lief gleich los. Ihre Eltern folgten ihr. Vor dem breiten Terrassenfenster stand ein nagelneues Trekkingrad mit 27-Gang Kettenschaltung und hydraulischen Scheibenbremsen. Um den Lenker war eine große rote Schleife gebunden. Marie testete gleich die Lenkergriffe und probierte die Klingel und die Bremshebel. «Oh, toll, Mama und Papa», rief sie begeistert, «das habe ich mir so gewünscht. Danke!» Sie ging zu ihren Eltern und umarmte sie voller Freude. Ihre bedrückenden Gedanken waren verschwunden. Alles schien nun wieder gut und normal zu sein.
«Du hast noch etwas übersehen. Sieh mal auf dem Gepäckträger!», sagte Torsten. Dort lag ein kleines Päckchen. Marie öffnete es und holte ein dunkelblaues Sweatshirt heraus, das Heike selbst genäht hatte. Die Bündchen waren rot-grün gestreift, und ein grünes Monsterbild war aufgestickt.
«Oh super, das sieht ja so toll aus, Mama. Ich zieh es gleich heute zur Schule an. Die anderen werden Augen machen.» Marie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, streifte sich das Sweatshirt über, ging zum Spiegel an der Flurgarderobe und betrachtete sich von allen Seiten. Sie gefiel sich darin. Ein Glück, dass ihre Mutter so schöne Sachen nähen konnte. Fast jede freie Minute verbrachte sie an der Nähmaschine. Wenn Torsten, der Lokführer bei den Harzer Schmalspurbahnen war, Spätschicht hatte, saß sie in ihrem kleinen Nähzimmer im Dachgeschoss. Sie arbeitete halbtags im Alten- und Pflegeheim als Küchenhilfe, und so blieb ihr genügend Zeit für ihr nützliches Hobby. Es machte sie immer sehr stolz, wenn Marie oder Torsten die selbstgenähten Sachen trugen. Marie wurde in der Schule oft für ihre einzigartigen Klamotten bewundert. Sie strahlte und fühlte sich wohl in diesem Augenblick.
«So, nun müssen wir uns aber langsam fertigmachen», erinnerte Maries Mutter daran, dass dieser Freitag nicht nur Geburtstag, sondern auch noch ein Arbeitstag und Schultag war. Sie gingen wieder zurück in die Küche. Heike schmierte Brote zum Mitnehmen für Marie und ihren Mann.
Dann hörten sie die Gartenpforte quietschen. «Felix kommt», rief Marie und sprang auf.
Ihr Vater blickte erstaunt über die Zeitung und fragte: «Woher willst du das wissen?»
«Das höre ich am Quietschton der Gartenpforte», behauptete Marie und ging hinaus in den Korridor.
«Ach ja, wirklich?», fragte Torsten ziemlich verwundert. «Na, mit der Nummer könntest du im Fernsehen bei Wetten dass auftreten», meinte er und frotzelte weiter: «Wetten, dass Marie Stöber am Quietschen der Pforte erkennt, wer zu Besuch kommt?» Er musste laut lachen.
«Wetten dass!», erwiderte Marie. Es klingelte, und als sie die Haustür öffnete, stand draußen Felix.
«Alles Gute zum Geburtstag, Marie», sagte er, umarmte sie flüchtig und gab ihr ein kleines eingewickeltes Geschenk in die Hand. «Was ist mit deinem Finger passiert», wollte er wissen, als er ihren Verband bemerkte.
«Weiß ich selber nicht genau, erzähle ich dir nachher.» Marie und Felix waren Freunde, ebenso wie ihre Eltern, die sich eine halbe Ewigkeit kannten. Maries und Felix’ Vater waren zusammen in die Schule gegangen und hatten so manche Jungenstreiche gemeinsam ausgeheckt. Ihre feste Freundschaft verband auch später ihre Familien. Marie und Felix hatten schon als Kleinkinder zusammen gespielt und verstanden sich immer noch gut. Felix war zwei Jahre älter als Marie und für sie wie ein großer Bruder. Sie konnte sich jederzeit auf ihn verlassen, besonders wenn sie mal Hilfe in der Schule brauchte. Entweder zur Nachhilfe oder wenn einige zickige Mitschülerinnen sich mal wieder über ihre drei Sommersprossen auf der Nase und die struppigen Haare lustig machten. Zwei Wirbel am Hinterkopf ließen jeden Frisierversuch scheitern und hatten schon so manchen Friseur zur Verzweiflung gebracht. «Du hast eine einzigartige Naturfrisur», sagte ihre Mutter immer. «Ich mag dich so leiden», tröstete Felix sie immer, wenn sie gehänselt wurde, «das ist sowieso die einzige Frisur, die dir steht.» Felix wohnte auch in Schielo, am Hutberg, nicht weit von den Stöbers weg, die in der Schulstraße ihr Haus hatten.
Marie wickelte das kleine Geschenk aus und freute sich über ein giftgrünes Plüschmonster und das kleine Büchlein «Aufstand der Monster«. «Danke, Felix, das passt gut zu meinem neuen Pulli.» Marie zeigte auf die aufgestickte Figur. «Auf das Buch bin ich sehr gespannt», fügte sie hinzu. Wie Marie auf diese ausgefallene Sammelleidenschaft für skurrile bis kitschige Plüschfiguren kam, wusste sie selbst nicht so genau. Sie fand sie jedenfalls niedlich und kein bisschen hässlich. Marie zog Felix an der Hand ins Wohnzimmer und präsentierte ihm stolz das neue Fahrrad.
«Wow, echtes Hammerbike», staunte Felix und begutachtete es von allen Seiten. «Wir sollten mal wieder eine Tour machen», sagte Felix, während sie gemeinsam in die Küche gingen. «Hallo», grüßte er freundlich. Heike und Torsten fingen an zu kichern und mussten dann laut loslachen. «Was gibt es denn zu lachen», fragte Felix etwas verstört.
«Lacht ihr über mich?»
«Nein, Felix, entschuldige», sagte Heike, «wir lachen wegen einer lustigen Wette, die Marie gerade gewonnen hat.»
«Verstehe ich nicht», antwortete Felix.
«Musst du auch nicht. Ich erklär’s dir im Bus. Wir sollten jetzt los», drängelte Marie.
«Schreibt ihr heute nicht eine Mathearbeit?», erkundigte sich ihr Vater noch schnell.
«Ja leider», nörgelte Marie, «ich hasse Mathe.»
«Bitte streng dich an, du weißt, was auf dem Spiel steht», ermahnte er sie im ernsten Ton.
Marie wollte nach dem Realschulabschluss weiter zum Gymnasium gehen und danach gerne Lehrerin werden, aber dazu musste sie ihre Noten deutlich verbessern. «Ich gebe mein Bestes», versprach sie, nahm ihren Schulranzen und pustete ihre Geburtstagskerze aus. «Vergiss die Schokoküsse für deine Klasse nicht!», rief ihre Mutter und drückte ihr eine Plastiktasche in die Hand. Dann verließen sie die Küche. In der Tür schaute Marie noch einmal zurück. Die Kerzenflamme blieb erloschen, eine kleine, dunkle Rauchfahne stieg leicht gekräuselt über dem Docht auf.
* * *
Auf dem Weg zur Bushaltestelle hatte Marie so ein merkwürdig beklemmendes Gefühl, beobachtet zu werden, das sie sich nicht erklären konnte. Sie blieb stehen und schaute zurück, ob ihnen jemand folgte. Aber niemand war zu sehen.
«Was ist denn?», fragte Felix verwundert.
«Ach, nichts», wiegelte sie ab und ging weiter. Ein Stück nur, dann stoppte sie erneut, denn etwas, was sie nicht benennen konnte, drängte sie, nach oben zu gucken. Direkt über ihnen entdeckte sie einen schwarzen Punkt am wolkenlosen Himmel. Er erinnerte sie an ein Auge, das auf sie herunterschaute. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
«Was ist das da oben, Felix?» Marie zeigte nur auf den Fleck. «Wo ist was? Ich kann nichts erkennen», sagte er und suchte den Himmel ab.
«Na dort, der schwarze Punkt», erklärte Marie.
