VI. Es ist nichts passiert

Die diplomatische Veranstaltung auf der Nesiah war vorbei. Trotz Evas versöhnlicher Ansprache hatte sich Elena in der letzten Stunde nicht wohlgefühlt. Da passierte etwas, auch wenn sie es nicht näher beschreiben konnte. Allen auf der Erde drohte Gefahr, dessen war sie sich inzwischen sicher. Dabei lag es weniger an den wohlgefeilten Formulierungen der Anwesenden, sondern mehr an der Art, wie einige Elena angesehen hatten. Sie hatte dabei an einen Goldfisch denken müssen, der in seinem oben offenen Glas ausharrte, während sich mehrere fette Katzen bereits die Tatzen leckten.

»Frau Botschafterin …«, erklärte ein russischer Soldat, Dimitri, der den Zugang zum Gleiter bewachte. Groß, kurze Haare, kantiges Gesicht, ein Russe wie aus einer Hochglanzbroschüre der Streitkräfte. Aufgewachsen in Manchester und ein glühender City-Fan. Sie hätte ihn wegen des Symbioten in ihrem Bauch auch auf Russisch, alt-hebräisch oder neo-mongolisch verstanden. Sie war die Botschafterin der Erde, weswegen das Sicherheitsteam, das sie eskortierte, auch passend international besetzt war. Bewaffnete protokollarische Kräfte hätte ihre sechsköpfige Truppe zwar besser beschrieben, aber sie vertraute dem Team. Zu einer echten Gegenwehr wären sie hier nahe dem Mars ohnehin nicht in der Lage gewesen. Dafür waren sie alle zu weit von ihrer Heimat entfernt.

»Danke.« Elena betrat den Gleiter, den die Delos ihrer Delegation freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatten. Die Rückreise zur Erde würde kaum länger dauern, als eine Taxifahrt vom Piccadilly zum Londoner City Airport. Raumschiffe der Erde hätten für diesen Ausflug ein Jahr oder länger benötigt, wenn sie denn überhaupt angekommen wären. Noch hatte kein Mensch den Mars betreten, was allerdings in wenigen Wochen geplant war.

»Jetzt schau nicht so betrübt«, erklärte Commander Codd, der ihr mit drei Schritten Abstand folgte. Sie würden beide zur Erde fliegen. Dort sollte eine dringende Besprechung mit ausgesuchten politischen und militärischen Führern stattfinden.

»Aber du hast es doch selbst gesagt …« Elena setzte sich in einen von vier freien weißen Clubsesseln. Justin nahm gegenüber Platz. Zum Glück hatten Delos und Menschen eine ähnliche Anatomie. Die hatten den Gleiter nicht umbauen müssen.

Er lächelte. »Ich weiß, was ich gesagt habe … ich möchte dennoch nicht meine Zuversicht verlieren.«

»Die ziehen uns in Kürze das Fell über die Ohren!«

»Denkbar … aber noch leben wir!«

»Justin!«

»Elena, ich habe nach dem Verlust der HMS Queen Elisabeth nicht erwartet, länger als einige Stunden zu überleben … ich tat es dennoch. Und du mit mir.«

»Ma’am, wir starten«, erklärte die Pilotin, eine Chinesin, über einen Lautsprecher.

Elena nickte, während sich der Gleiter mit einem lauten Klack-Geräusch aus der Arretierung der Naar löste. Breite Fenster an den Seiten erlaubten einen freien Blick auf die Erde, die aus dieser Entfernung wie eine kleine glitzernde Murmel aussah, die jemand auf dem Boden eines dunklen Raums vergessen hatte. Sie biss sich auf die Lippe, sie hatte Angst. Angst, nie wieder heimzukehren.

