VIII. Condition 2 - Rise

Ich lebe. Ich werde bestehen. Nichts kann mich aufhalten. Das Boot fährt auf die Hafenmauer zu. Ich habe keine Angst. Das Schicksal ist mir wohlgesonnen. Ich werde die Prüfung bestehen. Der Sieg ist mein. Ich werde jede Prüfung bestehen. Die Worte dieses Mannes können mich nicht berühren, er weiß es nicht besser. Ich werde es ihm zeigen, dann wird er es verstehen.

»DAS IST DOCH WAHNSINN!«, schreit der Mann. Er muss nicht brüllen, ich verstehe ihn gut. »SIE WERDEN UNGEBREMST IN DIE ANLEGESTELLE KRACHEN!«

Im nächsten Moment werde ich von einer Erschütterung nach vorne geworfen. Ich wehre mich nicht. Die Kraft ist zu stark. Ich bin nackt und stoße mich an der Decke. Schmerzen lassen mich mit einem stummen Schrei den Mund öffnen. Roys lebloser Körper stürzt an mir vorbei. Ihm ist nicht mehr zu helfen. An meiner Schulter hat es geknackt, ich kann meinen linken Arm nicht mehr bewegen. Ich kann ihn auch nicht zum Schutz vor mein Gesicht halten, bevor ich mit dem Kopf gegen die Wand schlage.

 

Nebel. Meine Gedanken erwachen inmitten dichter Schwaden der Ungewissheit. Mein Körper muss atmen. Ich kann es nicht. Wasser ist in meinem Mund, meinem Rachen und meinen Lungen. Kaltes Wasser, das mir die Luft nimmt. Alles bäumt sich in mir auf, ich möchte diesen Körper nicht aufgeben. Doch lässt die Atemnot meine Sinne in den Schatten versinken.

Eine Hand greift nach mir, ich kann sie nicht erkennen. Da sind Stimmen, die ich nicht verstehe. Dunkle Schattierungen wabern durch meine Wahrnehmung. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Es ist stärker als ich.

»Siehst du die Frau?« Gedämpfte Worte erklingen, für mich nicht zu deuten, sie sind zu weit entfernt. Das Wasser ist mein Grab. »Jetzt sieh schon dahin! Da ist eine Frau, sie ist nackt! Greif nach ihr und zieh sie zwischen den Trümmern heraus!«

»Ich hab sie!«

»Sir, wir konnten den Mann nicht retten … vermutlich hat er sich bei dem Aufprall das Genick gebrochen.«

»Ich hab sie!«

»Jetzt zieh sie raus! Hat sie einen Puls? Lebt sie noch?« Da ist mehr als eine Stimme, die ich nur bruchstückhaft verstehen kann. »Lasst den Mann! Für ihn kommt jede Hilfe zu spät. Kommt her! Untersucht die Frau! Versucht, ihr zu helfen!«

Weitere Hände greifen nach mir, meine Augen sind offen, dennoch sehe ich nichts. Farben laufen ineinander. Sie packen mich an Armen und Beinen. Zerren an mir. Die Luft ist eiskalt. Ich friere. Ich kann nichts dagegen tun.

»Sie hat noch einen Puls! Starte Druckmassage!«

Ich huste, ich spucke Wasser, ich huste weiter. Jemand hüllt mich in eine Decke. Ein Scheinwerfer ist auf mich gerichtet. Ich kann nichts sehen. Mehrere Personen befinden sich in meiner Nähe. Sie versuchen zu helfen. Niemand kann mir helfen. Ich brauche keine Hilfe. Sie berühren mich, nehmen meine Saat in sich auf. Bereit, um zu mir zu werden, aber das möchte ich nicht. Ich bin einzigartig. Niemand kann so sein wie ich. Ich lebe!

 

Ich schließe die Augen, ich atme wieder, meine Sinne kommen zur Ruhe. Die Stimmen in meiner Nähe verlieren an Bedeutung, sie können mir nichts mehr sagen. Es ist Zeit, meinen Weg zu gehen. Jetzt. Ich werde nicht länger warten.

Meine Muskeln sind bereit, sie folgen wieder meinem Willen. Ich stehe auf.