«Ich glaube, du musst mal deine Augen testen lassen», meinte er. «Ich kann nichts entdecken. Vielleicht war da ein Wetterballon?»
Marie konnte das nicht begreifen. Er sieht es nicht, dachte sie. Was war mit ihren Augen nicht in Ordnung?
Der Schulbus rumpelte und schaukelte auf dem groben und welligen Kopfsteinpflaster des Neudorfer Weges in Harzgerode. Vor dem Schulgelände der Sekundarschule fuhr er über die unbefestigte Wendespur und hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Marie und Felix stiegen mit den anderen aus und gingen geradewegs über den Schulhof in das Schulgebäude.
Es war noch eine von diesen Typenschulen in Plattenbauweise aus DDR-Zeiten mit dem unverwechselbaren Charme einer Kaserne. Daran änderte auch das bunte Graffitibild in der kleinen Pausenhalle nichts, in die man durch den Eingang im Erdgeschoss gelangte. Hier trafen sich die Schüler in den Pausen oder vor Unterrichtsbeginn. Nadine Voss, Maries Klassenkameradin, stand dort bereits mit drei weiteren Mädchen. Sie tratschten lauthals miteinander. Als Marie und Felix die Halle betraten, wurden ihre Stimmen leiser.
Marie spürte die Blicke, die sie und Felix musterten. Sie wusste, dass sie mit ihrem neuen Sweatshirt die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zog. Das gab ihr ein Gefühl der Überlegenheit, das sie in diesem Augenblick genoss. Besonders gegenüber Nadine, die jede Gelegenheit nutzte, um Marie zu triezen und zu demütigen. Sie hatte ein Auge auf Felix geworfen und gönnte Marie die Freundschaft mit ihm nicht. Nadine war die Schönheit der Schule, mit ihren langen blonden Haaren, blau-grünen Augen und dunklen Augenbrauen. Die engen Röhrenjeans betonten ihre schlanken Beine und zogen die Blicke der Jungen magisch an. Nur Felix’ nicht. Der interessierte sich mehr für Mathematik und Physik als für hübsche Mädchen.
«Oooh, seht mal, die Mutti hat unserem Wuschelkopf wieder etwas Neues genäht. Na, damit wirst du auch keinen Schönheitspreis gewinnen», stichelte sie und sah Marie abfällig an. Die anderen kicherten. Dann stellte sie sich Felix in den Weg und sagte mit auffordernder Stimme: «Hallo Felix, seh ich dich in der großen Pause?»
«Kann schon sein, dass du mich siehst», antwortete Felix, «ich bin ja nicht unsichtbar. Verabredet bin ich aber mit Marie. Mir ist nämlich ein kluger Wuschelkopf lieber als eine dumme Gans.»
«Pöh!», machte Nadine beleidigt, warf ihren Kopf in den Nacken und drehte sich zurück zu den drei anderen Mädchen.
Felix wandte sich von ihr ab und ging mit Marie die Treppe hinauf zu den Klassenräumen. «Bis nachher, und ärgere dich nicht über diese arrogante Zicke.»
«Die kann mich mal», sagte Marie und öffnete die Tür zu ihrem Klassenzimmer, «trotzdem Danke.»
«Guten Morgen alle zusammen», begrüßte Frau Heinemann ihre Klasse und legte ihren braunen Aktenkoffer auf das Pult. Sie war Mitte 50, etwas rundlich mit brünett gefärbten, halblangen Haaren. Ihr kleiner Mund mit den schmalen Lippen war immer mit hellrotem Lippenstift deutlich überzeichnet. Die schwarze Hornbrille verlieh ihr eine ansehnliche Autorität, die zu ihrem straffen Unterrichtsstil passte. Sie unterrichtete Mathematik, Deutsch und Geographie. Trotz ihrer Strenge war sie nicht unbeliebt, denn sie galt bei ihren Schülern als gerecht und wusste den Unterrichtsstoff interessant und verständlich zu vermitteln.
«Mooorgen», antwortete die Klasse noch etwas verschlafen. Sie ließ die Kofferverschlüsse aufschnappen, nahm das Klassenbuch, ihren silbernen Kugelschreiber und einige Blätter heraus, schloss den Deckel wieder und stellte den Koffer neben das Pult. Dann sah sie Marie an, lächelte und ging auf sie zu. Marie hatte den Fensterplatz in der zweiten Reihe. «Wir freuen uns heute über ein Geburtstagskind», verkündete sie und reichte Marie die Hand. «Herzlichen Glückwunsch und alles Gute.»
«Danke, Frau Heinemann», sagte Marie etwas verlegen und gab ihr die Plastiktasche. «Ich habe für alle Schokoküsse mitgebracht.»
«Die stellen wir in der Pause aufs Pult, dann kann sich jeder bedienen», schlug Frau Heinemann vor.
«Sind die nicht schrecklich ungesund?», wandte Nadine stichelnd ein.
Kann die nicht einfach mal ihren Mund halten, dachte Marie und war sauer. Doch Frau Heinemann antwortete: «Ein oder zwei Schokoküsse werden nicht gleich unsere Gesundheit ruinieren.» Dann bat sie die Klasse aufzustehen und mit ihr das Geburtstagslied «Happy birthday» zu singen. Marie durfte sitzen bleiben. Die Schüler bemühten sich redlich, die Melodie zu treffen, aber es klang eher wie ein ungleichmäßig gekurbelter Leierkasten mit Chorbegleitung. Marie griente etwas verlegen und schaute in die Runde. Vor ihr links, in der ersten Bank, stand Nadine und blickte stumm zu Boden. Nach dem Lied setzten sich alle wieder.
«Na, ja», kommentierte Frau Heinemann den Chorgesang, «kommen wir lieber zurück zum Unterricht. Ich habe ja für heute einen Mathetest angekündigt.» Ein unruhiges Raunen ging durch die Reihen. In der letzten Bank meldete sich Jürgen mit dem lockeren und vorlauten Mundwerk, der von seinen Mitschülern deswegen «Klassenkasper» genannt wurde.
«Was ist, Jürgen?», fragte Frau Heinemann mit einem festen Blick.
«Ich beantrage, den Test um eine Woche zu verschieben, wegen Benachteiligung durch zu kurze Vorbereitungszeit», sagte er und erntete den Beifall seiner Klassenkameraden.
«Abgelehnt, aber netter Versuch. Du kannst froh sein, dass ich Arbeiten überhaupt ankündige», stellte Frau Heinemann klar und fuhr fort: «Es verschwindet alles vom Tisch. Taschenrechner, Handy und sonstiges elektronisches Gerät. Das würde euch nur ablenken. Lediglich ein Stift, ein Geodreieck und unbeschriebenes Papier dürfen benutzt werden. Vergesst nicht eure Namen auf die Blätter zu schreiben. Es sind sechs Aufgaben. Zeit bis …», sie schaute auf die Uhr, «… fünf nach neun.» Sie schrieb die Abgabezeit noch auf die Tafel, dann verteilte sie die Aufgabenblätter.
Marie nahm mit zittriger Hand das Blatt entgegen und las die erste Aufgabe: Berechne die Unbekannte x: Darunter stand eine Gleichung mit Brüchen. Bruchrechnung war für Marie der Horror, die hatte sie nie richtig kapiert. Sie las die zweite Aufgabe. Vereinfache folgende Summen mit Hilfe der binomischen Formeln. Oh, Gott, dachte Marie, das geht mal wieder voll daneben. Vielleicht die dritte Aufgabe? Zeichne den Graphen folgender Funktion in ein Koordinatensystem. Ich glaube, die kann ich, freute sie sich, nahm ihr Lineal und setzte den Stift an. Aber für die restlichen Aufgaben wusste Marie absolut keinen Lösungsweg. Hilfesuchend blickte sie zu Frau Heinemann, die hinter dem Pult saß und in einem Buch las. Die würde mir jetzt bestimmt nicht helfen, dachte Marie enttäuscht. Ich sollte meinen Berufswunsch noch einmal überdenken, überlegte sie und starrte verzweifelt auf das Aufgabenblatt. Eine will ich wenigstens noch schaffen, nur noch eine, nahm sie sich entschlossen vor, konzentrierte sich von Neuem fest auf die erste Aufgabe und drückte den Kugelschreiber auf das Papier.
