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Die große Eiche an der Ecke zur Pfarrgasse warf in der späten Morgensonne einen langen Schatten auf die menschenleere Schulstraße. Eine angenehme Ruhe lag über den Dächern von Schielo, nur das aufgeregte Tschirpen von Spatzen tönte durch die leeren Straßen und Gassen an diesem Sonntagvormittag. Es roch nach Essen und Holzfeuer. Aus einigen Schornsteinen stieg grauer Rauch auf. Sonst regte sich nichts. Kein Auto, kein Trecker, keine Tiere, keine Menschen. Auch waren keine Stimmen zu hören, nur ein entferntes Hundegebell erinnerte daran, dass dieser Ort auch bewohnt war. Da kam das blecherne Poltern des Garagentores, das Marie nach oben schob, schon beinahe einem ruhestörenden Lärm gleich.
Sie holte ihr Fahrrad heraus und wollte vor dem Mittagessen noch eine kleine Tour machen. Mit dem neuen Rad machte das Radeln so richtig Spaß. Sie bog in die Pfarrgasse ein, dann links in die Hauptstraße, die um den Dorfteich herum führte, weiter an der Tankstelle vorbei und geradeaus in die Feldflur. Es ging leicht bergan bis zu der Kreuzung, an der eine dachförmige Schutzhütte stand und von dort wieder bergab bis zur Waldspitze. Auf der Betonspur fuhr es sich fast wie von selbst. Die Umstellung von der gewohnten Nabenschaltung ihres alten Fahrrades auf die neue Kettenschaltung brauchte etwas Übung, und dieser Weg mit Steigungen und Gefälle war eine gute Trainingsstrecke dafür. Als sie sich auf der Rückfahrt wieder der Kreuzung näherte, sah sie mitten auf der Fahrbahn eine große schwarze Katze sitzen. Marie bremste leicht ab, um ihr Gelegenheit zu geben, an die Seite zu laufen, doch das Tier blieb sitzen. Marie klingelte. Aber auch das half nicht, die Katze rührte sich nicht von der Stelle.
«Ehh, Mieze, hau ab da oder willst du überfahren werden?», rief sie ihr zu und musste fast eine Vollbremsung machen, um sie nicht doch noch zu erfassen. Sie stellte das Fahrrad am Wegrand auf den Ständer und ging langsam auf die Katze zu. Aus der Nähe sah sie ziemlich verwildert aus, mit zerzaustem Fell und einigen Kampfspuren am Kopf. Marie beugte sich zu ihr hinunter. Sie sah das Mädchen mit ihren großen grünen Augen an und blieb bewegungslos sitzen. Vorsichtig streckte Marie die Hand nach ihr aus, um zu sehen, ob sie sich streicheln ließ. «Na, du Mieze, komm mal her», sagte sie in ruhigem Ton und wollte sie mit dem Finger hinter dem Ohr kraulen. Doch sie wich der Berührung aus, indem sie ihren Kopf wegdrehte
«Ich heiße Brenda», hörte Marie auf einmal eine klare, fast kindliche Stimme. Erschrocken sprang sie auf und blickte sich nach allen Seiten um. Es war niemand zu sehen.
«Bitte nicht erschrecken», sagte die Stimme freundlich. Marie hatte das Gefühl, die Katze spräche mit ihr, aber das konnte ja nicht sein.
«Hallo, wer ist denn da?», rief sie und schaute sich noch einmal um. Dann lief sie zu der Schutzhütte, um nachzusehen, ob sich dort vielleicht jemand versteckt hatte, der sich mit ihr einen Jux machen wollte. Die Hütte war leer. Das gibt’s doch nicht, dachte Marie und ging zurück. Mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die Katze, die immer noch dasaß.
«Bitte nicht erschrecken. Ich bin Brenda und ich kann mit dir sprechen, auch wenn ich nur ein Tier bin», sagte die kindliche Stimme. Marie war wie versteinert und sah die Katze mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Mund wurde ganz trocken, und sie brachte keinen Ton heraus. Geht das schon wieder los, ging es ihr wirr durch den Kopf, es wird ja immer verrückter. Ich bin wirklich nicht mehr normal. Ich bin geistesgestört. Ich bin irre. Plötzlich versagten ihr die Beine, und sie fiel kraftlos auf die Knie.
«Man hat mich geschickt, dich zu belehren», sagte Brenda. «Gestern haben sich seltsame Dinge ereignet, die für dich schwer zu verstehen sind. Nimm es so an, wie es ist, denn du bist etwas Besonderes, du bist auserwählt.» Sie machte eine kurze Pause und eröffnete ihr dann: «Du bist eine Hexe.» Brenda hielt kurz inne, dann bat sie: «Sieh mich an, Marie.»
Marie hob ihren Kopf und sah in die grünen Augen des verwahrlosten Tiers.
«Du bist auserwählt», wiederholte die Katze.
«Es gibt keine Hexen», sagte Marie mehr zu sich selbst, denn es widerstrebte ihr, sich mit einer Katze zu unterhalten.
«Nun, eigentlich gibt es auch keine sprechenden Katzen», antwortete Brenda.
Nachdenklich senkte Marie den Blick. Wenn es sprechende Katzen gab, und eine solche saß ja ganz offensichtlich vor ihr, dann konnte es auch Hexen geben. Blödsinn, sie versuchte, diese Gedanken gleich wieder zu verdrängen. Das widerspräche jeder Erfahrung und dem gesunden Menschenverstand. Und all das, was sie seit ihrem Geburtstag an Merkwürdigkeiten erlebt hatte, war eigentlich völlig ausgeschlossen – oder doch nicht? Das waren doch alles keine Träume. Ihre heile, vertraute Welt brach plötzlich in sich zusammen.
«Es gibt keine Hexen», wiederholte Marie stur.
