II. Sternenglanz

Wahnsinn! Was für eine Aussicht, dachte Elena und bewunderte die tiefblaue Erde in ihrer strahlenden Pracht. Die Nesiah, ein diplomatischer Gleiter der Naar strich gerade mit ihrer freien Oberseite über die taghelle Nordhalbkugel. Über Europa war weit und breit keine Wolke zu sehen. Das überwältigende Panorama wurde auch nicht durch störende Barrieren getrübt. Elena hatte keine Ahnung, wie die Delos das zustande brachten, deren technologische Möglichkeiten den Menschen in vielen Belangen weit voraus waren.

»Elena Gutierrez …«, sagte eine ihr gut bekannte Stimme. »Sie sehen fantastisch aus.«

»Commander Codd ... Justin.« Elena drehte sich herum und registrierte mit Freude, wenigstens ein ihr vertrautes Gesicht auf diesem Empfang zu sehen. Der ehemalige Skipper der HMS Ambush war etwas größer als sie, 43, ledig, und hatte nicht mehr viele Haare auf dem Kopf. Sie lächelte und reichte ihm die Hand, die er mit gebührendem Respekt nahm und einen Handkuss andeutete. Sie hatten sich beide in Schale geworfen, er in seiner dunkelblauen Galauniform der Royal Navy und Elena in einem langen pastellfarbenen Abendkleid.

»Warum wir?«, fragte Justin, der nach dem Zwischenfall im Nordatlantik einen interessanten neuen Job bekommen hatte, und stellte sich demonstrativ neben sie. Er war der erste UN-Militärattaché auf der Naar und berichtete damit an Elena, der ersten UN-Botschafterin der Menschheit bei einer extraterrestrischen Zivilisation. Die großen Nationen der Erde hatten bei dieser ungewöhnlichen Berufung nicht viel zu melden gehabt. Sich unter Druck auf eine Journalistin und einen britischen Marineoffizier zu verständigen, dürfte für einige das geringere Übel gewesen zu sein, als einen politischen Vertreter eines geostrategischen Gegners auf dieser Position ertragen zu müssen.

»Gute Beziehungen …« Elena lächelte, damit meinte sie nicht ihre politischen Kontakte auf der Erde, sondern die zu Eva, die das Arcurus Gate kontrollierte und zu Milena von den Rutus. Es wäre auch ansonsten niemand in der Lage gewesen, den Delos Paroli zu bieten. Natürlich gab es auch bei den Delos einen Anführer, er war sogar Evas Vater: Tre’heer Maneh, Elena hielt ihn für vertrauenswürdig. Aber ähnlich wie auf der Erde gab es hinter jedem Alpha eine ganze Reihe hungriger Wölfe, die nur auf ihren Moment warteten.

»Wissen Sie, ich war in der Schule nie der Stärkste … während der Pausen haben auf dem Schulhof andere den Ton angegeben. Die waren größer, älter oder einfach auch nur zu mehreren gewesen.«

»Aber Sie sind Offizier geworden.« Das würde Codd kaum ohne Ellenbogen geschafft haben.

»Dazu waren andere Talente notwendig …«

»Vermutlich …« Elena lächelte, Justin wusste ihrer Meinung nach sehr genau, worauf es ankam.

»Na ja, wenn das hier der Schulhof ist … sehen Sie sich einfach um. Im Prinzip hat sich nichts geändert, die anderen sind immer noch größer, stärker oder uns schlicht in allem überlegen.« Der Offizier sah zu einer Gruppe Rutus, die mit roter Haut und bläulich leuchtenden fingerlangen Atemtentakeln unter der Nase ihre traditionellen dunkelroten Lederroben trugen. Dann zu einer Gruppe Lemorianer, die sich in hellen sowie mit goldenen Fäden verzierten Tunikas in höflicher Distanz aus allem rauszuhalten versuchten.

»Wir haben aber die richtigen Freunde.« Elena ging auf Eva zu, eine betörend schöne Frau, die ein schwarzes Abendkleid trug. Die Delos nutzte einen lebenden menschlichen Avatar mit langen dunklen Haaren und einem strahlenden Lächeln. Elena verdrängte, dass Eva dafür eine Frau von der Erde aus dem Bewusstsein dieses Körpers ausgemerzt haben musste. Guten Freunden unter den Delos musste man in diesen Tagen einiges durchgehen lassen.