»Ma’am, bitte, was tun Sie?«, fragt eine Frau in einer roten Uniform. Ihre großen Augen starren mich an. Ob sie mir geholfen hat, diesen Unfall zu überstehen? Der Tod wird ihr Dank sein. »Ma’am, Sie haben einen Atemstillstand erlitten … Sie können noch nicht aufstehen. Sie haben sich auch die Schulter gebrochen, das muss behandelt werden. Wir bringen Sie ins Krankenhaus.«

»Nein.« Ein Haus voller kranker Menschen liegt nicht auf meinem Weg. Ich darf nicht warten, ich muss weiter.

»Aber Ma’am …« Die Frau, älter als der Körper, den ich benutze, hat kurze rote Haare und trägt eine Brille. »Ich brauche Hilfe! Paul! Hilf mir, die Verletzte zu fixieren! Ma’am bitte, wir sind hier, um Ihnen zu helfen! Aber Sie müssen sich auch helfen lassen!«

»Nein.« Ich sehe mich um und kann drei Menschen in roten Uniformen erkennen. Die Frau und zwei Männer. Nur die Ärztin steht neben mir, sie hält meine Hand. Dr. med. Susan T. Collins steht auf ihrem Namensschild. Das kann ich Susan nicht erlauben. Ich werde ihr helfen zu verstehen, sie wird es begreifen.

Einer der Männer kommt Susan zur Hilfe. Er ist groß und stark. Ihn zu überwältigen, ist nur schwer möglich. Ich lasse die Wolldecke fallen. Es funktioniert. Er lächelt und starrt auf meine Nacktheit. Menschen sind schlicht im Geiste.

»Ma’am, bitte … die Decke.« Susan hebt sie für mich auf, das ist nicht notwendig.

»Susan?« Ich sehe sie an.

»Bitte?«

»Spüren Sie es?«

»Bitte … was soll ich spüren?« Susan braucht noch einen Moment. Die Veränderung ist nah.

»Sie bluten.« Blut schießt Susan aus der Nase, was sie mit einem Schrecken registriert. Sie geht einen Schritt zurück, das wird ihr nicht helfen.

»Hey Sue … was ist mit dir?«, fragt der große Mann, der nun auf Susan achtet. Ihr Gesicht, ihre Hände, alles ist voller Blut. »Warum blutest du aus der Nase?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Jetzt blutet sie auch aus allen anderen Körperöffnungen. Sie hustet Blut, es läuft ihr aus den Augen und aus den Ohren. Sie zittert. »Was ist …« Weiter kommt sie nicht, sie geht zu Boden. Sie ist tot, vergangen, ich brauche sie nicht. Niemand wird sich an sie erinnern.

»SUE!«, brüllt der Mann und beugt sich zu ihr, mit den Händen versucht er panisch, die Blutungen zu stillen. Das geht nicht. Susan lebt nicht mehr. »SUE BLUTET WIE EIN ABGESTOCHENES SCHWEIN! ICH BRAUCHE HILFE.«

Nein, Hilfe braucht er nicht mehr, bei ihm dauert es nicht so lange. Wenige Sekunden später beginnt auch er zu bluten, zu zittern und zu sterben.

»Haben Sie … haben Sie das getan?«, fragt ein weiterer Mann atemlos. Ich erkenne seine Stimme: Der Hafenmeister, er hat mich angerufen, als das Boot auf den Hafen zusteuerte.

»Ja«, antworte ich, es gibt keinen Grund, ihm nicht die Wahrheit zu sagen.

»Aber …« Er geht einen Schritt zurück. Ob er die Situation versteht? Seine verschreckten Augen fokussieren abwechselnd die beiden zuckenden Leichen und die Bisswunde an meiner Brust. Zusammen ist es zu viel für ihn.

»Habe keine Angst.« Sterben ist nicht schlimm. Ich gehe zu ihm, nehme ihn mit meiner Rechten in den Arm und küsse ihn. Bereits während sich unsere Lippen berühren, spüre ich die ersten Aussetzer seines Herzens. Er ist schon älter. Als ich loslasse, schießt ihm bereits Blut aus Nase, Ohren und Augen. Er hustet und geht zu Boden. Das ist sein Ende, er wird nicht wieder aufstehen.