Plötzlich spürte sie wieder dieses elektrisierende Kribbeln in den Augen. Nicht schon wieder, flehte Marie im Stillen, bitte nicht jetzt. Doch dann sah sie die Gleichung klar vor sich und erinnerte sich auf einmal genau an ähnliche Übungen, die im Unterricht besprochen worden waren. Wie von Geisterhand geführt, schrieb sie die Lösung auf das Blatt. Marie konnte es nicht fassen. So nahm sie sich Aufgabe für Aufgabe vor. Als sie fertig war, schaute sie sich um. Es war mucksmäuschenstill im Klassenraum, die anderen brüteten noch mit feurigen Wangen über der Arbeit. Frau Heinemann blätterte entspannt in ihrem Buch.
Marie ordnete die beschriebenen Blätter, legte sie vor sich ab und sah auf ihre Armbanduhr. Es war zehn vor neun. Noch so viel Zeit, dachte sie und guckte erleichtert aus dem Fenster in den blauen Himmel dieses schönen Vorfrühlingstages. Sie suchte nach dem merkwürdigen schwarzen Punkt. Er war verschwunden. Ein Flugzeug zeichnete eine weiße Linie auf das tiefe Blau.
Unbegreifliche Dinge waren heute passiert, ging es ihr durch den Kopf. Zuerst der Albtraum, aus dem sie mit einem blutenden Finger und geheimnisvoll glänzenden Augen erwacht war. Dann eine Kerze, die sich selbst entzündete, und nun auch noch eine Mathearbeit, die sich wie von allein schrieb. Das kann doch alles nicht mit rechten Dingen …
«Langsam fertig werden, Zeit ist gleich um», rief Frau Heinemann in den Raum und holte Marie damit abrupt in die Realität zurück. Langsam wurde es wieder lebhaft in der Klasse, es raschelte und polterte. «Bitte abgeben. Nichts geht mehr», sagte Frau Heinemann, ging durch die Reihen, sammelte die Arbeiten ein und verstaute sie in ihrem Aktenkoffer. «Ich denke, nach dieser Anstrengung schmecken Maries Schokoküsse besonders gut», meinte sie dann und stellte die Schachteln geöffnet auf das Pult.
Alle stürmten nach vorne. Sogar Nadine. Offensichtlich war ihre Lust auf eine leckere Süßigkeit größer als ihre Gesundheitsbedenken. Marie blieb auf ihrem Platz sitzen. «Ach, nur diese Billigmarke. Na ja, aber man will nicht unhöflich sein», bemerkte Nadine überheblich und nahm sich einen Schokokuss aus der Packung.
Marie kochte vor Empörung. «Soll sie ihn sich doch ins Gesicht schmieren», sagte sie leise zu sich und sah Nadine wütend und entschlossen an. In ihren Augen fing es wieder an zu kribbeln.
Gerade wollte Nadine den Schokokuss zum Mund führen, da machte ihre Hand eine Bewegung nach oben und drückte ihr den von Schokolade ummantelten klebrig-süßen Schaum genau auf die Nase. Der runde Waffelboden blieb auf ihrer Nasenspitze kleben, die jetzt wie eine Schweinenase aussah. Nadine stand wie erstarrt vor dem Pult und blickte völlig perplex stur geradeaus. Die ganze Klasse brüllte vor Lachen, selbst Frau Heinemann konnte sich ein Schmunzeln hinter vorgehaltener Hand nicht verkneifen, und Nadine lief heulend nach draußen.
Marie aber war nicht zum Lachen zumute. Sie stierte wie geistesabwesend durch die weiße Wand des Klassenraumes hinaus ins Leere und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Diese rätselhaften Ereignisse gingen offenbar von ihr aus. Seit ihre Augen sich letzte Nacht verändert hatten, passierten diese Dinge, die sie zwar wollte, aber die normalerweise gar nicht passieren konnten. Das war wie Zauberei, wie Hexerei, aber so etwas gab es doch nur in Märchen und Geistergeschichten. Angst überkam sie, Angst vor sich selbst. War sie vielleicht geisteskrank? Spielte das kranke Bewusstsein ihr etwas Unwirkliches vor? Ja, so musste es sein, das war die einzige Erklärung: Sie war geisteskrank. Marie erschrak.
Was sollte sie jetzt nur tun? Mit ihren Eltern darüber reden? Nein, bloß nicht, dachte sie. Die würden sie deshalb vielleicht nicht mehr lieben können und sie in eine Anstalt bringen. Wer möchte schon ein geisteskrankes Kind haben? Konnte sie mit Felix darüber sprechen, oder würde er ihr dann aus dem Wege gehen? Marie fühlte sich in diesem Augenblick allein und hilflos. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie aber sogleich mit einem Taschentuch trocknete. Sie wollte nicht, dass jemand fragte, was mit ihr sei, sie hätte sonst wahrscheinlich laut losgeheult. Irgendjemandem musste sie sich anvertrauen und mit ihm darüber reden. Aber mit wem? Felix war ein wirklicher Freund, mit ihm konnte sie über ihre Probleme sprechen. Sie musste es nur richtig vorbereiten, dann würde er es verstehen und weiter zu ihr halten. Sie fasste einen Entschluss.
* * *
Die Gartenpforte sang im vertrauten Quietschton, als Marie von der Schule zurückkam. Mit dem Ranzen in der Hand lief sie über den Kiesweg, der unter ihren Schuhen knirschte, betrat den kleinen Vorbau und ging ins Haus. Es roch intensiv nach Pfannkuchen. «Hi Mama, ich bin da», rief sie im Korridor und drückte die Haustür ins Schloss. Sie stellte ihre Schulsachen neben die Flurgarderobe und ging in die Küche.
«Hallo Schatz, ich habe heute dein Lieblingsgericht gemacht: Pfannkuchen mit Apfelmus.»
«Hab ich längst gerochen. Super», freute sich Marie. Ihre Mutter stand am Herd und goss gerade eine Kelle Teig in die Pfanne. Es zischte laut. Marie bekam einen Kuss auf die Wange. «Sind gleich fertig, kannst dich schon hinsetzen», sagte Heike.
Am liebsten saß Marie an der schmalen Seite der Eckbank. Von hier sah man in den Vorgarten mit den niedrigen Rosenbüschen, die den Kiesweg säumten, und mit dem Mandelbäumchen, das bereits erste Blüten trieb. Und man konnte die Straße beobachten, bis hin zu der dicken Eiche, an dem Platz, wo die Pfarrgasse in die Schulstraße mündete. Die kleine Bank unter der riesigen Baumkrone war ein beliebter Treffpunkt für die wenigen Jugendlichen, die es in diesem beschaulichen Ort noch gab. Man traf sich dort zum Quatschen oder zum Quatschmachen. Sonst war wenig los in den Straßen, man sah immer nur dieselben Autos, dieselben Trecker und dieselben Leute aus der Nachbarschaft. Wen auch sonst, dachte Marie, Schielo ist zu klein, um sich fremd zu sein, und Gäste verlaufen sich selten hierher.
Sie mochte diesen friedlichen Ort, der abseits aller Hektik inmitten von Feldern und Wald lag. Hier war alles so natürlich, so übersichtlich, so sicher und vertraut. Das würde sie gänzlich verlieren, wenn sich herausstellen sollte, dass sie geisteskrank war. Man würde sie in eine Anstalt bringen und ihr Leben völlig verändern. Quälende Phantasien gingen ihr wieder durch den Kopf. Würde Felix weiter zu ihr stehen und ihr helfen? Hoffentlich gelingt es mir, ihm etwas von diesen rätselhaften Erscheinungen zu zeigen, dachte Marie besorgt.
«Marie! ... Mariechen!? ... Hallooo!»
Marie wurde aus ihren Gedanken gerissen und drehte sich um. «Ja, Mama?»
«Was ist los mit dir, du bist so abwesend? Gab’s Ärger in der Schule?»
«Nein, nein, alles in Ordnung, Mama.»