»Elena!« Eva kam auf sie zu und küsste sie herzlich auf beide Wangen. Sie war die einzige Delos, die nicht nur aussah wie ein Mensch, sondern sich auch so benahm. »Schön, dich zu sehen.«

»Eva … was für ein Empfang.« Elena spürte, wie Evas Geste die Aufmerksamkeit vieler geladener Delos auf sich zog. Niemand von denen lebte noch in dem Körper, in dem er geboren wurde. Alle waren sie KIs, künstlich, binär und energetisch formatiert. Die den Tod ausgetrickst hatten und inzwischen Avatare benutzten, gezüchtet, um der Erscheinung nahezukommen, die ihnen zusagte. Alle waren groß, schlank, sehr schlank und wirkten, als ob ihre menschenähnlichen Körper ein Stück in die Länge gezogen worden waren. Man brauchte bei diesen vor Neid zerfressenen Blicken nicht viel Fantasie, um zu erahnen, was die Delos auf der Erde tun würden, wenn Eva ihnen nicht mit dem Gate eine durchgeladene Kanone in den Nacken pressen würde.

»Eine Schlangengrube!«

»Ähm …ja.«

»Hast du von Luise und Adam gehört?« Eva sprach leiser, genauso laut, dass nur Justin und Elena sie verstehen konnten.

»Die jagen Wächter, oder nicht?«

»Die haben Raven gefunden!«

»Oh!« Damit war nach so kurzer Zeit nicht zu rechnen gewesen. Offiziell stand niemand der Delos den abtrünnigen Wächter-KIs bei. Es gab allerdings durchaus Sympathisanten, die Tre’heer Manehs Herrschaft gerne enden sehen würden.

»Die Daten, die mein Vater uns gegeben hat, waren korrekt«, erklärte sie stolz.

»Das freut mich ...« Elena wusste, dass es Eva wichtig war, ihren Vater auf ihrer Seite zu wissen. Es gab genug andere, die Eva für eine Verräterin hielten. Delos, die ihr nicht zubilligten, Rutus, Menschen und andere Spezies zu beschützen. Die hätten Rutus am liebsten abgeschlachtet, Lemorianer weiterhin versklavt und aus Menschen eine Nutzrasse für hübsch anzuschauende Avatare gemacht. »Ist das mit Ravens Terminierung bereits offiziell?«

»Noch nicht … ich habe Ed im Ohr, wir warten auf die Meldung von der Raumstation.«

»Mir machen andere Delos inzwischen mehr Sorgen …«, sagte Justin und sah einige Personen an, die daraufhin ihren blassen Mund verzogen und sich von ihm abwendeten. Damit aus Menschen und Delos Freunde werden, würde es noch eine Weile dauern.

»Wie kam Raven überhaupt auf diese Station? Hatte sie Hilfe? Dafür brauchte sie ein Wurmloch … wie soll sie das ohne Hilfe aufgebaut haben? Eva, da spielt jemand unter den Delos falsch!« Inzwischen kannte Elena sich recht passabel mit Wächter-KIs aus, die mit der Technologie der Erde nicht zu fassen gewesen wären. Für die Delos wiederum war es einfach, die KIs, die sie selbst geschaffen hatten, in die Ecke zu treiben. Luise und Adam waren mit der passenden Ausrüstung losgezogen. Die bisher auf mehreren Welten terminierten Wächter-KIs hatten gegen die zwei Vollstrecker keine Chance gehabt.

»Das ist nicht bekannt.«

»Eva … es ist nicht nur Raven!«

»Das weiß ich!« Eva spitzte die Lippen. »Daran arbeite ich!« Ein Thema, das sie nicht mochte. Einem Delos, der Tre’heer Manehs Politik nicht schätzte, war daraus kein Strick zu drehen. Einem, der allerdings Raven ohne Freigabe unterstützte, sehr wohl. Die Suche nach möglichen Verschwörern machte das nicht einfacher, denn in einer Sache waren sich viele Delos einig: Sie verstanden sich ohne Zweifel als die führende Zivilisation der Milchstraße.