»STEHENBLEIBEN!«, ruft der dritte Mann in Uniform. Er hat die Leichen gesehen. Er ist kleiner als die anderen. Seine Hände zittern. Ich verstehe ihn. Er hat Angst. Aus dem Kofferraum seines Einsatzfahrzeuges holt er eine Pistole. Er öffnet sie und lädt eine größere Patrone. »SOFORT STEHENBLEIBEN! ICH WERDE SONST SCHIESSEN!« Natürlich wird er das. In seiner Hand befindet sich eine Leuchtpistole. Er legt auf mich an. Das Ende ist unausweichlich. Ich gehe auf ihn zu. Niemand wird mich aufhalten.

Der Mann drückt ab. Ein heller Lichtblitz trifft mich in den Bauch. Ich fange Feuer. Ich brenne. Er versucht, die Waffe erneut zu laden. Die zweite Leuchtpatrone gleitet ihm aus den Fingern. Nur noch drei Meter. Er sieht mich an, er hat Angst, er weiß es bereits. Ich greife mit meiner Hand nach seinem Kinn. Umschließe dabei seinen Kopf. Er ist mir nah, berührt mit seinen bebenden Lippen meine verbrannte Haut. Mit einem schnellen Ruck verdrehe ich seinen Kopf. Sein Genick ist dem nicht gewachsen. Er stirbt auf der Stelle.

 

Flucht. Ich brauche Kleidung. Die von Susan kann ich nicht nehmen, sie ist voller Blut. Meine Verbrennungen schmerzen. Auf dem Rücksitz des Wagens liegt ein Schal. Der reicht nicht. Ich nehme dem Mann, dem ich den Hals gebrochen habe, die Jacke ab. Sie ist zu groß, aber nicht mit Blut verschmiert. Menschen haben Angst vor Blut. Sie fürchten den Tod, weil sie das Leben nicht verstehen.

Ich setze mich in den Wagen, schließe die Tür und fahre los. Die stummen Einsatzsignale auf dem Dach leuchten immer noch. Menschliche Technologie ist schlicht, den Wagen zu fahren, ist auch mit einer Hand nicht schwer. So bin ich schneller.

»Zentrale für 1.7 … Scott, was ist am Hafen passiert?«, fragt ein Mann über das Funkgerät. Der Mann, dessen Jacke ich trage, hieß Scott. »Ich bekomme gerade Dutzende Anrufe! Was für einen Scheiß habt ihr da gemacht?«

»Scott ist tot.«

»Ähm … mit wem spreche ich bitte?«

»Ich habe keinen Namen.«

»Und … und was ist mit Scott?« Auch dieser Mensch am Funkgerät versteht es nicht. »Ist ihm etwas zugestoßen?«              

»Ich habe ihn getötet.« Ich muss meinen Plan ändern, die Fahrt mit dem Wagen dauert zu lange. Ich brauche einen neuen Körper, dieser ist beschädigt.

»Bitte … was …«

»Ich habe ihm sein Kinn auf den Rücken gedreht, dabei ist sein Genick gebrochen. Das hat er nicht überlebt.« Um einen Menschen zu töten, muss ich mich nicht anstrengen.

»Das ist doch ein Scherz, oder?«

»Ich mache keine Scherze.«

»Das ist doch …«

»Ich habe Scotts Wagen genommen, die Einsatzsignale sind noch aktiv und ich fahre damit vom Hafen weg.« Ich kenne den Weg nicht und brauche Hilfe.

»Lady, wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?«

»Ja.«

 

Kurze Zeit später. Meine Hilfe naht. Mehrere leuchtende Fahrzeuge versperren die Straße. Ich bremse Scotts Wagen ab. Die Fahrt endet hier. Ich steige aus.

»STEHENBLEIBEN!«, brüllt ein Mann. Mehrere Scheinwerfer blenden mich. Ich kann die Polizisten nicht sehen. »WIR WOLLEN DIE HÄNDE SEHEN! DIE HÄNDE!«

Ich zeige ihnen alles und lasse den roten Anorak fallen. Meinen linken Arm kann ich nicht mehr bewegen. Meine Haut, mein Gesicht, meine Haare, alles ist verbrannt. Ich gehe weiter auf sie zu. Nichts kann mich aufhalten.