Heike stellte den Teller mit den Pfannkuchen auf den Tisch. «Ein paar müssen aber für Papa übrig bleiben», ermahnte sie Marie, die sich den ersten gleich nahm und dick mit Apfelmus bestrich.
«Wie war der Mathetest?», erkundigte sich Heike. «Eigentlich ganz okay. Ich habe ein gutes Gefühl», sagte Marie und war wieder etwas entspannter, aber sie aß nicht so viel von ihrem Lieblingsgericht wie sonst. Alles war heute anders, sogar die Pfannkuchen. Unablässig gingen ihr wirre Gedanken durch den Kopf. Sollte sie sich vielleicht doch ihrer Mutter anvertrauen?
«Mama», sprach sie ihre Mutter zaghaft an, «ist wirklich nichts mit meinen Augen?»
Heike nahm ihre Hand und sah sie an. «Kindchen, nein. Wirklich nicht. Was soll denn damit sein? Möchtest du vielleicht zum Augenarzt gehen?»
«Kein Arzt, nein», wiegelte Marie rasch ab, «der verpasst mir am Ende eine hässliche Brille. Lieber nicht, ich kann noch gut gucken.»
«Wie du meinst», sagte Heike und räumte das Geschirr weg.
Marie wollte jetzt einfach so schnell wie möglich auf ihr Zimmer und versuchen, noch einmal ohne Feuer eine Kerze zu entzünden. Sie musste herausfinden, was heute Morgen wirklich geschehen war. «Wo sind eigentlich die Teelichter, Mama?»
Heike wunderte sich über diese Frage. «Wozu brauchst du Teelichter?», wollte sie wissen.
«Mensch Mama, lass mich doch einfach mal was ausprobieren, ohne dass ich dir lange Erklärungen abgeben muss», antwortete Marie gereizt.
«Ist ja gut, ich frag ja schon nicht mehr. Sieh mal in Papas Werkstatt im Schrank nach, da müssten welche sein.» Heike räumte den Tisch ab und ergänzte: «Übrigens, heute Nachmittag kommt Felix mit seinen Eltern zum Kaffeetrinken.»
«Schön», antwortete Marie nebenbei und lief zum Hinterausgang. Ein Nebengebäude, das früher einmal ein Schweinestall gewesen war, hatte Torsten zur Werkstatt ausgebaut. Marie schob den Riegel der alten Stalltür zur Seite und ging hinein. Es war düster in dem Raum, der nur kleine Fenster hatte. Staubverschmutzte Spinnweben hingen davor. Auf der betagten Hobelbank lagen allerlei Werkzeuge und Holzabschnitte. Marie öffnete den großen Holzschrank, dessen Tür arg klemmte. Mit einem kräftigen Ruck riss sie die Tür auf. Eine Maus kam plötzlich herausgesprungen und lief panisch auf dem Fußboden herum, bevor sie unter der Werkbank verschwand. Marie erschrak, schrie aus voller Kehle und rannte aus der Werkstatt. Heike, von dem Schrei ebenfalls aufgeschreckt, kam eilig herbei. Marie versteckte sich sofort hinter ihrem Rücken und umklammerte sie.
«Was ist denn los, Marie, hat dich ein Geist erschreckt?»
«Eine Maus, Mama, eine eklige Maus», schrie Marie und konnte sich kaum beruhigen.
«Seit wann ekelst du dich vor Mäusen?» Heike war völlig perplex. «Das ist ja ganz neu. Sonst hast du sie in der Hand gefüttert, sehr zum Ärger von Papa.»
«Ich geh da nie wieder rein», sagte Marie und lief ins Haus. Heike kam nach und brachte die Teelichter mit. Wortlos ging Marie damit auf ihr Zimmer.
Sie schmiss sich aufs Bett und starrte zur Decke. Wieso ekle ich mich plötzlich vor Mäusen?, dachte sie. Der bloße Gedanke an diese Tiere war ihr unangenehm. Was war nur mit ihr los? «Es hört nicht auf, es hört einfach nicht auf. Ich versteh das nicht. Was kommt denn noch alles? Hat sich die ganze Welt gegen mich verschworen?», sagte sie halblaut vor sich hin.
Sie stand auf, stellte das Teelicht auf den Briefbeschwerer aus Marmor und setzte sich entschlossen auf den Schreibtischstuhl davor. Dann blickte sie auf den Kerzendocht und zeigte in einer heftigen Bewegung mit dem Zeigefinger darauf. «Du sollst brennen!», beschwor sie die kleine Kerze. Es passierte nichts. «Teelicht, brenne!», versuchte sie es noch einmal. Kein Flämmchen entzündete sich, und Marie freute sich darüber. Vielleicht hatte ja doch alles eine ganz natürliche Erklärung. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie lehnte sich entspannt zurück und stellte sich vor, wie eine gelbe Flamme über dem Teelicht flackerte.
Sofort spürte sie das Kribbeln in den Augen, es wurde kurzzeitig hell. Der Doch brannte. Marie sprang auf und lief aufgeregt im Zimmer hin und her. «Das gibt es doch nicht. Wie kann das sein? Es ist nur eine Sinnestäuschung, nur eine dumme Täuschung», versuchte sie, sich einzureden. Sie pustete die Flamme aus und probierte es noch einmal. Das Licht flackerte auf. Sie nahm ein anderes Teelicht aus der Packung. Es funktionierte auch damit, stellte Marie bestürzt fest. Ich werd verrückt, dachte sie, nein, ich bin schon verrückt. Sie fing an zu lachen. «Ich bin so verrückt, bestimmt kann ich die Flamme auch löschen, ohne zu pusten.» Sie lachte gekünstelt, blickte auf das Teelicht und sagte: «Flamme erlösche!» Sofort ging die kleine Flamme aus, und eine dünne Rauchfahne stieg auf. «Hah», schrie Marie entsetzt auf. Dann musste sie wieder lachen, aber es war ein weinerliches Lachen. «Ich kann noch mehr», sagte sie und ging im Zimmer auf und ab, «ich kann sie sogar schweben lassen: Kerze, schwebe!» Augenblicklich löste sie sich vom Briefbeschwerer und schwebte wirklich ein Stück darüber. «Neiiiiin!», schrie Marie, schlug die Hände vors Gesicht und schmiss sich weinend aufs Bett. Das Teelicht fiel zu Boden.
Kurz darauf hörte sie Schritte auf der Treppe. Es klopfte an der Tür. «Marie? Kann ich reinkommen?» Sie konnte nicht antworten. Vorsichtig öffnete ihre Mutter die Tür und trat ein. Sie setzte sich neben Marie aufs Bett. «Schatz, was ist denn mit dir?», fragte sie leise und strich ihr übers Haar.
«Nichts, gar nichts. Lass mich in Ruhe, lasst mich alle in Ruhe.» Marie drehte sich um und weinte ins Kopfkissen. Eine Weile blieb Heike sitzen und streichelte Maries Arm, dann ging sie wieder nach unten.
Marie schlief erschöpft ein. Als sie erwachte, war es dunkel. Von der Wandpendeluhr klang gerade das vertraute «Bimm» an ihr Ohr. Marie sah auf den Wecker. Es war halb neun. So spät schon, wunderte sie sich, knipste die Nachttischlampe an und stand auf. Sie hatte noch ihre Sachen an. Auf dem Fußboden lag das angebrannte Teelicht. Sie hob es auf und legte es zurück auf den Schreibtisch. Mit einem Schauder fiel ihr wieder ein, was geschehen war. Ist das alles nur ein schlechter Traum? Leise schlich Marie die Treppe hinunter. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern aus dem Wohnzimmer. Sie sprachen anscheinend über sie. Stufe für Stufe ging sie weiter und lauschte. Im Hintergrund lief der Fernseher.
«Was erwartest du denn von einer Dreizehnjährigen?» Die Stimme ihres Vaters klang ziemlich aufgeregt: «Sie ist in der Pubertät. Wie war das denn bei dir?»
«Ja, ja, du hast schon Recht. Ich hatte immer das Gefühl, nicht verstanden und nicht für voll genommen zu werden. Man fühlte sich in der eigenen Haut nicht mehr wohl und verstand die Welt nicht mehr», antwortete ihre Mutter.