«Auf deinem rechten Zeigefinger ist eine Narbe. Sie zeigt ein L für Luzifer. Und du hast den Hexenblick. Schau in den Spiegel», sagte Brenda und fügte hinzu: «Verzweifle nicht, denn du bist außergewöhnlich.»
«Wer ist Luzifer?», wollte Marie wissen.
«Das ist der Abgrund, dessen Teil wir sind», antwortete Brenda, und ihre Stimme klang kleinmütig.
Marie wurde schwindlig und sie stützte sich mit den Händen auf den Betonweg. Alles drehte sich. Sie schloss die Augen. «Ich will so nicht sein», nuschelte sie undeutlich.
«Du hast keine Wahl, aber wenn du stark bist, beginnt für dich etwas Neues und Großes. Hab keine Furcht. Von Philomena wirst du bald mehr erfahren.» Brenda schlich einmal um Marie herum, die immer noch auf dem Betonweg kniete, und lief dann in Richtung Wald davon.
Konzentriert versuchte Marie, ihren klaren Verstand wiederzuerlangen. «Was mach ich jetzt nur?», fragte sie sich, öffnete die Augen und stand mit wackeligen Knien auf. Sie schaute der Katze hinterher, die bald nicht mehr zu sehen war. Kraftlos schleppte sich Marie in die Schutzhütte. Ihr Herz pochte so stark, dass es fast wehtat. Jetzt nur nicht durchdrehen, versuchte sie, sich zu beruhigen und sich selbst Mut zu machen. «Ich bin nicht geisteskrank. Ich bin nicht wahnsinnig. Ich bin …», ihr stockte der Atem, «… eine Hexe!» Das wäre zumindest eine Erklärung für die ungewöhnlichen Ereignisse, gestand sie sich ein. Aber trotzdem, jede mögliche Erklärung wäre genauso absurd, wie die Ereignisse selbst. «Nein!», rief sie voller Verzweiflung, «das kann gar nicht sein, ich bin keine Hexe, es gibt keine Hexen, ich will es nicht!» In Maries Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ihr wurde übel, und sie musste sich übergeben. Das war einfach zu viel, das war schlicht unbegreiflich. «Warum ich?», fragte sie sich, «warum nur ich? Warum überhaupt?» Wer konnte ihr das beantworten? Vielleicht diese Philomena? Aber wer war das, und wo hielt sie sich auf? Egal. Sie wollte mit diesem Quatsch sowieso nichts zu tun haben.
Marie ging vor die Hütte und rief energisch in die Richtung, in der die Katze davongelaufen war: «Ich will das nicht und werde mich mit ganzer Kraft dagegen wehren. Merk dir das!»
Sie atmete tief durch, dann fühlte sie sich etwas besser und klarer im Kopf. Sie nahm ihr Fahrrad und fuhr nach Hause.
* * *
Marie kannte natürlich die Märchen und Sagen über Hexen. Nicht dass sie daran besonders interessiert war, aber gerade im Harz konnte man sich den Mythen um Hexen und Teufel kaum entziehen. Schon gar nicht zur Walpurgisnacht, wenn überall mit viel Tamtam dieser alte Brauch gefeiert wurde. Als sie noch klein war, hatte sie sich, wie fast alle Mädchen in ihrem Alter, auch gerne als Hexe verkleidet und geschminkt. Mit ihren rötlich schimmernden, strubbeligen Haaren und den drei dicken Sommersprossen auf der Nase, bekam sie jedes Mal viel Aufmerksamkeit. Doch aus dem Alter war sie längst raus. Walpurgisfeiern hatten für sie jetzt eher den Reiz einer großen Party, auf der man sich trifft, um Bekanntschaften zu pflegen und neue Leute kennenzulernen.
Inzwischen wusste sie auch längst aus dem Geschichtsunterricht, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der Hexen nicht gefeiert, sondern verfolgt und verbrannt worden waren. Was heute zu einem Mythos stilisiert wird, war im Mittelalter ein schreckliches Martyrium für viele Menschen, vornehmlich Frauen, die diesem Hexenwahn zum Opfer gefallen waren. Doch was war Märchen, was Wahrheit? Marie hatte nun ein brennendes Bedürfnis, mehr darüber zu erfahren. Aus dem überfüllten Regal in ihrem Zimmer holte sie ihre alten Schulbücher, die sie gerne aufhob, um eventuell noch einmal etwas nachschlagen zu können. Bevorzugt zu ihren Lieblingsfächern Geschichte und Geographie. Ihre Sammelleidenschaft brachte ihr allerdings auch manchmal Zoff mit ihrer Mutter ein, denn, das musste Marie zugeben, nicht immer gelang es ihr, dabei Ordnung zu halten.