Sie aktivierte ein holografisches Display, auf dem Nachrichten von der Erde gezeigt wurden. Die Straßen in vielen Großstädten auf dem Globus brannten: Buenos Aires, London, Moskau, Sidney, Hongkong, Berlin, Rom und New York. Abermillionen gingen auf die Straße, um gegen die Delos zu demonstrieren. Oder gegen das Arcurus Gate, gegen die Rutus, gegen Eva, und auch Luise und Adam waren nicht beliebt. Viele hielten sie wegen der lemorianischen Augen für Verräter oder bezweifelten, dass sie jemals Menschen gewesen waren. Es wurde offen gefordert, den ungebetenen extraterrestrischen Gästen eine Rakete mit einem Nuklearsprengkopf auf den Pelz zu brennen. Und wenn eine nicht reichen würde, dann gerne auch mehrere.

»Ich brauche eine Verbindung …«, sagte sie, während sie sich zwei Finger an den Hals legte. Eine Geste, damit der virtuelle Assistent wusste, dass er gemeint war. Der Nachrichtensprecher sprach davon, dass die Polizeikräfte große Probleme hatten, der Unruhen Herr zu werden, und dass bereits unzählige Opfer zu beklagen wären.

»Kanal geöffnet … wen möchten Sie sprechen ?«, fragte eine weiß und schlicht gekleidete weibliche Concierge, die sich neben ihnen manifestierte.

»Ich brauche das Arcurus Gate.« Elena musste loswerden, was sie auf dem Herzen liegen hatte.

»Hallo Elena …« Das war Ed, deren Hologramm einen Teil der Bordwand überdeckte. Man hätte denken können, mit nur wenigen Schritten die Brücke des Gates betreten zu können. Weiter hinten standen Red und Po, die jeweils an ihren Konsolen arbeiteten. Eds Stimme klang wie nur wenige Meter von ihr entfernt.

»Ed … wir sind auf dem Rückweg zur Erde.«

»Ich habe es schon gehört … es lief nicht so gut, oder?« Ed war wie immer gut informiert. Sie hatte sich ihre blonden Haare kurz schneiden lassen und ging inzwischen fast als Luises Schwester durch. Die Nessanerin lernte schnell, vermutlich wollte sie im Gegensatz zu Red und Po, die damit eher kokettierten, nicht als Püppchen gesehen werden. Justin deaktivierte den erschreckenden Stream von der Erde.

»Ich werde dazu einen Bericht schreiben … Ed, bitte gib mir ein Update zur Sicherheitslage auf der Naar.«

»Alles im grünen Bereich.«

»Keine Auffälligkeiten?«

»Keine.«

»Verstehe …« Elena sah kurz zu Boden, natürlich war diese Geschichte nicht so einfach aufzulösen. Im Moment fehlten ihr zu ihrem Verdacht mögliche Täter oder Motive. Mist, wenn sie ehrlich war, hatte sie bis auf ihr schlechtes Bauchgefühl überhaupt nichts.

»Hast du etwas anderes mitbekommen?«, fragte Ed, die inzwischen Elena lang genug kannte, um zwischen den Zeilen lesen zu können. Dafür musste man bei ihren fingernageltiefen Riefen auf der Stirn auch kein Hellseher sein.

»Es ist nur ein Gefühl …« Elena bemerkte gerade, wie blöd sich ihr Verdacht anhören musste. Das war so wie bei einem Teenager, der, nur weil ihr erster Freund kurz einer anderen nachsah, ihn verdächtigte, sie zu hintergehen. Stellte sie sich gerade ähnlich naiv an? Sie wusste es nicht genau.

»Ich kontrolliere alle Systeme.«

»Danke.«

»Und danach kontrolliere ich sie ein weiteres Mal …« Ed verstand sehr genau, wie ernst es Elena mit ihrer Sorge war.

»Ich vertraue dir …«

„Es gibt auch gute Nachrichten.«

Elenas Gesicht erhellte sich. »Welche?« Das war ein günstiger Moment für gute Nachrichten.

»Luise und Adam sind zurück.«

»Und?« Sie lächelte.