«Siehst du, und das ist sicher auch ihr Problem. Sie will erwachsen sein, wird aber noch wie ein Kind behandelt. In der Schule, zu Hause in der Öffentlichkeit. Mit diesem inneren Konflikt kommt sie nicht klar. Deshalb ihr seltsames Verhalten. Du solltest mal mit ihrer Lehrerin darüber sprechen.»
«Wir müssen vor allem mit ihr sprechen», schlug Heike vor.
«Worüber müsst ihr mit mir sprechen?», fragte Marie, die gerade das Wohnzimmer betrat.
«Hallo Schatz, hast du ausgeschlafen?», sagte ihre Mutter, «wir wollten dich nicht wecken. Annet, Frank und Felix waren da. Sie haben dir noch ein Geschenk mitgebracht. Drüben auf der Anrichte.»
Marie öffnete das Päckchen und hielt einen Fahrradhelm in der Hand. «Oh, super, für mein neues Fahrrad», freute sie sich.
«Sag mal, Marie», begann Heike dann, «geht es dir gut? Können wir etwas für dich tun? Oder möchtest du mit uns reden?»
«Warum sollte es mir nicht gut gehen? Es ist alles in Ordnung», erwiderte Marie abweisend. Sie hatte wirklich keine Lust auf solche Gespräche. Und über ihre eigentlichen Probleme konnte sie mit ihren Eltern sowieso nicht sprechen, zumindest jetzt nicht.
«Ich meine ja nur. Du warst heute manchmal so abwesend und hast schnell überempfindlich reagiert.»
«Gar nicht», entgegnete sie beleidigt. «Ich geh besser wieder ins Bett.»
«Marie, jetzt bleib …» Heike sprach nicht weiter, denn Marie hatte sich schon abgewandt.
«Lass sie. Sie wird sich wieder beruhigen», hörte Marie ihren Vater sagen, als sie das Wohnzimmer verließ. Sie ging nach oben und nahm das kleine Buch, das sie von Felix zum Geburtstag bekommen hatte.
* * *
Marie war früh aufgewacht und ging noch im Schlafanzug nach unten. Ihre Mutter war in der Küche und stellte Tassen in den Geschirrspüler.
«Morgen, Marie. Setz dich, ich mach dir Kakao», sagte sie. Der morgendliche Kakao war für Marie ein Ritual, ohne das kein Tag beginnen durfte.
«Morgen, Mama», grüßte Marie flüchtig zurück. «Morgen, Papa.»
Ihr Vater saß am Esstisch auf der Eckbank und las in der «Mitteldeutschen«. «Morgen, Kleines. Bist ja früh auf heute am Samstag», bemerkte er und blickte über den Zeitungsrand.
«Hast du schon gefrühstückt?», fragte Marie.
«Ja, ich muss bald los. In Gernrode wartet ein Zug auf mich. Hab gleich Fahrdienst.»
«Kannst du mir vorher noch den Sattel vom Fahrrad einstellen? Ich möchte mit Felix nachher eine Probefahrt damit machen», bat Marie.
«Na klar, dann aber bitte jetzt gleich.» Das neue Fahrrad stand noch im Wohnzimmer. Schnell hatte Torsten den Sattel auf die richtige Höhe eingestellt, er war handwerklich sehr geschickt. Schließlich war er zum Schlosser ausgebildet worden, bevor er sich bei den Harzer Schmalspurbahnen als Lokführer beworben hatte. Schon als Kind waren Dampfloks seine große Leidenschaft und sein sehnlichster Berufswunsch war es, sie später einmal zu fahren. Und genau das konnte er nun endlich tun – mit Leib und Seele.
«Seid schön brav, bis heute Abend ihr zwei Hübschen», verabschiedete er sich, gab beiden einen Kuss auf die Wange und setzte seine lederne Eisenbahnermütze auf. Damit sah er richtig fesch und stattlich aus, fand Marie und war stolz auf ihren Papa. Torsten nahm das Fahrrad gleich mit nach draußen in die Garage, die seitlich am Haus angebaut war. Marie sah, wie er mit seinem blauen VW Golf rückwärts aus der Einfahrt fuhr und langsam in die Schulstraße einlenkte. Sie schaute ihm nach, bis er in die Pfarrgasse einbog.
Heike hatte inzwischen eine Tasse Kakao und einen Korb mit frischen Brötchen auf den Tisch gestellt. Sie nahm eines heraus. «Wir beide frühstücken jetzt erst einmal in aller Ruhe», schlug sie vor. «Kommst du nachher mit zum Einkaufen nach Harzgerode?», fragte sie.
«Ja, warum nicht. Ich wollte eh wegen einer CD gucken.» Marie mochte gern Musik von Robbie Willams und war ein großer Fan von Helene Fischer.
«Übrigens, ich musste für heute Mittag eine Vertretung übernehmen und bin erst gegen sieben wieder zurück. Vielleicht ist Papa eher da. Du bist also solange allein.»
«Okay», sagte Marie. Das machte ihr überhaupt nichts aus. Es war ihr sogar recht, wenn sie das Haus für sich hatte, dann konnte sie mal so richtig laut Musik hören, ohne dass jemand meckerte. Aber heute wollte sie sowieso noch mit Felix Fahrrad fahren und bei der Gelegenheit mit ihm reden. Das passte also auf jeden Fall sehr gut.
Ihr Frühstück zog sich noch eine Weile hin. Es war inzwischen neun Uhr geworden. Heike drängte zum Aufbruch.
«Ich rufe nur noch schnell Felix an», sagte Marie, «wegen heute Nachmittag.»
«Ja», meinte Heike, «aber beeil dich.»
Marie nahm ihr Handy und drückte in der Liste der gespeicherten Telefonnummern auf Felix’ Namen. «Hi, Mariechen», hörte sie kurz darauf seine im Lautsprecher verzerrte Stimme, «du alte Schlafmütze. Was war denn gestern los mit dir?»
«Darüber würde ich gern mit dir heute Nachmittag reden, beim Fahrradfahren.»
«Gut. Holst du mich ab?»
«Okay. So gegen zwei.»
«Ganz in wirklich?» Das war Felix’ neckische Standardfrage, wenn er sich versichern wollte.
«Ja. Du nervst», sagte Marie, wie immer nach dieser Floskel, dann legten sie auf.
Marie und Heike machten sich fertig, stiegen in Heikes betagten Opel Corsa, der vor dem Haus parkte, und fuhren los. Kurz vor Harzgerode sah Heike in einiger Entfernung die Warnblinker eines vorausfahrenden Autos.
«Ein Stau! Hier? Wir sind doch nicht auf der Autobahn», stellte Heike fest, «soweit ich weiß, war hier noch nie einer.»
«Es sieht so aus, als hätte es da vorne, im Kreisel, einen Unfall gegeben», sagte Marie.
«Auch das noch, hoffentlich geht’s gleich weiter, sonst wird es knapp.» Heike schaltete ebenfalls den Warnblinker an. Schrittweise ging es voran. Die Polizei leitete den Verkehr an der Unfallstelle vorbei, die kurz hinter dem Kreisel lag.
Immer wieder schaute Heike auf die Uhr. «Wir müssen uns ein bisschen sputen», sagte sie und gleich darauf rief sie entrüstet: «Oh, nee, sieh mal eine Baustellenampel. Auch das noch!» Als sie näherkamen, schaltete die Ampel aber gerade auf grün, und sie konnten die Baustelle zügig passieren.
«Schwein gehabt», freute sich Marie.
Mit einem großen Einkaufswagen eilten sie durch die Gänge des Supermarktes. Samstags war immer viel los, und vor den Kassen bildeten sich lange Schlangen. Heike ließ Marie keine Gelegenheit mehr, bei den Musik-CDs zu gucken. «Tut mir leid, Marie, aber du siehst ja, was hier los ist. Ich fahr dich irgendwann extra noch mal dafür hierher. Okay?»
«Ja, ja, Mama, ist schon gut», sagte Marie, auch wenn sie etwas enttäuscht war. Es dauerte schier unendlich, bis sie schließlich den Einkauf aufs Band legen konnten. Heike schaute ständig auf die Uhr. Am Ende des Bandes packte Marie gleich alles ein.