»Die Situation auf der Erde wird laufend schwieriger … viele Menschen haben Angst. Die Dummen fürchten sich vor dem Ungewissen und die Klügeren, weil sie verstehen, dass das Wohl der Menschen nur von dir abhängt.«

»Hast du Angst?«

»Ja …« Jede andere Antwort wäre gelogen gewesen. In dieser angespannten Situation war die Kontrolle des Arcurus Gates der Schlüssel zum Frieden. Alles hing an Eva, selbst eine Wächter-KI, und an vier loyalen Nessanern, die diese Verantwortung trugen. Sollte jemand einen Weg finden, sie aus dem Verkehr zu ziehen, würden die Delos wieder die Macht übernehmen. »… um dich!«

»Ich kann auf mich aufpassen … meistens jedenfalls.« Eva lächelte, sie wussten beide, dass Adam sie bereits gerettet hatte. Zweimal hatte er den Karren in letzter Sekunde aus dem Dreck gezogen. Adam Doit, ein Kleinkrimineller aus London und alles andere als eine gewinnend auftretende Person. Die Kraft, die ihm innewohnte, war etwas ganz Besonderes. Elena hielt ihn für ein stures Arschloch, ohne Manieren und mit zweifelhaften Ansichten. Und dennoch würde sie ihm im Zweifelsfall ihr Leben anvertrauen. In seiner Art war er kompromisslos und zäh wie ein Stück Leder.

»Das hoffe ich … kannst du mich mit ein paar deiner Freunde bekannt machen?« Elena dachte an ihren Job, als Botschafterin sollte sie Beziehungen pflegen. Solange sie dafür nur neben Justin stand, würde ihr das nicht gelingen.

»Das sind nicht meine Freunde.« Eva sah sich mit einem strahlenden Lächeln um und winkte zwei jünger wirkende Delos zu sich heran. Wobei deren Aussehen nichts mit dem Alter zu tun haben musste. »Ich fange mit zwei meiner Cousins an … ich zähle sie zu den Schlimmsten meiner an dunklen Seelen nicht armen Sippe: selbstverliebt, arrogant und überheblich.«

»Perfekt.« Auch Elena lächelte, genau dazu waren Empfänge da. Das hatte sie bereits als Journalistin in London erlebt. Man traf sich mit Personen, die man nicht mochte, um über Dinge zu sprechen, die einem keinen Spaß machten, um Beziehungen zu pflegen, die man besser nie belasten sollte.

 

Später. Elena lächelte tapfer und ließ sich von einer nahezu zwei Meter großen Delos abermals erklären, was für ein unbeschreiblich schönes Juwel die Erde doch sei. Ja, da hatte sie recht. Von hier aus sah sie wirklich wunderschön aus.

»Wir hätten bei unserer Abreise nicht so weit in die Ferne schweifen sollen«, erklärte die Frau, die sich Elena als Suran’amun vorgestellt hatte, mit sichtlicher Sehnsucht in den Augen. Die mühelose Kommunikation mit ihr funktionierte nur wegen des Symbioten, den Elena seit einiger Zeit in ihrem Bauch mit durchfütterte.

»Waren bereits früher Delos auf der Erde?«, fragte Elena. Die Namen erinnerten auffallend an die altägyptische Kultur.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Ihre Abreise ist für Menschen vor 28.000 Jahre geschehen … für Sie vor wenigen Wochen.«

»Das ist verwirrend, oder?« Die Delos lächelte, wobei sich ihre Wangenpartien unnatürlich in die Länge zogen. Sie beugte sich bereits die ganze Zeit zu ihr herunter.

»Ja …« Das war es wirklich.

»Wissen Sie … die Naar ist aufgebrochen, um eine neue Welt zu entdecken. Es ist anders gekommen, als wir geplant hatten … aber wir haben die Erde gefunden.« Das Lächeln wirkte wie das des bösen Wolfes, der mit Großmutters schlecht sitzender Perücke im Bett auf sein Frühstück wartete.