»Sie haben Raven erwischt!«

»Fantastisch!« Das war wirklich eine positive Neuigkeit. Raven galt unter den abtrünnigen Wächter-KIs als die gefährlichste Signatur, ihr konnte man jede denkbare Schlechtigkeit zutrauen. Sie beseitigt zu haben, war ein Schritt in eine bessere Zukunft. Elena war in den letzten Wochen und nach zahlreichen erfolglosen Versuchen sie zu stellen, nicht davon ausgegangen, sie zeitnah festnageln zu können. Und jetzt war es doch geschehen. Luise und Adam hatten es möglich gemacht, denen einigen auf der Erde diesen Job nicht zutrauten. Luise galt unter den Militärs und Politikern als mental zerrüttet und Adam ging für diese hohen Herren höchstens als schlechter Witz durch. An dieser Haltung hatten auch die bemerkenswerten Leistungen der beiden nichts geändert. Aber da Eva und Milena an ihnen festhielten, taten die beiden weiterhin, was sie taten: Sie brachten eine Wächter-KI nach der anderen zur Strecke.

»Adam ist bei dem letzten Einsatz verletzt worden.«

»Schlimm?«

»Nein … Luise hat ihm wenige Minuten vor dem Einsatz eröffnet, dass er bald Vater wird. Das hat ihm dann wohl kurz die Beine unter dem Hintern weggezogen. Er ist aber wieder fit. Keine Sorge, ich habe ihn sehr gründlich untersucht. Er ist gesund. Raven hat damit nichts zu tun gehabt.«

»Oh …« Elena schmunzelte und freute sich für die zwei. Allerdings wusste sie noch nicht, ob ihr das Kind leidtun sollte. Nein, das war Blödsinn, ein Kind zu bekommen, war immer etwas ganz Besonderes. »Ich wünsche ihnen alles Gute!«

»Ich werde es ausrichten.«

»Möchtest du mit Eva sprechen?«, fragte Ed und lächelte Elena an, so echt, als ob sie einen Meter vor ihr stehen würde.

»Das wäre toll …«

»Sie ist gerade in der Leitung … ich aktiviere ihren Feed.« Mit den Worten aktivierte sich Evas Hologramm, die ein silberner Schatten umgab. Wo sie sich gerade befand, konnte Elena nicht erkennen. Die Verbindung zeigte auch einige Pixelfehler und kurze Verzerrungen an, was auf eine sehr weite Verbindung hindeutete.

»Hallo Elena …«

„Eva.« Sie nickte. Für einen Moment glaubte sie, im Hintergrund große Bäume sehen zu können. Seltsame Bäume, deren skurrile Formen nicht auf der Erde und auch nicht auf Arcurus vorkamen. Es gab noch viele weitere Welten, die Elena gerne in Zukunft bereisen würde. »Wo bist du gerade?«

»Zenit 122 … ein System der Puta-III-Klasse. Glaub mir, keine schöne Welt.«

»Aber grün.«

»Zu grün … es gibt hier eigentlich nichts, was meinen Avatar nicht fressen will.« Eva ging zu einem der Clubsessel des Gleiters und setzte sich. An ihren hohen Stiefeln klebte ein undefinierbarer grün-rot-schwarzer Dreck. Und auch einige zentimeterlange dünne Ärmchen. Elena wollte nicht wissen, von wem die stammten.

»Eva, ich möchte nicht um den heißen Brei reden.« Elena sah Justin an, der ihr zunickte. »Ich denke, dass die Beziehungen zwischen Delos und Menschen sich abkühlen.« Das war die diplomatischste Formulierung, die ihr einfiel.

»Die Beziehung ist scheiße!« Eva drückte sich weniger höflich aus, sie waren offenbar beide derselben Meinung.

»Ähm … ja.«

»Vorbehalte, Stolz und purer Starrsinn … es ist nicht leicht, meinem Volk einen neuen Weg zu zeigen. Viele leben immer noch in unserer ach so glorreichen Vergangenheit, die für uns, die zurückblieben, 28.000 Jahre zurückliegt. Für sie aber nur wenige Wochen.« Eva ließ an ihrer Schulter zwei kleine Tiere zerplatzen, die noch nicht verstanden hatten, wie unverdaulich Delos waren.