«So, nun aber nichts wie weg hier», rief Heike erleichtert, als sie die Taschen im Kofferraum verstaut hatte. Sie knallte den Deckel zu, und beide stiegen hastig ein. An der Baustelle hatten sie diesmal kein Glück. Die Ampel sprang gerade auf Rot.
«Das war ja klar», schimpfte Heike, «immer wenn man es eilig hat. Das darf doch nicht wahr sein.»
Marie merkte, wie ungeduldig und nervös ihre Mutter war. Sie wollte unbedingt pünktlich zur Arbeit sein, besonders heute, wo sie die Vertretung machte.
«Nun werd endlich grün, doofe Ampel! Es kommt ja keiner mehr.» Heike fummelte unruhig am Lenkrad herum. Marie war auch schon ganz zappelig und blickte auf das rote Licht. Nun werd doch mal grün, dachte auch sie. Sofort passierte es wieder. Sie spürte dieses Kribbeln. Oh nein, bitte nicht, flehte sie in Gedanken. Sie wollte es unterdrücken und schloss die Augen ganz fest, aber es geschah. Die Ampel schaltete auf grün.
«Na endlich», freute sich Heike und fuhr los. Der Wagen hinter ihr ebenfalls.
«Nein, Mama», rief Marie, sie ahnte das Unheil.
«Es ist doch grün», sagte Heike und fuhr weiter, wegen der Eile etwas schneller als erlaubt. Kurz vor dem Ende der Baustelle kam ihnen plötzlich ein VW Golf entgegen. Heike erschrak und trat mit voller Kraft auf die Bremse. Das andere Fahrzeug bremste ebenfalls, aber ein Zusammenstoß schien unvermeidlich. Panisch riss Heike das Lenkrad nach links und fuhr auf den Gehweg, wo gerade eine Frau mit einem Kind an der Hand ging. Blitzschnell zerrte die das ahnungslose Kleine an die Seite und konnte so ein schlimmes Unglück verhindern. Heike saß wie gelähmt hinter dem Steuer und begriff noch nicht, was eben geschehen war.
Der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeuges stieg aus und stapfte wütend auf ihr Auto zu. Heike stieg aus. Der Mann plusterte sich vor ihr auf: «Sind Sie wahnsinnig? Sie sollten mal Ihre Augen überprüfen lassen. Ich hatte grün!»
Heike konnte noch nicht antworten. Die Frau mit dem Kind schrie hysterisch auf sie ein: «Sind Sie verrückt? Sie hätten fast mein Kind überfahren.»
Das kleine Mädchen schrie ebenfalls. Heike stand da und bekam kein Wort heraus. Inzwischen kam der Mann aus dem nachfolgenden Auto dazu und mischte sich ein.
«Nun mal langsam», sagte er, «unsere Seite war grün, ich kann das bestätigen, deshalb sind wir losgefahren. Wenn Sie auch grün hatten, dann ist wohl die Ampelanlage defekt. Diese Frau trifft keine Schuld. Zum Glück ist nichts weiter passiert. Ich werde das der Polizei melden.»
Der andere Autofahrer sah Heike nun etwas beschämt an und entschuldigte sich. Die Frau nahm ihr Kind auf den Arm und ging einfach weg. Marie traute sich nicht auszusteigen. Sie war entsetzt darüber, was sie gerade angerichtet hatte, und bekam einen dicken Kloß im Hals. Ihr Herz schlug wie wild, sie atmete schwer und versuchte, ihren Schrecken hinunterzuschlucken. Heike beruhigte sich langsam wieder, bedankte sich bei dem Mann, dass er die Situation klären konnte, und stieg wieder ins Auto. Der andere fuhr rückwärts aus der Baustelle heraus und ließ Heike vorbei.
Eine Weile saßen Marie und ihre Mutter stumm im Auto nebeneinander. Beiden steckte der Schock noch in den Gliedern. Schließlich sagte Heike: «Da siehst du, wie schnell etwas passieren kann.» Marie antwortete nicht, einige Tränen rollten über ihre Wangen.
Heike legte ihre Hand auf Maries. «Es ist ja noch mal gutgegangen, Kleines», sagte sie. Sie ahnte ja nicht, was wirklich geschehen war.
* * *
Zu Hause angekommen, setzte Heike Marie und die Einkäufe nur schnell ab und fuhr gleich weiter zur Arbeit. Marie ging auf ihr Zimmer, legte eine CD in ihre Musikanlage und drehte den Regler hoch. Sie warf sich aufs Bett und versuchte, ihre Gedanken mit der lauten Musik zu betäuben. Aber es gelang ihr nicht. Zu vieles kreiste wild in ihremKopf herum. Sie musste an das Kind denken, das durch ihre Schuld fast überfahren worden wäre. Was,wenn ihm etwas passiert wäre? Nicht auszudenken. Große Schuldgefühle plagten Marie. Ich muss das wieder loswerden, egal wie. Was kann ich nur dagegen tun, oder geht es vielleicht von allein wieder weg? Ich bin eine Gefahr für andere. Dieser Gedanke verfestigte sich schließlich wie ein Pfropf in ihrem Hirn. Marie schloss die Augen und versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren. Da merkte sie, dass die CD schon zu Ende war. Sie stand auf und ging nach unten, holte ihr Fahrrad aus der Garage und fuhr zum Hutberg zu Felix.
Die Lohweins wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus, das sie vor einigen Jahren neu gebaut hatten. Es gab immer noch manches am Haus und drum herum zu tun, wofür Frank und Annet viel Freizeit aufwendeten. Frank war Schichtmeister im Metallwerk in Harzgerode, und Annet arbeitete im Schieloer Kindergarten als Betreuerin, in den auch Marie einst gegangen war.
«Na, wie fährt sich dein neues Fahrrad? Und der Helm steht dir ausgezeichnet», rief Frank ihr schon entgegen, als sie angeradelt kam. Er schachtete gerade den Fundamentgraben für einen Zaun aus. Annet, die die Rabatten im Vorgarten auflockerte, blickte auf. Sie legten die Werkzeuge beiseite und gingen auf Marie zu. «Herzlichen Glückwunsch noch nachträglich zum Geburtstag», sagten beide wie aus einem Mund, und Annet drückte Marie fest an sich.
«Danke für den Helm, der sitzt gut», antwortete Marie und umarmte auch Frank kurz.
«Felix ist oben, geh nur rein. Die Haustür ist offen.» Bei den Lohweins durfte sich Marie so bewegen, als gehörte sie zur Familie. Sie mochten Marie wie eine Tochter, die sie selbst noch gerne gehabt hätten. Annet konnte keine Kinder mehr bekommen, und deshalb freuten sie sich über jeden Besuch von ihr.
Kaum hatte Marie an Felix’ Zimmertür geklopft, rief er: «Komm rein!» Als Marie eintrat, sah sie Felix vor einem Block an seinem Schreibtisch sitzen, der unter dem Fenster stand. Der Computer war an. Das Zimmer war geräumig und hell, das hätte Marie auch gerne gehabt, aber sie wohnten nun mal in einem älteren Haus mit kleinen Zimmern. An der Wand, gegenüber vom Fenster, war ein großes Bücherregal, das ziemlich gefüllt war. Hauptsächlich Bücher über Technik und anderer Kram, wovon Marie nichts verstand. Neben der Tür war eine kleine Anrichte, auf der seine Musikanlage stand, die sein Heiligtum war. Selbst Marie durfte sie nur unter seiner Aufsicht bedienen. Auf der anderen Seite standen das Bett und davor ein bequemer Sessel, in dem Marie gerne saß.
«Wir hatten zwei Uhr gesagt, besser du hattest zwei Uhr gesagt», beschwerte sich Felix.
Marie setzte sich in den Sessel. «Gegen zwei habe ich gesagt», erwiderte sie.
«Jetzt ist es aber gegen drei», stellte Felix fest.
«Wie kann man nur so kleinlich sein?», sagte Marie schnippisch, «du nervst schon wieder. Im Moment habe ich andere Sorgen.»