»Zufälle gibt es …« Elena bemühte sich, ihre Anspannung nicht offen zu zeigen. Hätten die Delos vor ihrer Abreise die Erde gekannt, wären einige Dinge in der Erdgeschichte höchstwahrscheinlich anders gelaufen. »Dafür sind Sie jetzt hier!«

»Das freut uns sehr … Elena, Sie haben wirklich einen wunderschönen Körper.« Dabei musterte Suran’amun sie wie ein neues Kleid in einer sündhaft teuren Boutique.

»Danke.« Elena sah Commander Codd an der Seite stehen, der ihr ein unauffälliges Zeichen gab. Das war ihre Rettung. Sie befürchtete wirklich, gleich mit Haut und Haaren gefressen zu werden. »Ich bitte kurz um Entschuldigung.«

Die Delos nickte gütig.

 

Elena war froh, dieser unheimlichen Person im letzten Moment vom Teller gesprungen zu sein. Sogar in der übelsten Londoner Spelunke wären ihr, nur mit einem knappen Bikini bekleidet, nicht solche durchstechenden Blicke sicher gewesen.

»Wie läuft es?«, fragte Justin.

»Ich hätte den Job ablehnen sollen …« Elena fehlte gerade jegliche Fantasie, wie man die Begehrlichkeiten der Delos in den Griff bekommen sollte. Das war eine Zivilisation, deren Individuen sich in der Vergangenheit nehmen konnten, was ihnen gefiel. In dieser Dekadenz hatten sie noch nicht einmal den Tod fürchten müssen. Und nun sahen sie in der Erde die verführerische Möglichkeit, sich an ihrem ausgehungerten Verlangen nach echtem Leben maßlos zu überfressen. Die Geschichte würde für die Menschen niemals gut ausgehen.

»Wäre klug gewesen … aber jetzt sind wir hier. Ich bin froh, Sie auf diesem Posten zu wissen.«

»Danke.« Elena lächelte bemüht. »Was ist Ihr Eindruck?«

»Militärisch oder privat?«

»Macht das einen Unterschied?«

»Wir sind geliefert.« Justin lächelte und nickte einem Rutus zu, mit dem er sich zuvor unterhalten hatte. »Die werden früher oder später nette Handpuppen aus uns machen.«

»Vermutlich …« Die Vorstellung war verstörend und kaum von der Hand zu weisen. Bei all den Waffen, die auf der Erde existierten, gab es nichts, womit sie sich gegen diese latente Bedrohung hätten wirksam verteidigen können.

»Ich habe bisher mit keinem Delos gesprochen, dem ich abkaufen würde, bei einem offenen Konflikt, Eva beizustehen. Sobald Tre’heer Maneh auch nur stolpert … geht das hier ab. Wir sitzen auf einem Pulverfass, dessen Lunte bereits brennt!«

»Eva kontrolliert das Gate!« Daran hatte Elena sich bisher immer festgeklammert.

»Und die Delos alles andere … ich kann mir nicht vorstellen, dass es keine Möglichkeit gibt, Eva und eine Handvoll Nessaner zu überrumpeln. Die Rutus würden vielleicht kämpfen, dabei aber auch elendig sterben. Danach würden die Delos aus der Erde eine Shopping Mall für Avatare machen.«

»Ich möchte eine gute Nachricht hören!«

»Die Funkverbindung zu Luise und Adam ist abgerissen … wir wissen nicht, ob sie noch leben.« Justin sagte noch mehr, was sie heute nicht hören wollte. »Ed versucht, sie zu erreichen. Red hält die Verbindung zur Erde und informiert uns in Echtzeit über die Ereignisse. Ansonsten läuft der Reiseverkehr zwischen den Welten ohne Probleme. Das Arcurus Gate funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk.«

»Gute Nachrichten, bitte!«

»Raven bekommt Hilfe!«

»Das ist keine gute Nachricht!«

»Sie wäre allein nicht auf die entlegene Raumstation gekommen und sie hätte auch nicht allein die verschlüsselte Verbindung zu Luise und Adam unterbrechen können … egal, wer ihr hilft, diese Person versteht es, unerkannt zu bleiben.«

»Das weiß ich …« Elena wurde mehr und mehr ihre Hilflosigkeit bewusst. Ihre Aufgabe war es, mit diplomatischen Mitteln eine wertvolle Vase zu retten, die bereits zerbrochen auf dem Boden lag. Im Hintergrund zogen andere die Fäden.