Mit zwei Büchern und ihrem Lieblingsmonster, dem gelben einäugigen Langhaarmonster, legte sie sich aufs Bett, fing an zu blättern und machte sich Notizen. Zusätzlich fand sie im Internet unter den Stichwörtern Hexen und Hexenverfolgung zahlreiche Beiträge. Am Ende kam Marie zu folgendem Fazit: Die Menschen glaubten damals fest an die Existenz von Hexen, die Unheil und Schaden anrichteten und deshalb durch Verbrennen für alle Zeit unschädlich zu machen waren. Andererseits, überlegte Marie, hätte sich eine echte Hexe der Folter und Hinrichtung durch ihre besonderen Kräfte leicht entziehen können. Also, dachte sie, waren alle Hingerichteten unschuldige Opfer von Aberglauben. Ihr gruselte bei dem Gedanken, lebendig verbrannt zu werden. Zum Glück war das längst vorbei. Und heutzutage wurde der Glaube an Hexen schnell als Scharlatanerie und Spinnerei abgetan. Lediglich als Kultfiguren in alten Bräuchen und Schauergeschichten wurden sie akzeptiert. «Und doch gibt es sie», murmelte Marie vor sich hin. «Hexen sind unter uns, diskret und unerkannt.» Die Frau mit dem roten Fiesta war der lebende Beweis, Marie hielt kurz inne – und ich selber, führte sie den Gedanken zu Ende.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl am Schreibtisch zurück und schaute ziellos aus dem Fenster, in diesen sonnigen Tag hinaus. Sie sah den alten Apfelbaum, mit dem verkrüppelten Geäst, drüben auf dem Nachbargrundstück. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ein Ast abgebrochen war. Sicher durch die Last des Schnees im vergangenen Winter. Die Rinde war stark zerfurcht und von Moos und Flechten behaftet. Bald würde er wieder grün werden und Blüten bekommen, aus denen Äpfel wuchsen. Äpfel? Dieser Gedanke rüttelte Marie auf. Warum eigentlich keine Birnen oder Kirschen? Wer oder was bestimmte eigentlich, welcher Baum ein Apfelbaum, ein Birnbaum oder Kirschbaum wurde? Und wer bestimmte, wie Menschen waren, wie sie aussahen, welche Fähigkeiten sie hatten? Oder ob sie … zur Hexe wurden? Im Biologieunterricht hatten sie schon über Vererbungslehre, Erbinformation und Gene gesprochen.
Nachdenklich starrte Marie auf den knorrigen Baum. Gab es vielleicht sogar ein Hexen-Gen? Dann musste es in ihrer Verwandtschaft bereits andere Hexen gegeben haben oder es gab sie vielleicht heute noch. Marie schluckte. Ihr war gar nicht wohl bei diesem Gedanken. Sie überlegte, ob sie in der Verwandtschaft jemanden kannte, der sich eigenartig verhielt oder in dessen Gegenwart seltsame Dinge passierten. Vielleicht Tante Bettina, Papas ältere Schwester. Sie wohnte in Bad Lauterberg, einem ruhigen Kurort im Südharz, und sie lebte allein. Hexen lebten bevorzugt ohne Partner. Ich will aber nicht allein bleiben, ich möchte irgendwann heiraten. Am liebsten Felix, er weiß es nur noch nicht. Ein Lächeln flog über ihre Lippen.
Tante Bettina kannte sich in Naturheilkunde gut aus und mixte selbst allerlei Tinkturen, Tees und Salben. Gegen die meisten Wehwehchen hatte sie sofort ein Mittel parat, das oft half, manchmal auch nicht, aber immer übel roch. Sie konnte sogar nachweislich Warzen besprechen, was Marie immer schon wie Hexerei vorgekommen war.
Als sie zuletzt, vor etwa eineinhalb Jahren, zu Besuch gewesen war, waren einige «Katastrophen» passiert. Eines Morgens beim Frühstück steckte sie zwei Scheiben Brot in den Toaster, der kurze Zeit danach plötzlich in Flammen aufging. Tante Bettina schrie auf, warf den brennenden Toaster in die Spüle und drehte das Wasser an. Der Stecker war dummerweise noch drin. Mit einem lauten Knall flog die Hauptsicherung raus. Ausgerechnet dafür hatte Papa keinen Ersatz, und so mussten sie den halben Tag ohne Strom auskommen. Aber das war noch nicht alles, ein paar Tage später kam es wirklich schlimm. Alle saßen am Mittagstisch, als Tante Bettina noch einmal zum Küchenschrank ging, um sich ein Glas zu holen. Da sie ziemlich klein war, angelte sie auf Zehenspitzen danach. Dabei verschob sie mit dem Unterarm den Tellerstapel, der fast herauszufallen drohte. Sie versuchte ihn zurückzuschieben, musste sich dabei verdrehen und rutschte seitlich weg. Vor Schreck ließ sie das Glas fallen und hielt sich reflexartig an der Schranktür fest. Dann gab es ein ohrenbetäubendes Scheppern und Krachen. So muss sich ein Erdbeben anhören, hatte Marie damals gedacht. Alle sprangen wie aufgescheucht vom Tisch auf und waren ziemlich geschockt über das, was passiert war. Der Hängeschrank der Küchenzeile war aus der Wandhalterung gerissen. Tausend kleine Glas- und Tellerscherben verteilten sich gleichmäßig auf dem Fußboden. Der Schrank war nur noch Schrott.
Diese Missgeschicke waren Tante Bettina sehr peinlich gewesen und sie hatte sich – wie jedes Mal – tausendfach dafür entschuldigt. «Mach dir keine Gedanken. Das kann jedem Mal passieren», sagte Maries Mutter. Aber es passierte nicht jedem, sondern immer nur ihr. Von Papa hatte sie daher den Spitznamen «Pechbetti» bekommen. Marie musste leise lachen und war sicher, dass es für diese Vorkommnisse eine plausible Erklärung gab, im Unterschied zu dem, was ihr widerfuhr. Trotzdem würde sie beim nächsten Besuch genau auf Tante Bettinas Augen achten.
Marie dachte noch einmal darüber nach, was die Katze gesagt hatte, doch je intensiver sie nach einer Erklärung suchte, umso mehr Fragen tauchten auf. Hatte dieser mysteriöse Luzifer Marie auserwählt? Wer war das überhaupt? Es musste doch eine Antwort geben. Und wenn ja, dann gab es wahrscheinlich auch einen Weg aus diesem Alptraum heraus, da war sich Marie sicher. Aber wer wusste die Antwort? Sie nahm ihr Langhaarmonster und hielt es vor ihr Gesicht.