»Das ist wahr.«

„Elena, ich habe eine Bitte an dich.«

»Ja …«

»Ich weiß, wie du über das heutige Treffen denkst … ich kann mich nur für die Meinen entschuldigen. Nein, eigentlich gibt es für die meisten von ihnen keine Entschuldigung … sie haben sich unmöglich verhalten. Ich kämpfe dagegen an, aber es braucht Zeit.«

»Verstehe …«

»Ich teile deine Befürchtungen, weswegen Ed meinem Volk noch genauer auf die Finger gucken wird. Wir werden denen absolut nichts durchgehen lassen … und sicherlich wird sich keiner von denen auf der Erde mit neuen Avataren eindecken.«

»Sehr gut!«

»Das verspreche ich dir!«

»Danke.« Evas Worte beruhigten sie.

»Wir haben die Naar im Griff … wir kontrollieren alle Systeme. Nichts kann uns entgehen. Wir bekommen auch tatkräftige Hilfe, die Wächter-KIs zu jagen, wenn … glaub mir, wenn an Bord jemand etwas versuchen sollte, wir würden es bemerken. Deshalb musst du dir keine Sorgen machen … die Erde ist sicher.«

»Das werden einige Personen auf der Erde gerne hören.« Um nicht zu sagen jeder, mit dem sie gleich verabredet war. Es würde nur um dieses eine Thema gehen.

»Deswegen wollte ich mit dir sprechen …«

»Ich höre …« Elena war in diesem Moment nicht klar, was Eva von ihr wollte.

»Du bist die Botschafterin der Erde … ich bitte dich deswegen, eine Botschaft von mir zu übermitteln: Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, ich verstehe, dass viele Menschen sich dennoch fürchten … aber das ist nicht notwendig. Mein Wunsch ist es, auf beiden Seiten für Vertrauen zu werben … dafür brauche ich deine Unterstützung. Alleine würde ich es nicht schaffen, aber wenn du anderen Menschen erzählst, was du erlebt hast, was du denkst und wem du vertraust, werden sie dir zuhören. Da bin ich mir sicher.«

Elena schluckte.

»Würdest du das für mich tun?«

Elena wischte sich mit der Hand über den Mund, sie suchte nach den richtigen Worten.

»Hast du Angst?«

»Ja.« Jede andere Antwort wäre eine Lüge gewesen, natürlich hatte sie Angst.

»Die habe ich auch … es geht um so viel. Nein, das sind nicht die richtigen Worte … es geht um alles.« Eva sah ihr in die Augen, kaum einen halben Meter von ihr entfernt. Normalerweise hätte Elena bereits ihre braunen Haare riechen müssen. »Aber genau deswegen stelle ich mich meinen Ängsten!«

»Es ist schwer …« Elena spürte, wie die Last auf ihren Schultern zunahm, sie sollte für etwas werben, an das sie gerne glauben würde, es aber nicht zweifelsfrei konnte.

»Die Stimmung auf der Erde ist vergiftet … es gibt Demonstrationen, die Menschen gehen auf die Straße und fordern ihre Regierungen auf, sie zu beschützen«, sagte Justin und presste die Lippen zusammen. »Es will niemand einen Krieg erleben … aber immer mehr Menschen halten ihn für unausweichlich. Die Politiker, mit denen wir reden, wie auch die Generäle sind vernünftig, sie wehren sich dagegen, nach Gewalt zu rufen … aber auch sie fürchten sich, dem Druck der Demonstranten nicht mehr lange standhalten zu können.«

»Elena, Justin … wenn es uns nicht gelingt, die aufkommende Stimmung auf der Naar und auf der Erde in den Griff zu bekommen, wird es auf jeden Fall Ärger geben. Es gibt auch die Rutus, denen ebenfalls nur ein Vorwand genügt, um ihre Flotte gegen die Naar in den Kampf zu schicken. Ich möchte nicht Ed den Befehl geben müssen, mit dem Gate auf Rutus oder Delos zu schießen!«

»Ich bin auf deiner Seite!« Elena nickte, ihre Furcht änderte nichts daran, dass es zu Evas Plan, die Parteien zu beruhigen, keine Alternative gab. Wer einen Krieg gewinnen würde, wusste sie nicht, ihr war aber sonnenklar, dass die gute alte Erde auf jeden Fall zu den Verlierern gehören würde.