»AUF DEN BODEN! SOFORT AUF DEN BODEN!«, brüllt derselbe Mann wie zuvor. »WENN SIE WEITERGEHEN, ZWINGEN SIE UNS, ZU SCHIESSEN! AUF DEN BODEN!«

Ich gehe weiter.

Schüsse fallen, Projektile durchdringen meinen Körper, Blut spritzt auf die Straße. Ich werde fallen und ich werde wieder aufstehen. Eine Kugel hat meine Wade zerrissen. Ich hinke. Weitere Geschosse durchschlagen meinen Oberkörper. Mein letzter Atemzug verbleibt ungenutzt in meiner zerfetzten Lunge. Ich gehe zu Boden. Eine doppelte Schrotladung trennt mein Gesicht vom Schädel ab. Ich vergehe. Dunkelheit umhüllt mich. Ich warte.

 

Meine Sinne schießen wieder ans Licht. Ich atme. Ich atme in einem anderen Körper. Mein Plan hat funktioniert. Ich sehe eine von Kugeln durchsiebte und teilweise verbrannte Leiche auf einem Metalltisch liegen. Blut rinnt durch einen Abfluss.

»Megan?«

»Ja«, antworte ich. Bin ich Megan? In dem mit weißen Fliesen verkleideten Raum liegen weitere Leichen auf Metalltischen. Ich erkenne sie wieder. Neben mir befindet sich die leichenblasse Susan und auf der anderen Seite der Hafenmeister, den ich geküsst habe. Beide leben nicht mehr.

Ein Mann kommt zu mir, er trägt Gummihandschuhe, Atemschutz und eine blutige Schürze. »Alles in Ordnung?«

»Ja.« Ich sehe auf meine Hand, ich halte ein Skalpell und bin im Begriff, eine Leiche aufzuschneiden. Auch ich trage Gummihandschuhe. Megan existiert nicht mehr, aber wie kam sie mit meinem Blut in Kontakt? Ich drehe meine Hand, dort befindet sich ein winziger Schnitt im Handschuh. Kaum zwei Millimeter lang. Er hat noch nicht einmal die Haut verletzt. Ob sie es nicht bemerkt hat?

»Ist das nicht verrückt … woran sind die alle bloß gestorben?« Genau diese Frage hatte Megan dem anderen Pathologen stellen wollen. Ich sehe ihre Erinnerungen und bringe den Gedanken zum Abschluss. Ich lasse es geschehen. Ich lerne, ich wachse mit dieser Frau. Ich bin alles, was sie jemals gewesen ist.

»Was sagt der Scan für Kampfstoffe?«, fragt der Mann. Megan schlief mit ihm, er ist verheiratet, sie nicht. Sie hat ihn nicht geliebt, es ist nur aus Langeweile geschehen.

»Nichts.«

»Der FBI-Agent sprach von VX, er meinte solche Verletzungen, die extremen Blutungen, könnte nur VX hervorbringen. Hat das Opfer es eingeatmet?«

»Der Agent hat keine Ahnung. Die Aufnahme von VX findet überwiegend über die Haut statt, da das Zeug wegen seines geringen Dampfdruckes äußerst sesshaft ist. Nur im Falle der Ausbringung als Aerosol besteht eine relevante Gefährdung durch Aufnahme über die Atemwege … und die würde unser Scanner anzeigen.«

»Du bist der Boss.«

»Richtig!« Ich lasse den Gedanken aus Megans Erinnerung zu. Dr. Megan Serans, eine Spezialistin für chemische und biologische Kampfstoffe, sie wurde gerufen, weil wegen der schnellen Ansteckung eine Bakterien- oder Virusinfektion bereits auszuschließen war.