«Und du, dummes Monster, du weißt die Antwort auch nicht, oder?» Sie warf es aufs Bett und stützte ihren Kopf in die Hände. Warum ich, warum nur? Ich will das nicht, ich will so nicht sein, flehte Marie immer wieder im Stillen und schaute mit feuchten Augen auf den Apfelbaum.
* * *
«Euer Beinahunfall vom Samstag steht in der Zeitung», sagte Torsten nach dem Frühstück, als er den Harzgeroder Lokalteil aufschlug.
«Soll ich vorlesen?», bot er an.
«Lieber nicht», lehnte Heike ab, die gerade das Geschirr in die Spülmaschine einräumte, «ich will nichts mehr davon hören, es war schrecklich, nicht wahr, Marie?»
Marie war dieses Thema ebenfalls unangenehm, denn es rührte an ihr schlechtes Gewissen. «Kommt Tante Bettina demnächst mal wieder zu Besuch?», fragte sie, um davon abzulenken.
«Ich hoffe nicht», sagte Torsten mit einem Lächeln im Mundwinkel, «und wenn, dann nur unter der Bedingung, dass sie vorher eine Haftpflichtversicherung abschließt.»
«Tooorsten!», wies Heike ihn zur Nachsicht und musste dabei selbst lachen.
«Nein, im Ernst», antwortete Torsten dann, «nicht dass ich wüsste. Warum fragst du?»
«Och, nur so. Ich musste gestern an sie denken.»
«Nichts gegen Tante Bettina, aber du solltest lieber öfter an die Schule denken und daran, wie du deine Noten verbessern kannst», mahnte Torsten und gab dem Gespräch damit eine unangenehme Wende.
«Och, Papa, fang doch nicht schon wieder damit an», antwortete Marie genervt.
«Ich habe in letzter Zeit den Eindruck, dass du ziemlich abgelenkt und zerstreut bist», entgegnete Torsten, «Mama und ich erwarten, dass du dich mehr auf die Schule konzentrierst.»
«Mach ich doch», verteidigte sich Marie, «aber im Moment habe ich andere Probleme.»
«Ach ne, du hast Probleme?», Torsten wurde ziemlich ungehalten, «du bekommst dein Essen vorgesetzt, du hast ein warmes Zimmer, deine Wäsche wird gemacht, und bekleidet wirst du auch, dank Mamas Nähkünsten sogar sehr gut. Wo, bitte schön, ist da noch Raum für Probleme?»
«Lasst uns heute Nachmittag bitte in Ruhe darüber reden», versuchte Heike zu beschwichtigen.
«Ihr könnt mich alle mal», rief Marie mit Tränen in den Augen und alle gute Erziehung vergessend, nahm ihren Schulranzen und rannte aus dem Haus.
Die anderen standen schon an der Bushaltestelle, als Marie eintraf. Nur Felix fehlte noch.
«Hi Mary», grüßte Sabine Rohde, die unten am Hasselberg wohnte und in die Parallelklasse ging, «was ziehst’n für’n Gesicht?»
«Lass mal. Stress zu Hause», sagte Marie monoton.
«Ach so, ich dachte schon was Schlimmes. Das kenn ich auch», versuchte Sabine, sie zu trösten. «Wo bleibt denn Felix, der ist doch sonst immer so pünktlich?», fragte sie beiläufig.
«Da kommt er», antwortete Marie und zeigte mit dem Finger die Straße hinunter. Felix kam mit seinem «Asphaltschreck», wie er seine betagte Zündapp nannte, gerade die Hauptstraße entlang, bog um den Dorfteich herum und hielt an der Bushaltestelle an. Er hatte das Moped zu seinem 15. Geburtstag von seinen Eltern bekommen und war mächtig stolz darauf.
«Hi Mariechen, hi Biene», grüßte Felix, «hab leider meinen Beiwagen nicht mit, sonst könntet ihr mitfahren.»
«Nein danke! Auf solche Abenteuer am frühen Morgen können wir gern verzichten», sagte Marie scherzhaft. «Aber warum fährst du heute mit dem Moped?», wollte sie wissen.
«Hab die letzte Stunde noch Matheförder und keine Lust, danach stundenlang auf den Bus zu warten.»
Marie antwortete nicht und fixierte Felix mit ernstem Blick.
«Warum siehst du mich so streng an? Is was?», fragte er und nahm den Helm ab.
«Ich brauch mal wen zum Reden, geht das nach der Schule, auch wenn’s bei dir spät wird? Mir macht es nichts aus, danach mit dem Bus heimzufahren.»
«Aber bitte keine faulen Zaubertricks mehr», mahnte Felix.
«Nein, echt nicht», versicherte Marie.
«Ganz in wirklich?», schmunzelte Felix.
«Ja. Du nervst. Ich warte dann im Eiscafé auf dich.»
«Okay!» Felix setzte den Helm wieder auf, trat sein Moped an und fuhr davon.
Marie wollte nicht mit ihm über ihre Begegnung mit der Katze Brenda und deren Prophezeiung sprechen. Nein, das war noch zu früh. Nicht bevor sie die angekündigte geheimnisvolle Philomena getroffen hätte, um mehr über ihr Hexendasein zu erfahren. Aber irgendwann musste sie es ihm sagen. Nach ihrem ersten gescheiterten Versuch, Felix von ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten zu überzeugen, hatte sie jetzt schon großen Bammel davor. Ihn jedoch nicht mit einzubeziehen, würde bedeuten, sie müsste sich von ihm abwenden. Was für ein absurder Gedanke, dachte sie. Sie brauchte einen Verbündeten, einen echten Freund, der trotzdem zu ihr hielt. Das konnte nur Felix sein, ihm vertraute sie blind, er war für sie mehr als nur ein Freund, viel mehr.