»Danke …«

 

Der Gleiter senkte sich über einem neu errichteten Gleiter-Port, der in einhundert Meter Höhe schwerelos über der Themse schwebte. An vielen Orten auf der Erde bauten Menschen nun Dinge mit Delos-Wissen. Heute war der 8. November 2020, die Welt war in Aufruhr, nicht nur wegen der Außerirdischen. In den Staaten hatten sich die Amerikaner endlich dazu durchringen können, Trump auf den Merkur zu schießen. Auf dem Mond wollte ihn niemand haben, dort wurde bereits eine neue Raumstation errichtet.

»Da unten ist ganz schön was los …« Justin folgte dem Anflug aus dem Fenster heraus. Zahlreiche Fabriken auf der ganzen Welt hatten bereits angefangen, ähnliche Gleiter zu fertigen, 2021 würde man vermutlich auf der Erde kaum noch ein herkömmliches Flugzeug am Himmel sehen. Alles veränderte sich. In einer Geschwindigkeit, der man kaum noch folgen konnte.

»Läuft da eine Demonstration?« Elena konnte es nicht richtig erkennen, draußen war es bereits dunkel. Das pulsierende Licht auf Londons Straßen ließ die Stadt wie ein lebendes Organ wirken. Ein passender Vergleich, da die Menschen wie Antikörper gegen die Eindringlinge vorzugehen versuchten.

»Und was für eine …« Justin überprüfte Meldungen auf seinem Smartphone. »Wir werden von knapp 100.000 Menschen erwartet. Die wollen meinen Skalp.«

»Nur deinen?«

»Ich würde mich für dich opfern!« Justin löste die Gurte und stand auf. Der Gleiter machte gerade mit einem stattlichen metallischen Klacken an den Haltemanschetten fest.

»Wenn ich dich nicht hätte …« Auch Elena löste die Gurte. Die Rückkehr zur Erde war alles andere als heroisch, jeder von denen, die da unten vermutlich mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet auf sie warteten, wusste ganz genau, wo sie herkamen.

»Müssen wir jetzt wirklich eine Pressekonferenz über uns ergehen lassen?« Elena schüttelte den Kopf, sie würde viel lieber duschen und sich dann unter eine Bettdecke verkriechen.

»Ganz genau!« Justin reichte ihr einen Mantel, das Abendkleid würde bei der spontan einberufenen Pressekonferenz höchstwahrscheinlich die falschen Signale senden. »Frau Botschafterin.«

»Danke.«

 

»Frau Botschafterin, ist es richtig, dass Delos ein sehr großes Interesse daran haben, menschliche Körper zu benutzen?«, fragte eine asiatische Journalistin mit französischem Akzent. Natürlich hatten sich die Begierden ihrer Gäste nicht verheimlichen lassen. Eva selbst hatte allen gezeigt, wie man sich nahm, was einem gefiel, und dabei galt sie noch als die einzig wahre Beschützerin der Erde. Inzwischen war der Name der jungen Frau bekannt geworden, deren Bewusstsein sie bei der Übernahme des Avatars vor vier Jahren ausgemerzt hatte. Eine bildhübsche zweiundzwanzigjährige Italienerin, eine Studentin und erfolgreiche Leichtathletin, deren Familie sie damals als vermisst gemeldet hatte. Natürlich hatten Bilder von Eva, die durch die internationale Presse gingen, dafür gesorgt, dass die Familie das Mädchen wiedererkannt hatte.

»Glauben Sie, dass Eva uns wirklich beschützen kann?«, fragte ein bärtiger Mann.

»Hat Eva nicht selbst Menschen getötet?«, rief jemand von der Seite. Die Lautstärke nahm zu.

»Caterina di Maria … die Kleine hieß Caterina di Maria. Vermisst in Verona seit dem 14. Mai 2016.« Eine weitere Journalistin sorgte für Details.