Justins Gesichtszüge verfinsterten sich. »Bringen Sie Eva dazu, die Naar zu zerstören!«

»Das würde sie nicht tun!«

»Vermutlich!«

»Das würde ich nicht von ihr verlangen!«

»Sicherlich!«

»Das ist Wahnsinn!«

»Auf jeden Fall!«

»Mistkerl!« Elena wandte sich ab von ihm, die Situation implodierte, ohne daran noch etwas ändern zu können.

»Entschuldige …«

»Justin …« Elena sah ihn mit zusammengepressten Lippen an, sollte sie ihm wirklich anlasten, die Gefahr offen auszusprechen, die sie beide sahen? Er war ihr Militärattaché, damit kannte er sich aus, genau das war seine Aufgabe.

»Im Kalten Krieg gab es zwei mehr oder weniger ähnlich strukturierte Machtblöcke, die sich gegenseitig einschüchtern konnten… die Situation heute ist völlig anders. Die Menschheit könnte nur um Gnade winseln … mehr bliebe uns nicht.«

»Eva hält das Gate!«

»Genau deswegen stehen wir hier … Sie haben gerade mit einigen Delos gesprochen. War jemand dabei, auf den Sie bei einer Krise setzen würden?«

»Nein …«

»Botschafterin Gutierrez!«, sagte jemand mit einer Lautstärke, dass jeder auf dem Empfang ihn hören konnte. Eine ungewöhnlich junge Stimme, die in dem ansonsten eher seniorigen Rahmen auffiel.

»Ja …« Elena drehte sich um. Justin legte die Hände hinter dem Rücken zusammen.

»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erklärte ein junger Farbiger in Jeans, Pink Floyd „ wish-you-were-here“ T-Shirt und dreckigen Sneakers, der auf diesen Empfang so gut passte wie auf die nächste Jahreshauptversammlung des Klu Klux Klan.

»Mit wem habe ich das Vergnügen?« Elena versuchte, die ungewöhnliche Situation zu erfassen. Bei Delos, Rutus oder auch Lemorianern gab es keine erkennbaren Rassenunterschiede, bei Menschen schon. Was wollte dieser Party-Crasher von ihnen, der wie jemand von der Erde aussah, es aber sicherlich nicht war. Justin und sie waren auf diesem Empfang die Einzigen.

»Avan, nennen Sie mich Avan.«

»Hallo Avan … und weiter?«

»Reicht Avan nicht?«

»Doch natürlich.« Der Moment wirkte surreal, Avan schien sich prächtig zu amüsieren. Jedenfalls mehr als die Delos-Mumien, die ihn gerade mit Blicken in ein Häufchen Asche zu verwandeln versuchten. »Ich möchte ehrlich sein … ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen helfen …«

»Ah … es war nicht zu verhindern.« Eva, die während der ganzen Zeit mit anderen Gästen gesprochen hatte, kam schnell auf sie zu. So, als ob Avan ohne Erlaubnis ihrer betreuten Gruppe für verhaltensauffällige Kinder entlaufen wäre.

»Ant'hariomun.« Er lachte und schloss Eva in die Arme, die das nur widerwillig über sich ergehen ließ. Natürlich bemerkte er ihre Zurückweisung und ließ prompt von ihr ab. »Machen das Menschen etwa nicht so?«

»Du bist kein Mensch!«

»Das bist du auch nicht!«, gab er bissig zurück, wobei seine herzliche Mimik nicht zu den Worten passen wollte.

Elena hielt es für besser, den Rückzug anzutreten, die beiden kannten sich, ohne sich dabei zu mögen. »Ich denke, ich lasse euch besser kurz allein.«

»Bitte nicht!« Eva erhob die Hand.

Elena zuckte zusammen, solche Gesten kannte sie von Eva nicht. War das überhaupt noch eine Bitte? Und wäre Elena in der Lage gewesen, ihr diesen Wunsch abzuschlagen?

»Das ist …« Eva gelang es nicht, die Vorstellung des jungen Farbigen abzuschließen, der, was Elena nicht überraschte, selbstverständlich kein Mensch war.