Marie wollte ihn heute lediglich bitten, mit ihr regelmäßig für die Schule zu üben, um ihren Eltern zu zeigen, dass sie es wirklich ernst meinte mit dem Abi. Zoff zu Hause konnte sie nun gar nicht gebrauchen, obwohl sie ein gewisses Verständnis für die Sorgen ihrer Eltern hatte. Sie merkten natürlich, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Woher sollten sie jedoch ahnen, wie es um sie stand? Und wie könnte Marie es ihnen erklären? Eine verzwickte Situation.
Marie und Sabine betraten zusammen den Schulhof. Plötzlich blieb Sabine stehen und rief: «Oh Mist, ich habe meine Sporttasche im Bus vergessen. Kannst du bitte meinen Ranzen eben halten?» Sie gab ihr die Schultasche und rannte zurück zum Bus, der an der Haltestelle mit laufendem Motor stand. Einige Schüler stiegen noch aus.
Marie ging, mit beiden Ranzen in den Händen, weiter zum Schulgebäude. Als sie das Eingangspodest betrat, öffnete sich die Tür, sodass sie eintreten konnte, ohne eine Hand freizumachen. «Danke!», sagte sie und drehte sich zurück, um zu sehen, wer ihr netterweise die Tür geöffnet hatte. Es war ihr niemand gefolgt. Die anderen Schüler standen in Gruppen auf dem Schulhof. Komisch, dachte sie und wunderte sich. Dann wurde ihr klar, dass hier wohl wieder ihre sonderbaren Kräfte im Spiel waren, die sie noch nicht beherrschte. Es hat auch etwas Positives, eine Hexe zu sein, dachte Marie, ärgerte sich aber sogleich über solche Gedanken.
Im Pausenraum stand Felix mit drei anderen Jungs zusammen. Sie zappten auf ihren Handys herum und prahlten lauthals über ihre neu entdeckten Spiele-Apps. Felix warf Marie ein Lächeln zu, als er sie hereinkommen sah. Sie stellte sich neben ihn, um auf Sabine zu warten.
«Was man nicht im Kopf hat …», sagte Sabine, als sie kurze Zeit später mit ihrer Sporttasche zurückkam, «… müssen andere schleppen», ergänzte Marie und gab ihr den Ranzen zurück. Sie gingen beide die Treppe hinauf, verabschiedeten sich oben kurz mit «Man sieht sich!» und verschwanden in ihren Klassenräumen.
Marie hatte in ihrer letzten Stunde Mathe und sah der Rückgabe des Tests fiebernd entgegen. Frau Heinemann machte daraus immer ein spannendes Ritual, was Marie gerade bei dieser Mathearbeit besonders nervig fand. Bevor sie die Arbeiten verteilte, gab sie zunächst die Notenstatistik und die Durchschnittsnote bekannt, die diesmal 3,2 betrug. Dann kommentierte sie ausführlich die Klassenleistung gemessen am Schwierigkeitsgrad der einzelnen Aufgaben. Marie wurde immer ungeduldiger und hätte ihr am liebsten die Testblätter aus der Hand gerissen, doch die Geduldsprobe war noch nicht beendet. Frau Heinemann rechnete nach jedem Mathetest alle Aufgaben an der Tafel vor. Das brachte von Aufgabe zu Aufgabe schrittweise Entspannung, weil man im Vergleich mit den eigenen Ergebnissen seine Leistung einschätzen konnte. Aber die Erlösung von dieser «Folter» kam letztlich erst mit der Aushändigung der Testblätter und Kenntnis der Punktezahl. Endlich war es dann soweit. Marie hatte alle Aufgaben richtig und bekam eine Eins. Die beste Note, die sie bisher in einer Mathearbeit gehabt hatte, war eine Drei. Auf dem Zeugnis hatte sie immer eine Vier, mit einer Ausnahme, und das war eine Fünf gewesen.
«Marie?», rief Frau Heinemann am Ende der Stunde durch das laute Gemurmel in der Klasse, «ich möchte dich gleich noch einmal sprechen.» Marie wartete am Pult, bis alle den Klassenraum verlassen hatten. Frau Heinemann legte ihre Brille ab und schlug ein Bein über.
«Dein gutes Ergebnis hat mich sehr überrascht», begann sie, «es steht allerdings in keinem Verhältnis zu deiner bisherigen Leistung und macht mich deshalb stutzig. Kannst du mir diese plötzliche Leistungssteigerung erklären?»
«Ich habe nicht betrogen, falls Sie das meinen», antwortete Marie in einem leicht beleidigten Tonfall.
«Entschuldige, ich wollte dir nichts unterstellen», sagte Frau Heinemann nachsichtig, «aber du wirst doch verstehen, wenn mir das etwas sonderbar vorkommt.» Marie verstand das nur zu gut, aber wie sollte sie ihrer Lehrerin das beibringen? Sie stellte sich in Gedanken das dumme Gesicht von Frau Heinemann vor, wenn sie einfach sagen würde: «Ach, wissen Sie, Frau Heinemann, ich bin seit einigen Tagen eine Hexe. Ich werde jetzt nur noch gute Noten schreiben, ähh, hexen meine ich.» In diesem Moment fühlte sie sich elend, hilflos und allein. Zum einen ergaben sich für sie verlockende Möglichkeiten durch ihre neuen Kräfte, die ihr sogar eine gewisse Macht verliehen. Andererseits jedoch war sie dadurch ziemlich einsam. Niemandem konnte sie sich damit anvertrauen, ohne zu riskieren, als verrückt abgestempelt zu werden. Auf einmal freute sie sich gar nicht mehr so richtig über ihre gute Note, und bekam sogar ein schlechtes Gewissen. Nein, betrogen hatte sie nicht, zumindest nicht willentlich. Eine Kraft hatte von ihr Besitz ergriffen, die sie nicht kontrollieren konnte.