Elena hob die Hand, darauf wollte sie antworten. »Wir sollten uns alle die Situation vergegenwärtigen. Eva ist trotz ihrer biblischen Namenswahl sicherlich kein Engel. Sie ist das Produkt ihrer Gesellschaft, aufgezogen in einem anderen Zeitgeist und unter völlig anderen Umständen. Ich denke, dass wir uns zurücknehmen sollten, über eine Zivilisation zu richten, die es geschafft hat, sehr, sehr alt zu werden.«

»Hat Sie getötet?«, ertönte es erneut aus einer anderen Ecke. Die gespannte Stimmung in dem Eingangsbereich des Gleiter-Portals machte es nicht leichter. Über zweihundert Pressevertreter hatten Justin und sie umzingelt. Dimitri und das kleine Sicherheitsteam gaben, was sie konnten, damit man sie in dieser schlecht organisierten Pressekonferenz nicht an die Wand drückte.

»Eva, ihr Geburtsname ist Ant'hariomun, hat sich gegen ihr bisheriges Leben entschieden. Sie hat sich auch dafür entschieden, den Schutz der Menschen über die Interessen der Delos zu stellen.« Elena versuchte, zu antworten und dabei den kritischen Aussagen so gut es ging aus dem Weg zu gehen.

»Hat Eva Caterina di Maria getötet, um ihren jugendlichen Körper wie ein Kleid zu benutzen?« Die Journalistin, die diese Frage stellte, machte mit dieser Wortwahl nur zu deutlich, dass sie dafür keinerlei Verständnis aufbrachte.

Es wurde lauter.

»Bitte! Meine Damen, meine Herren, ich bitte Sie um Ruhe! Lassen Sie die Botschafterin zu Wort kommen!«, rief Justin, der sich gemeinsam mit Dimitri breitbeinig vor Elena aufbaute. Die Blickkontakte sagten alles, die Spannung nahm zu. Alle standen, überall wurde geschoben und gedrückt. Die Lautstärke war ohrenbetäubend.

»Wir brechen ab …«, sagte Dimitri und winkte zwei seiner Leute zu sich heran. Sie versuchten, Elena so gut es ging abzuschirmen. Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Situation, die ganze Wut drohte sich nun gegen sie zu entladen.

»Frau Botschafterin, nehmen Sie Eva für den Mord an Caterina di Maria in Schutz? Wird es ein Verfahren geben? Oder hat sich die Justiz den fremden Invasoren bereits ergeben?«

Mit den Worten wurde es noch lauter. Zahlreiche Personen riefen weitere Fragen, zu verstehen waren sie nicht mehr. Am Ausgang wedelte ein Mann mit den Armen. Was wollte er? Er hob ein Pad-System in die Luft und tippte mit der anderen Hand darauf. Bestimmt sagte er dazu auch etwas, verstehen konnte Elena ihn nicht. Dimitri und die anderen Securitys versuchten, sie seitlich von der provisorischen Bühne aus der Menge herauszuführen.

»KOPENHAGEN! ES IST IN KOPENHAGEN PASSIERT!«, brüllte ein Mann in einer Lautstärke, die den Tumult zu übertönen schaffte. Elena hatte keinen blassen Schimmer, was heute in der dänischen Hauptstadt passiert sein sollte.

Zahlreiche Journalisten wandten sich von der Bühne ab, die meisten kontrollierten ihre mobilen Geräte.

»Los!« Dimitri drückte Elenas Kopf nach unten, hielt seinen Arm schützend über ihren Rücken und schob sie durch die Menge. »Wir gehen!«

Justin ging vor, die anderen Bodyguards schützten ihre Flanken. Noch zog niemand von ihnen eine Waffe.

»Steht die Limousine bereit?«, fragte Dimitri, sie verließen die Halle durch eine seitliche Tür. Kaum einer der Journalisten reagierte auf ihre Flucht. Egal, was in Kopenhagen passiert war, die Nachricht musste es in sich haben. Alle blickten sie auf ihre Telefone oder Pad-Computer. Hände wurden erschrocken vor den Mund genommen oder der Kopf hilflos geschüttelt.