»Avan … mein Name ist Avan. Hey … ich habe mich bereits vorgestellt. Die Botschafterin ist eine sehr nette Person, die zudem auch höflicher ist als du!«

»Avan?« Eva verschluckte sich fast.

»Als ob dein Name früher Eva gewesen wäre?« Er zuckte mit den Schultern. »Also … Mensch zu sein ist doch dieser Tage der heißeste Scheiß!«

»Ähm …« Elena hatte sich selten so deplatziert gefühlt, sie wäre am liebsten im Boden versunken.

»Oder?« Avan sah Elena fordern an. »Frau Botschafterin, sagt man das auf der Erde nicht so?«

»Also Avan!« Eva verschränkte die Arme. »Kannst du dich einmal nicht wie ein Vollidiot benehmen!«

»Aber Eva, liebste Schwester, natürlich kann ich das!« Avan streckte die Arme nach oben und drehte sich im Kreis. »Wer würde auch der Tochter Tre’heer Manehs einen Wunsch abschlagen können? Nein, das würde hier niemand tun, oder? Wie auch … wenn sie alle mit der Waffe bedroht, die ihr zu unserem Schutz anvertraut wurde!«

»Du wirst ewig ein Idiot bleiben!« Eva zeigte deutlich, was sie von Avans Auftritt hielt.

»Genau … seht alle her! Ich bin es! Der Idiot! Avan, ihr kennt mich! Der Idiot, der von seinem Vater archiviert zurückgelassen wurde! Der Idiot, den seine große Schwester, eine loyale Wächterin, während der letzten 28.000 Jahre mühelos hätte befreien können! Der Idiot, den man vergessen hatte zu löschen! Der Idiot, dem man jetzt wieder einen Körper gegeben hat! Einen menschlichen Körper sogar! Einen Körper, nach dem sich jeder Delos sehnt! Nicht künstlich gezüchtet, sondern gezeugt, ausgetragen und geboren … selbstverständlich nicht von mir. Die arme Sau, der dieser Körper mal gehört hat, kenne ich nicht. Schwesterlein, wunderschöne Eva, kanntest du ihn?«

»Nein!«, fauchte Eva.

»Wirklich nicht?« Avan lachte, er unterhielt inzwischen den gesamten Empfang. Gut vierhundert Gäste hörten zu. Niemand sagte ein Wort, was definitiv an der Bedeutung seiner Familie lag. »Er ist aus deinem Kleiderschrank … du hast ihn dir von der Erde schicken lassen. Ein wirklich toller Typ, ich mag ihn. Hat es dir wenigstens Spaß gemacht, seine Seele zu fressen?«

»Du hast nichts verstanden!«

»Was habe ich nicht verstanden?« Er ging auf sie zu, Eva wich zwei Schritte zurück. »Wie man sich nimmt, was man möchte … und andere dafür verurteilt, wenn sie dasselbe tun?«

»Ich hätte dir diesen Körper nicht geben lassen sollen!«, rief Eva wütend. Es war nicht die beste Werbung für ihre politische Linie, wenn sie bereits in ihrer Familie die Kontrolle verlor. Ihr kleiner Bruder blamierte sie vor dem gesamten Empfang. Elena spielte in diesem Moment keine Rolle mehr.

»Na ja, wie gesagt, er gefällt mir gut … wirklich richtig gut. So echt, so lebendig. Keiner der künstlichen Blutsäcke kommt dem nahe … also ich kann nur jedem empfehlen, falls er die Gelegenheit dazu bekommt, nicht zu zögern und zuzuschlagen. Schnappt euch einen Menschen, schlagt ihn nieder und nehmt ihn mit …«

»Avan! Halte den Mund!«, fuhr Eva ihn an.

»NEIN!« Er drehte sich wieder herum. »Reißt diesem Menschen die Seele aus dem Leib! Tötet ihn! Löscht sein Bewusstsein aus! Vernichtet alles, was er jemals gewesen ist! Erst dann könnt ihr mit der kalten Kopie des Monsters, das ihr einmal gewesen wart, Besitz von ihm ergreifen und das ihm gestohlenes Leben leben!«

Die Menge wurde unruhiger. Das war eine Mischung aus Ablehnung einiger weniger und Zustimmung der Mehrheit. Avan zerrte sie vor einen Spiegel und kaum jemand schien sich an diesem fratzenhaften Spiegelbild zu stören.