Frau Heinemann sah Marie eine Weile an und wartete auf eine Antwort, dann sagte sie: «Vielleicht ist bei dir ja jetzt der Groschen gefallen, wie man so sagt. Das habe ich als Lehrerin schon oft erlebt. Würde mich freuen, wenn es in deinem Fall auch so wäre.» Sie machte eine kurze Pause, lächelte und gab Marie die Hand. «Gratuliere zum besten Testergebnis. Mach weiter so.»
«Danke», sagte Marie erleichtert, nahm ihren Ranzen und lief aus der Klasse. Sie erwischte gerade noch den Schulbus und fuhr bis zur Haltestelle «Bahnhof» mit.
Von dort war es nicht weit bis zum Eiscafé in der Oberstraße, in dem sie sich mit Felix verabredet hatte. Marie gefiel das kleine, rustikal eingerichtete Eiscafé mit seinen zahllosen bunten Puppen, die auf den Fachwerkbalken und den Fensterbänken saßen. Das wirkte ein wenig überladen, gab dem Raum aber eine besonders gemütliche Atmosphäre, die Marie mochte.
«Hallo Marie!», begrüßte sie Mathias Röder, der hier oft als Bedienung aushalf und sie persönlich kannte, «wie immer?»
Marie grüßte zurück und bestätigte: «Ja, einen Kakao, wie immer.» Sie setzte sich an den hinteren Tisch am Fenster, sodass sie den Eingangsbereich sehen konnte. Um diese Zeit, kurz nach eins, war sie der einzige Gast. Bis Felix kam, würde es noch eine Weile dauern, und daher beschloss sie, die Zeit mit den Hausaufgaben für Englisch zu nutzen. Das war nicht gerade ihr Lieblingsfach, aber ohne Englisch war man im Bekanntenkreis rasch «out», denn bei Gesprächen über Musik oder Computer ging nur mit Deutsch fast gar nichts. Das steigerte die Lernmotivation erheblich. Marie holte das Lehrbuch und ihr Aufgabenheft aus dem Rucksack, schob die Kakaotasse weiter nach hinten und begann, im Buch zu blättern. Beim Lesen wackelte sie mit dem Kugelschreiber hin und her und schrieb immer mal wieder etwas in ihr Heft. Ab und zu nippte sie am Kakao, der inzwischen nur noch lauwarm war. So saß sie eine Weile konzentriert über dem Text, den sie übersetzen musste und bekam nicht mit, wie jemand das Café betrat. Doch vernahm sie im Hintergrund, dass die Bedienung einen neuen Gast begrüßte. Niemand erwiderte den Gruß. Dann hörte Marie Schritte auf sich zukommen. Sie blickte auf.
Vor ihrem Tisch stand die elegant gekleidete Frau mit den leuchtenden Augen, die Marie am Samstag vor dem Schaufenster in der Unterstraße gesehen hatte. Sie erkannte sie sofort wieder. Ihr Herz fing heftiger an zu pochen, und sie atmete schneller.
«Guten Tag, Marie. Darf ich mich zu dir setzen?», fragte die Frau mit einer freundlichen Stimme und einem Lächeln. Ihre weißen Zähne leuchteten zwischen den rot geschminkten Lippen.
«Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht», erwiderte Marie argwöhnisch.
Die Frau sah sich um, ob auch niemand in der Nähe war, beugte sich nah zu Marie hinunter und sagte leise: «Ich heiße Philomena, und wie du siehst, bin auch ich eine Hexe, so wie du. Meine Katze Brenda, der du neulich begegnet bist, hat mich hoffentlich angekündigt.» Ein angenehmer Duft, der Marie gefiel, umgab sie. Eine schicke Frau, dachte sie und kämpfte innerlich gegen eine aufkommende Sympathie für diese Frau. Sie packte ihre Schulsachen vom Tisch und bot Philomena einen Platz an. Die zog ihren Mantel aus und legte ihn über eine Stuhllehne, dann setzte sie sich Marie gegenüber. Herr Röder kam und fragte, was er bringen solle.
«Ein Wasser für mich, bitte», sagte sie, ohne ihn anzusehen. Dann wandte sie sich an Marie: «Möchtest du vielleicht noch einen Kakao?» Marie lehnte ab, und Herr Röder verschwand zur Theke. «Es ist für Neulinge in unserer Gemeinschaft nicht einfach, sich mit der Veränderung abzufinden und neu zu orientieren», begann Philomena zu erklären, «aber die Hexengesellschaft lässt niemanden allein. Jede Neue bekommt Unterstützung, um sich einzufügen.» Sie machte eine kurze Pause, legte ihre Hand auf Maries Unterarm und fuhr dann fort: «Ich möchte dich bitten, mit mir zu kommen, um dir etwas zu zeigen, was dich neugierig machen soll auf dein neues Leben.»
Marie zog ihren Arm unter ihrer Hand weg. «Mein neues Leben?», sagte sie empört und mit erhobener Stimme, «was fällt Ihnen ein? Mein Leben gefällt mir so, wie es ist.» Marie unterbrach kurz, als Mathias Röder kam und das Wasser brachte. Während er das Glas abstellte, warf er Marie einen Blick zu, als wenn er fragen wollte: Ist alles in Ordnung? Marie erwiderte seine stumme Frage und zog ein wenig die Schultern an, um ihm zu signalisieren, dass nicht alles in Ordnung sei. Dann ging er zurück zum Tresen und stellte sich so, dass er Marie im Auge hatte. Aufgeregt sprach Marie weiter: «Ich möchte kein anderes Leben. Lassen Sie mich bitte in Ruhe damit!»