Er drehte sich mit dem Schreibtischstuhl zu ihr.
«Stress zu Hause oder den Mathetest versemmelt?», mutmaßte er.
«Nein, das nicht, viel schlimmer.» Sie versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
Felix sah sie an und bemerkte ihre feuchten Augen. «Scheint ja wirklich ernst zu sein. Spuck’s aus!»
Marie schluckte ein paarmal und bemühte sich um Fassung. Ihre Lippen zitterten. «Was ich dir jetzt sage, muss unter uns bleiben», begann sie stotternd und im Flüsterton, «niemand sonst darf davon erfahren. Das musst du mir schwören. Du weißt, in Schielo sind die Wände dünn. Schwörst du?»
«Na, du machst es aber spannend. Ja, wenn es dir so wichtig ist, dann schwöre ich halt.» Felix hob die Hand zum Schwur. «Was ist denn so geheim?»
Marie musste wieder schlucken und tief durchatmen, dann fuhr sie fort: «Was würdest du sagen, wenn ich dir erkläre, dass ich geisteskrank bin?»
Felix schaute sie verwirrt an. «Dann würde ich sagen, du bist verrückt. Was soll diese blöde Frage?» Felix war sichtlich irritiert.
«Nicht so laut!», sagte Marie und hielt sich den Finger vor den Mund. «Ja, ich bin verrückt», sprach sie weiter, «es passieren durch mich verrückte Dinge.»
«Das stimmt allerdings», bestätigte Felix spontan, «manchmal machst du wirklich verrückte Sachen. Aber das ist doch kein Geheimnis, jeder weiß hier, was für eine ulkige Nudel du sein kannst.»
«Das meine ich nicht, Felix, ganz im Ernst. Es geschehen Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Ich habe Angst.»
«Also Marie», sagte Felix betont, «wenn du verrückt bist, dann bin ich ein Krüppel. Und jetzt hör auf damit. Lass uns lieber Fahrradfahren!» Entschlossen lief Felix zur Tür.
Aber Marie ging ihm nach und fasste ihn am Ärmel. «Komm wieder zurück Felix, ich zeig dir, was ich meine.»
«Verarsch mich nicht Marie, ich finde das nicht lustig.»
Marie griff in ihre Hosentasche, kramte darin herum und holte ein Teelicht heraus. «Also, was du so alles mit dir rumschleppst. Bin gespannt, was das jetzt wird.» Felix setzte sich gespannt in den Sessel, verschränkte die Arme und beobachtete, wie Marie das Teelicht auf den Boden eines fast leeren Glases stellte, in dem Felix immer seine geliebten Lakritzbonbons aufbewahrte, dann ging sie zur Tür und drehte den Schlüssel um.
«Oh», bemerkte Felix und griente, «so geheim?»
«Achte genau auf die Kerze!», sagte Marie. Sie stellte sich hinter den Sessel und konzentrierte sich. Plötzlich flackerte eine kleine Flamme auf.
Sprachlos sah Felix eine Weile auf das Licht. «Ehhh, Hammer. So eine Zauberkerze will ich auch haben.» Er war ganz aus dem Häuschen und wollte sich das Teelicht genauer ansehen.
«Warte, ich bin noch nicht zu Ende», sagte Marie und drückte Felix an der Schulter zurück in den Sessel. Felix saß jetzt ganz ruhig da, drehte eine Haarsträhne um den rechten Zeigefinger zu einer Locke, ließ sie wieder aufspringen und drehte erneut. Das tat er immer unbewusst, wenn er hochkonzentriert nachdachte, angespannt oder aufgeregt war. Marie merkte, wie er fast erstarrte, als sich das brennende Teelicht etwa eine Handbreit über den Glasboden erhob. Dann erlosch das Flämmchen und es fiel polternd auf den Schreibtisch zurück.
«Ist dir jetzt klar, was ich meine?», fragte Marie.
«Das glaube ich einfach nicht», sagte Felix bewundernd, «das ist voll der Hammertrick. Wer so etwas beherrscht, der kann doch nicht geisteskrank oder verrückt sein. Wo hast du das gelernt?»
«Das habe ich nicht gelernt. Das ist ja das Verrückte», erwiderte Marie mit erhobener Stimme, «ich habe auch keinen Zauberkasten dabei, wie du siehst, nur dieses gewöhnliche Teelicht.»
Felix nahm es in die Hand, drehte es in alle Richtungen und suchte nach verdächtigen Spuren oder Hinweisen. Er konnte nichts Außergewöhnliches feststellen.
«Na komm, jetzt tu nicht so. Verrat mir schon den Trick. Ich habe auch Geheimhaltung geschworen. Sonst fänd ich das unfair.»
«Es gibt keinen Trick, versteh doch!», versicherte Marie mit Nachdruck.
«Dann bist du wahrscheinlich ein Naturtalent der Magie. Aber wenn du es nicht verraten willst. Okay! Dann eben nicht.» Felix war sichtlich beleidigt und setzte sich vor den Computer. «Das wollen wir gleich mal sehen», sagte er und gab bei Google «Magische Kerze» ein. Es wurden irgendwelche esoterischen Kerzenrituale aufgezeigt oder Kerzen als Scherzartikel zum Kauf angeboten, die sich nach dem Ausblasen von selbst wieder entzündeten.
«Siehst du», bekräftigte Marie, «es gibt zwar magische Kerzen, aber keine magischen Teelichter. Außerdem ist mein Teelicht geschwebt.»
«Du kannst mich mal», meckerte Felix verärgert, «ich finde das gemein von dir. Ich fühle mich echt verarscht.» Marie war bedrückt und fühlte sich schlecht, schließlich hatte sie Felix nicht hereinlegen, sondern ihm ihre rätselhaften Fähigkeiten demonstrieren wollen. Er aber glaubte immer noch an einen ungewöhnlich guten Trick, den Marie ihm auch gerne verraten hätte, aber es war ja keiner. Nun stand sie mit ihrem Problem doch wieder allein da.
«Gehst du dennoch mit mir radeln?», fragte Marie kleinlaut. «Ich verarsche dich nicht, ehrlich.»
«Ich fühl mich aber so.» Felix war noch ziemlich sauer.
«Tut mir leid, sprich trotzdem mit niemandem darüber. Okay?»
«Okay», sagte Felix im versöhnlichen Ton.
«Ganz in wirklich?», frotzelte Marie.
«Ja, du nervst! Lass uns Rad fahren.»
«Fahr’n wir nach Harze? Mal seh’n, was dort so läuft», schlug Marie vor.
Felix musste lachen. «Was dort so läuft? In Harze? Was soll da schon laufen? Wenn dort überhaupt was läuft, dann vielleicht die Nase oder es läuft irgendetwas quer. Du kannst dir was aussuchen.»
«Ha, ha, ha», lachte Marie gekünstelt, «sehr witzig. Also was ist jetzt?»
«Alles klar», sagte Felix, «wenn es denn sein muss.» Er holte sein Fahrrad aus dem Keller und rief seinen Eltern zu: «Wir fahren mal kurz nach Harze.»
Frank unterbrach seine Arbeit, stützte sich auf den Schaufelstiel und sah seinen Sohn kopfschüttelnd an. «Du meinst nach Harzgerode», verbesserte er ihn.
«Ja, wenn dir das besser gefällt, dann eben Harzgerode», rief Felix zurück.
Annet und Frank grienten sich an. «Tja. Die Jugend ist unsere Zukunft», stellte Frank fest.
«Hoffentlich verstehen wir unsere Zukunft dann noch», meinte Annet. Beide mussten lachen.
«Ich verstehe sogar manchmal die Gegenwart nicht mehr», entgegnete Marie, und das war durchaus zweideutig gemeint.
Endlich stiegen sie auf ihre Räder und fuhren los. Als sie das Waldstück passierten, hielt Marie auf einmal an. «Warum bleibst du stehen?», wollte Felix wissen.
«Sei mal still», sagte Marie, «ich höre hinter uns ein Auto.»
«Das soll gelegentlich auf Landstraßen vorkommen», witzelte Felix. «Siehst du schon wieder Gespenster?»