»Dominanz!«, tönte es von der Seite.

»Die Delos herrschen!«, ergänzte jemand von weiter hinten. »Wir beugen uns niemals!«

»Es ist unser Recht!«

»Delos herrschen!«

»RUHE JETZT!«, schrie Eva und zeigte mit dem Finger auf ihren kleinen Bruder.

»Das steht ihr nicht zu!«, brüllte ein weiterer Delos. Die bemerkten noch nicht einmal den Widerspruch in Avans Anklage, die waren sich nur darin einig, Eva abzulehnen.

»Hörst du Eva? Ich bin nicht alleine! Du nimmst dir das Recht heraus, zu herrschen! Glaub mir, das steht dir nicht zu!«

»SCHWEIG!« Eva verzog den Mund und strich mit der Hand durch die Luft, worauf Avan leblos zu Boden ging. Deutlicher konnte sie den anderen nicht zeigen, wer hier die Kontrolle ausübte. Elena hatte nicht gewusst, dass Eva andere einfach ausknipsen konnte.

»Was hat sie getan?«

»Habt ihr das gesehen?«

»Das ist doch ihr Bruder!«

»Nein!«, Unglaublich!«, »Das kann sie doch nicht tun!«, »Ist sie wirklich noch eine von uns?«

»ALLE SCHWEIGEN JETZT! RUHE!« Egal, was Eva mit dieser diplomatischen Veranstaltung hatte erreichen wollen, es war jetzt null und nichtig. Um sich Vertrauen, Völkerverständigung und Respekt zu erarbeiten, brauchte es Jahre, um selbiges zu zerstören nur Sekunden.

Stille.

»Hört mir zu!« Eva sprach nach einer Gedankenpause weiter. »Das Leben ist größer als wir … viel größer. Deswegen kämpfe ich dafür. Mir ist durchaus bewusst, wer ich bin und welches Erbe ich trage. Nur deswegen kann ich tun, was ich tue. Ich akzeptiere das Leben, ich ringe mit ihm, ich lebe es. Dabei bin ich nicht ohne Schuld, wie es niemand von uns ist, aber jeder von uns kann entscheiden, wer er morgen sein möchte. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und mich entschieden, die Zukunft der Delos in andere Bahnen zu lenken ... wir werden nicht länger fremdes Leben verachten!«

»Unglaublich!«

»Skandal!«

»So eine Frechheit!«

»Dass sie sich das wagt!«

»HÖRT MIR ZU!«, Eva zeigte sich entschlossen. Elena war froh, sie auf der Seite der Menschen zu wissen. Ihr war aber auch klar, dass diese klare Positionierung auch mögliche Gegner motivieren würde, nun offen gegen sie vorzugehen.

»Hört mir alle zu!« Die Allgemeinheit wurde ruhiger. »Wir kontrollieren das Arcurus Gate und sämtliche zentrale Systeme der Naar!« Sie sah sich einen Moment um. »Schließt euch unserer Politik an! Wir sind nicht allein. Wir haben Verbündete: Rutus, Lemorianer, Menschen und weitere Völker, für deren freies und selbstbestimmtes Leben wir uns einsetzen werden!«

Stille kehrte ein. Alle sahen sie an. Elena war in diesem Moment nur eine von vielen. Mit der festlichen Stimmung auf dem interstellaren Empfang war es jedenfalls vorbei.

»Wir reichen jedem die Hand. Dabei respektieren wir durchaus andere Meinungen. Wir können darüber reden. Weswegen wir die unter uns, die der abtrünnigen Wächter-KI Raven geholfen haben, auffordern, ihren Weg zu überdenken. Noch können wir uns in Freundschaft die Hände reichen und unsere Zukunft gemeinsam gestalten. Wenn erst das Blut Unschuldiger daran klebt ... ist es zu spät.«

Elena hatte keine Ahnung, was nun geschehen würde, aber dieser denkwürdige Empfang würde Narben hinterlassen. Dessen war sie sich sicher.

 

***