«Beruhige dich», sagte Philomena, «deine ablehnende Haltung ist ganz normal. Das haben wir alle so erlebt. Aber du hast keine Wahl. Niemand, der auserwählt ist, hat eine Wahl. Es ist also in jedem Fall besser für dich, wenn dir jemand zur Seite steht, dich begleitet und deine Fragen beantworten kann. Und du hast doch viele Fragen, stimmt’s?»
«Ja, ich habe viele Fragen, das stimmt, aber es stimmt nicht, dass ich keine Wahl hätte», sagte Marie entschlossen, «ich werde nicht mit Ihnen mitgehen.»
Philomena sah Marie mit beißendem Blick an, dann verfinsterte sich ihre Miene. Ihr Gesicht wurde dunkelrot, es bekam etwas Diabolisches, und ihre Augen leuchteten wie Feuer. Marie bekam Angst. «Ich wollte freundlich zu dir sein, aber ich kann auch anders.» Philomenas Stimme hatte jetzt einen drohenden Unterton. «Wenn ich sage, du hast keine Wahl, dann hast du keine. Und wenn ich sage, du kommst mit, dann kommst du mit. Ich dulde keinen Widerspruch, verstanden?»
Marie sah voller Entsetzen in das wutgerötete Gesicht von Philomena, das ihr fast wie eine Fratze erschien, und sie hätte sich jetzt am liebsten irgendwo versteckt. Die Situation gerietaußer Kontrolle. Marie sah keinen Ausweg mehr und sprang panisch von ihrem Stuhl auf, der polternd nach hinten umfiel. «Nein! Ich komme nicht mit, niemals. – Herr Röder?» Marie sah hilfesuchend zu ihm hinüber.
«Lassen Sie sofort das Mädchen in Ruhe», rief er und kam eilig hinter dem Tresen hervor.
Philomena zeigte ihm die offene Handfläche am ausgestreckten Arm. «Stopp!», befahl sie ihm. Augenblicklich blieb er wie erstarrt stehen und zitterte am ganzen Körper.
Marie war entsetzt. «Was haben Sie mit ihm gemacht?», schrie sie Philomena an und lief in Richtung Ausgang. «Du kommst mit mir», sagte Philomena in einem schaurigen Ton, und Marie war plötzlich nicht mehr in der Lage weiterzugehen. Ihre Beine fühlten sich auf einmal so schwer an, dass sie sie nicht mehr bewegen konnte. Philomena zog ihren Mantel an, fasste Marie am Arm, sofort löste sich ihre Starre, und Philomena konnte sie willenlos nach draußen führen.
Direkt vor dem Haus stand der rote Ford Fiesta auf dem Parkstreifen. Philomena öffnete die Beifahrertür und drängte Marie zum Einsteigen, dann schlug sie die Tür zu, ging um das Auto herum und stieg ebenfalls ein. Als sie den Motor startete, schaute Marie noch einmal ängstlich zum Café herüber. Hinter der Fenstergardine sah sie Mathias Röder stehen, wie er die beiden beobachtete. Sie war erleichtert, dass es ihm offenbar wieder gutging.
«Wo fahren Sie mich hin?», wollte Marie wissen.
«Das wirst du gleich sehen, es ist nicht weit», antwortete Philomena in unfreundlichem Ton. Sie verließen Harzgerode und fuhren in Richtung Selketal. Marie saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz, sah ängstlich nach draußen und hoffte, jemanden zu entdecken, dem sie vielleicht zu Hilfe winken oder rufen konnte. Doch vergebens.
* * *
Felix stellte sein Moped auf dem Parkstreifen vor dem Eiscafé in der Oberstraße ab, nahm den Helm runter und ging hinein. Im Eingangsbereich vor dem Tresen blieb er stehen und blickte sich suchend in dem kleinen Gastraum um. Es war sonst niemand da.
«Hallo Felix», hörte er aus dem Hintergrund die wimmernde Stimme von Mathias Röder, «ich bin hier.» Er saß an dem kleinen Tisch, der versteckt unter dem hölzernen Treppenaufgang stand. Felix ging zu ihm.
«Ist Ihnen nicht gut?», fragte er besorgt, «Sie sehen ziemlich blass aus. Soll ich jemanden holen?»
«Nein, nein, es geht schon.» Er stand auf, musste sich aber gleich wieder hinsetzen. Felix ging zum Tresen und holte ihm ein Glas Wasser. «Danke», sagte er und trank das Glas in einem Zug leer. «Das tut gut. Ich glaub, jetzt fühle ich mich besser.»
Felix setzte sich zu ihm. «Ich war mit Marie hier verabredet. Haben Sie sie gesehen?»
«Ich glaube, sie wurde entführt», antwortete Herr Röder ohne Umschweife, «vor ein paar Minuten. Es tut mir leid, ich konnte es nicht verhindern.»
Zunächst dachte Felix, Herr Röder wolle sich mit ihm einen Spaß machen, und sah ihn ungläubig an. Sie kannten sich ja schon lange und flachsten manchmal miteinander, aber in seinen Augen sah er, dass er es tatsächlich ernst meinte. «Wie entführt? Das gibt’s doch nicht.» Felix musste schlucken. Sein Mund wurde ganz trocken, und er spürte ein Gefühl in sich aufsteigen, das er so noch nie empfunden hatte: Richtige Angst um jemanden, der ihm wirklich etwas bedeutete. Angst um Marie. «Was ist passiert?» Felix wurde laut und schüttelte Mathias Röder am Arm. Dann erzählte er Felix ausführlich, was er beobachtet hatte und dass die Frau ihn quasi bewegungsunfähig gemacht hatte. Er konnte sich nicht erklären wie, vielleicht durch Hypnose oder so.