»Weiter!« Dimitri drückte auf die Zeit, sie liefen eine Treppe herunter, ließen eine weitere Tür hinter sich und kamen an die frische Luft. Vierzehn Grad Celsius und Regen, also bestes britisches Novemberwetter. Einer von Dimitris Leuten hielt die Tür eines schweren dunklen SUVs geöffnet. Der Motor lief bereits. Daneben stand ein zweiter Wagen.

»Alle einsteigen!« Er gab den Ton an, das Ganze dauerte nur Sekunden, dann schlossen sich die Türen und sie fuhren los.

»Was ist passiert?«, rief Elena einen Moment später. Der Fahrer trat aufs Gas.

»Ma’am, es gab einen Anschlag«, antwortete die Fahrerin, die eine Uniform trug.

»In Kopenhagen?« Elena kam jetzt endlich an ihr eigenes Smartphone heran, um eine BBC Seite aufzurufen. Der Stream zeigte dänische Polizisten, die eine Straßensperre errichteten. Die Kamera schwenkte auf eine britische Journalistin, die mit einem Schal um den Hals gewickelt, ein BBC-Mikrofon festhielt.

»… die Ermittlungen der Behörden haben gerade erst begonnen. Die Bluttat fand in der belebten Fußgängerzone Strøget statt. Was wissen wir? Zwei unbekannte Personen haben dort mit Handfeuerwaffen aus nächster Nähe das Feuer auf eine Rutus eröffnet, die dort mit ihren zwei Kindern einkaufen war.«

»Nein … bitte nicht.« Auch Elena hielt sich jetzt erschrocken die Hand vor den Mund. Niemand im Wagen sagte einen Ton. Zwei Streifenwagen der Metropolitan Police übernahmen die Führung der Kolonne und sorgten für freie Fahrt.

»Bei dem Anschlag wurden die Rutus, ihre beiden Kinder und zwei weitere Passanten getötet. Weiterhin ist bekannt, dass zwölf Verletzte in Krankenhäuser gebracht wurden. Zwei davon befinden sich ersten Aussagen nach in einem kritischen Zustand.«

»Welcher Idiot war das?«, fragte Justin und legte müde das Gesicht in seine Hände.

»Das hätte nicht passieren dürfen!« In Elenas Kopf drehten sich die Gedanken. Die wenigen Rutus, die sich offiziell auf der Erde aufhielten, waren alles Diplomaten. Sie wusste nur von einem Rutus, der auch seine Familie mitgebracht hatte. Milenas Bruder, der Botschafter ihres Volkes auf der Erde. Er residierte eigentlich in London. Warum seine Frau Kopenhagen besucht hatte, wusste sie nicht. Aber natürlich hatte es ihr freigestanden, sich Europa anzusehen. Im Moment wollte Elena sich noch nicht einmal im Ansatz ausmalen, welche Folgen dieser Anschlag haben würde.

»Es ist passiert … dem Blut dieser Kinder wird weiteres folgen. Scheiße, das hätte wirklich nicht passieren dürfen!«, sagte Justin.

»Beim Eintreffen der Polizei wurden die beiden Schützen gestellt und erschossen. Ersten Erkenntnissen nach handelte es sich um einen 27-jährigen Amerikaner und einen 29-jährigen Briten, die die Tat gefilmt und online gestellt haben. Das 46 Sekunden lange Gewaltvideo wurde umgehend wieder aus dem Netz genommen. Leider war es nicht zu vermeiden, dass der Beitrag bereits von rechten Sympathisanten geteilt und gefeiert wurde.«

»Das ist doch Wahnsinn! Warum hatte die Frau keinen Personenschutz?« Elena schüttelte verständnislos den Kopf, dieser unglaubliche Leichtsinn war unverzeihlich. Den Behörden muss doch die Bedeutung der Rutus-Familie klargewesen sein.

»Meine Damen, meine Herren … wir bekommen gerade weitere verstörende Informationen. Die beiden Attentäter waren die Bodyguards der Opfer. Der Amerikaner war aktiver Agent des Secret Service und der Brite war ein persönlich zum Schutz des Opfers abgestellter PPO, ein Personal Protection Officer des Metropolitan Police Service Protection Command.«

 

 

 

***