«Ja, das heißt natürlich nein, aber mir war so, als würden wir schon eine ganze Weile von einem Auto verfolgt», erklärte Marie. Sie schauten sich um und sahen in einiger Entfernung einen roten Ford Fiesta am Straßenrand halten.
«Meinst du die alte Karre da hinten?», erkundigte sich Felix.
«Ja, genau die», bestätigte Marie.
«So schäbig, wie die aussieht, hat sie bestimmt eben den Geist aufgegeben, und der Fahrer ruft gerade den Abschleppdienst», mutmaßte Felix.
Sie fuhren weiter und blickten sich ab und zu um, aber das Auto folgte ihnen nicht. Bis Harzgerode achteten sie nun besonders auf alle Fahrzeuge, von denen sie überholt wurden. Es waren an diesem Samstag nur wenige, unter ihnen ein roter Fiesta. Ob das der Wagen war, den sie zuvor am Straßenrand gesehen hatten, konnten sie nur vermuten. Da Marie sich durch ihn geängstigt gefühlt hatte, merkte Felix sich ihr zuliebe das Kennzeichen. Auf dem Parkplatz vor der Pizzeria in der Unterstraße stellten sie ihre Fahrräder in den Fahrradständer und schlossen sie daran fest. Auf einem der Einstellplätze stand der rote Ford Fiesta. Felix erkannte das Kennzeichen sofort wieder.
«Lass uns eine Runde drehen», schlug Marie vor. Felix steckte seinen MP3-Player in die Ohren, dann gingen sie in Richtung Oberstraße. Marie blieb vor jedem Schaufenster der Modegeschäfte stehen und sah sich die Auslagen an. Felix trottete uninteressiert neben Marie her, wartete vor den Geschäften, solange Marie was zu gucken hatte, und wippte dabei im Rhythmus der Musik von Adolar, seiner Lieblingsband.
Um diese Nachmittagszeit waren nur wenige Leute und Autos unterwegs, und es war ruhig in den Straßen. Bedrückend ruhig. Beängstigend. Wo war Felix? Sie schaute sich um. Er schlenderte, mit den Fingern schnipsend und Grimassen schneidend, direkt hinter ihr. Marie war beruhigt, aber trotzdem glaubte sie, Schritte zu hören. Wieder drehte sie sich um, aber es war niemand zu sehen. Sie gingen weiter, und Marie lauschte angespannt auf jedes Geräusch. Deutlich vernahm sie die Schritte. Wieder hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und wurde unruhig. Am nächsten Schaufenster blieb sie stehen und versuchte in der Spiegelung der Scheibe etwas zu erkennen. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau in einem langen roten Mantel und mit schwarzen Haaren, die unter einem roten Hut mit breiter Krempe hervorfielen. Bewegungslos, ja beinah unheimlich. Mit gesenktem Kopf verharrte sie dort. Die breite Hutkrempe verdeckte ihr halbes Gesicht. Sie war großgewachsen, schlank und wirkte sehr elegant. Die habe ich hier noch nie gesehen, was will die von uns?, dachte Marie.
Dann hob die Person langsam ihren Kopf und sah Marie im Spiegelbild des Schaufensters an. Ihre Blicke trafen sich. Marie war wie elektrisiert und erstarrte. Beide verzogen keine Miene und sahen sich eine Weile direkt in die Augen. Da durchzuckte es Marie wie ein Stromschlag. In den Augen dieser Frau war das gleiche Leuchten wie in ihren eigenen. Sie war wie hypnotisiert, und ihr Herz raste, als wolle es sich selbst überholen.
Marie konnte sich von dem Blick nicht lösen. Dann stupste Felix sie ein paar Mal in die Seite. Er nahm seinen Kopfhörer raus.
«Was ist los? Du bist ja wie versteinert. Bist du von dem Schaufenster fasziniert oder entsetzt?», wunderte sich Felix.
Marie kam wieder zu sich. «Felix», flüsterte sie ihm zu und bemühte sich, dabei unauffällig zu sein, «sieh dir mal ganz kurz die Frau mit dem roten Hut dort auf der anderen Straßenseite an. Aber so, dass sie nichts bemerkt.»
Felix ließ absichtlich seinen Kopfhörer fallen, der am Kabel fast bis zum Boden herunterbaumelte, versuchte, ihn aufzugreifen, drehte sich dabei um und blickte wie zufällig zu der Frau hinüber. «Sehr aufgetakelt, passt eigentlich gar nicht hierher. Was ist mit der?», fragte Felix leise, nachdem er sich zurückgewandt hatte.
«Konntest du etwas Auffälliges in ihren Augen sehen?»
«Nee. Die kann ja vor Schminke sowieso kaum aus den Augen gucken. Doch, warte», sagte Felix dann.
«Ein Leuchten vielleicht?», fragte Marie gleich aufgeregt nach.
«Nee. Kein Leuchten, eher was Abgründiges. Ich mag ihre Augen nicht.»
»Guck noch mal genau hin.»
Felix drehte sich langsam um und blickte nach oben, so als würde er sich für die Dächer der Häuserzeile interessieren. «Sie ist weg», sagte er überrascht und war über ihr plötzliches Verschwinden ziemlich irritiert.
Marie sah ebenfalls hinüber. Wo war sie nur so schnell hin? Sie rannte zurück zum Parkplatz um zu sehen, wo die Frau geblieben war, und konnte gerade noch erkennen, wie der rote Fiesta links in die Schulstraße einbog.
«Was ist denn? Was regt dich an dieser Frau so auf?», fragte Felix, der noch an seinem Kopfhörer herumgefummelt hatte und gar nicht so schnell hinterhergekommen war, als er nun ankam.
«Die war es, die uns mit dem Fiesta verfolgt hat, besser gesagt, mich. Sie hat mich von dem Schaufenster aus die ganze Zeit beobachtet», war sich Marie sicher.
«Du spinnst. Warum sollte sie das tun? Die kennt dich doch gar nicht. Bestimmt ist sie fremd hier, vielleicht in Urlaub oder so. Und so elegant, wie die rumläuft, wäre sie uns in Harze bestimmt längst aufgefallen», entgegnete Felix und ging zu den Fahrrädern. «Lass uns zurückfahren», schlug er vor und öffnete bereits das Seilschloss.
«Und warum hat sie uns dann verfolgt? Als wir angehalten haben, ist sie ebenfalls stehen geblieben. Das sagt doch schon alles», versuchte sie, Felix zu überzeugen.
«Das sagt nur, dass sie gehalten hat. Wahrscheinlich hat sie noch etwas Rouge nachgepinselt. Das machen Frauen manchmal, sogar im Auto», erwiderte Felix.
Marie antwortete nicht mehr. Es hatte keinen Sinn, mit Felix darüber zu streiten. Er wusste für alles immer eine einfache Erklärung. Aus seiner Sicht auch verständlich, dachte Marie, es war wirklich schwer nachzuvollziehen, sie kapierte das alles ja selber nicht. Marie nahm ihr Fahrrad, und sie fuhren ohne viel zu reden zurück nach Hause.
Die Frau ging Marie aber nicht mehr aus dem Kopf. Es gab also noch jemanden mit den gleichen leuchtenden Augen. Was hatte das zu bedeuten? Wie gerne hätte Marie diese Frau kennengelernt und mit ihr darüber gesprochen. Vielleicht gab es ja doch eine natürliche Erklärung dafür? Marie stellte ihr Fahrrad in die Garage, ging auf ihr Zimmer und schaltete ihren Computer an. Während er hochfuhr, steckte sie sich die Ohrhörer ihres MP3-Players ein und hörte laut Musik. Im Internet suchte sie nach Begriffen wie Augenleiden, Augenfarben und dem Augenleuchten bei nachtaktiven Tieren. Sie fand nichts, was auch nur annähernd diese Erscheinung erklären könnte. Es wurde immer mysteriöser. Nur allein die Tatsache, dass es noch jemanden mit demselben Phänomen gab, war für sie beruhigend und aufregend zugleich. Sie wollte diese Frau unbedingt wiedersehen und brannte darauf, mehr von ihr zu erfahren. Sie ahnte noch nicht, wie bald das sein würde.