«Was? Das ist doch Unsinn!» Felix war völlig durcheinander, strich sich mit beiden Händen durch sein Haar und fing wieder an, Locken um den Finger zu drehen. «Aber die Beschreibung der Frau passt zu der, die Marie und ich vor ein paar Tagen schon einmal gesehen haben. Marie glaubte von ihr verfolgt zu werden, doch ich habe das nicht ernst genommen», erklärte Felix und fühlte sich in diesem Moment mitverantwortlich. «Fuhr sie einen roten Fiesta?», fragte er nach.
«Ja. Das Kennzeichen habe ich mir aufgeschrieben.» Er zeigte Felix den Zettel.
«Genau, das ist sie.»
«Wir müssen die Polizei verständigen», schlug Herr Röder vor.
«Warten Sie», sagte Felix. Er war nun wieder gefasst. «Ich möchte erst mit ihren Eltern sprechen, bevor wir hier die große Welle machen. Vielleicht gibt es ja eine Erklärung. Warum sollte wohl jemand Marie entführen? Lösegeld ist bei den Stöbers eh nicht zu holen.»
«Ja, sicher hast du Recht», stimmte Herr Röder zu. Felix setzte seinen Helm auf und eilte nach draußen. «Moment», rief Herr Röder ihm nach, «hier, nimm Maries Rucksack und Englischbuch mit.»
Felix packte die Sachen auf den Gepäckträger und fuhr los. Er drehte den Gasgriff bis zum Anschlag und beugte sich weit über den Lenker, um mit weniger Luftwiderstand noch etwas mehr Geschwindigkeit aus seinem Moped herauszuholen. Der quäkende Motor hallte grell zwischen den Häusern in der Oberstraße und hinterließ eine bläuliche Rauchfahne, die süßlich nach Zweitaktgemisch roch. Mit allem, was sein betagter «Asphaltschreck» hergab, fuhr er nach Schielo zurück. Felix hatte ein schlechtes Gewissen, weil Marie nicht bei ihm war und er das Gefühl hatte, sie im Stich gelassen zu haben.
Mit einer Vollbremsung kam er vor dem Gartenzaun von Maries Eltern zum Stehen. Torsten war draußen im Vorgarten und band gerade das kleine Mandelbäumchen an einem Baumpfahl fest. «Hallo Felix, du hast es aber eilig», grüßte Torsten und unterbrach seine Arbeit. «Weißt du, wo Marie steckt? Wir haben sie seit heute Morgen nicht mehr gesehen», fragte er dann beiläufig.
Felix stellte sein Moped auf den Ständer und nahm den Helm ab. «Darüber wollte ich mit euch sprechen.»
«Das klingt ja so förmlich», sagte Torsten. «Ist etwas passiert?»
Felix zögerte einen Augenblick und antwortete stammelnd: «Wie soll ich’s sagen – ich weiß es nicht. Vielleicht.»
Torsten sah ihn verdutzt an, legte sein Werkzeug beiseite und ging mit ihm ins Haus. Heike stand in der Küche und bügelte Wäsche. «Hallo, Felix», freute sie sich über sein Kommen, «aber sag mal, wo steckt eigentlich Marie?»
«Deshalb bin ich da», begann Felix, «ich will nicht lange drum herum reden, es sieht so aus, als wenn Marie mit einer fremden Frau mitgefahren ist. Ich weiß nicht, warum und wohin. Vielleicht wurde sie sogar entführt.»
«Was?» Heike stellte ihr Bügeleisen in den Halter des Bügelbretts und sah Felix erschrocken an.
«Nun mal langsam», sagte Torsten, «wer sollte Marie entführen. Wie kommst du überhaupt darauf?»
Felix berichtete dann von der Frau mit dem roten Ford Fiesta, von der sich Marie beobachtet gefühlt hatte. Er erzählte, dass er Marie am Morgen mit Sabine an der Bushaltestelle und in der Schule gesehen habe. Dann weiter von der Verabredung mit ihr im Eiscafé und was er dort von Mathias Röder erfahren hatte. Torsten und Heike hörten angespannt zu. Als Felix mit seiner Schilderung zum Ende kam, fragte er: «Kennt ihr vielleicht sogar diese seltsame Frau?»
«Keine Ahnung», sagte Torsten, «ich wüsste nicht, wer das sein könnte. Du Heike?» Heike hatte sich inzwischen an den Esstisch gesetzt und sah ganz blass im Gesicht aus. Torsten und Felix setzten sich dazu.
«Nein! Kenn ich nicht», antwortete sie mit weinerlicher Stimme.
Torsten legte tröstend seine Hand auf die ihre und sagte: «Mach dir keine Sorgen, es wird sich alles aufklären.»
Heike zog ihre Hand weg. «Komm, lass das!», sagte sie verärgert, «du hast sie doch heute Morgen wieder wegen ihrer Schulleistung runtergeputzt. Sie war ziemlich bedrückt. Vielleicht ist sie deshalb mit dieser Frau mitgefahren. Wer weiß, was die von ihr wollte?»
«Hattet ihr Zoff wegen der Schule?», fragte Felix.
«Ja, ein bisschen», antwortete Torsten kleinlaut.
«Wahrscheinlich wollte sie deshalb mit mir reden», mutmaßte Felix und bat beide: «Bitte streitet euch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Marie wegen so etwas zur Ausreißerin wird.»
«Felix hat Recht», meinte Torsten entschlossen, «gegenseitige Vorwürfe bringen uns nicht weiter. Wir machen jetzt Folgendes: Heike, du rufst bei Sabine an, und ich versuche, mit ihrer Klassenlehrerin Frau Heinemann zu telefonieren. Sollten wir dort nichts erreichen, fahren Felix und ich zur Polizei.»
Aber weder Sabine noch Frau Heinemann konnten zu der merkwürdigen Frau oder zum Verbleib von Marie irgendwelche Hinweise geben. Daraufhin fuhren Torsten und Felix zur Polizeistation nach Harzgerode.