»Hey, ich habe nur gefragt.«

Megan hätte in diesem Moment gelächelt, ich lasse es zu. Weitere Gedanken der Ärztin bieten sich an. Ich spreche sie aus: »Einmal im Körper aufgenommen, blockiert VX die Acetylcholinesterase in den Synapsen des parasympathischen Nervensystems, an den acetylcholinvermittelten Synapsen des sympathischen Anteils des vegetativen Nervensystems und an der neuromuskulären Endplatte. Es kommt dadurch zu einem Anstieg des Neurotransmitters Acetylcholin in der Synapse und damit zu einer Dauerreizung der betroffenen Nerven. In Folge treten, abhängig von der Höhe der Vergiftung, Nasenlaufen, Sehstörungen, Pupillenverengung, Augenschmerzen, Atemnot, Speichelfluss, Muskelzucken, Krämpfe, Schweißausbrüche, Erbrechen, unkontrollierbarer Stuhlabgang, Bewusstlosigkeit und Atemlähmung auf. Letztlich folgt diesen Symptomen der Tod.«

»Also kein Blut?«

»Kein Blut. Kein VX. Kein anderer Kampfstoff und auch sonst nichts, was ich zuordnen könnte.« Auch bei diesem Satz bediene ich mich an ihrer Erinnerung. Eine intelligente Frau, ihr äußerst strukturiertes Wissen bot schnelle Antworten auf die gestellte Frage.

»Wie kam es dann zum Tod?«

»Ich weiß es nicht.« Ob Megan, wenn sie es geahnt hätte, vorsichtiger gewesen wäre? Etwas wie mich gibt es auf der Erde nicht, sie konnte es nicht wissen.

»Oh, Frau Doktor Serans, dass ich diesen Tag noch erleben darf.« Er lachte. »Dass du mal etwas nicht weißt.«

»Halt die Klappe.« Ich verziehe den Mundwinkel und lege das Skalpell ab. Diesen Körper bekommen zu haben, ist ein Glücksfall. Ich verwische meine Spur. »Keine Kampfstoffe, keine Biowaffen, keine weitere Gefahr … wir sind draußen. Von mir aus kann sich der hiesige County-Coroner mit den Leichen beschäftigen.« Ich deaktiviere sämtliche Zellen von mir, die sich noch in den Leichen befinden. Ihr Weg endet hier, sie werden keine weitere Person infizieren. Wenn es bereits geschehen wäre, würde es mich nicht geben.

»Ja, Ma’am.«

 

Ich habe den Bericht geschrieben, die lokale Polizei instruiert und liege nun im Bett meines Hotelzimmers. Meine Ankunft auf der Erde ist erfolgreich. Die Ereignisse haben mich in Santa Rosa, nördlich von San Francisco, an die amerikanische Westküste gebracht. Jetzt weiß ich, wo ich bin und ich weiß, wo ich hinmöchte.

»Megan …« Es klopft an der Tür, die Stimme gehört Peter, dem anderen FBI-Pathologen. Ich möchte ihn nicht töten. Seine Leiche kann meine Identität gefährden.

»Ich bin müde …«

»Ich habe zwei kalte Flaschen Bier dabei … und Chips.« Er versucht es weiter.

»Peter, der Tag war lang.«

»Jetzt komm schon ...«

»Nein, Peter.« Ich möchte weder mit ihm schlafen noch ihn deswegen töten. Er soll einfach gehen und sein verbleibendes Leben genießen. Die Dinge auf der Erde würden sich bald ändern. Ich setze mich auf, der Kontakt mit einer Frau wie Megan bringt meine Gedanken zum Glühen. Was wird sich verändern? Das ist ein völlig neuer Gedanke, der nicht zu meiner Mission gehört. Warum bin ich hier? Welche Folgen werden auf der Erde eintreten?

»Megan …«

»VERSCHWINDE!« Er soll mich nicht wütend machen.

»Ich hab’s ja verstanden …«

Ich schüttle den Kopf und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Der Teil meiner Sinne, der von Megan stammt, ist es bereits, der andere, der, den ich mitgebracht habe, ist es nicht. Meine vererbten Erinnerungen sind unklar, sie sind nicht logisch konsistent, aber natürlich weiß ich, was ich zu tun habe.

Ich stehe auf und gehe ins Bad, ich öffne den Wasserhahn und erfrische mein Gesicht. Megans Körper ist achtunddreißig Jahre alt, schlank und hochgewachsen. Die Haut ist dunkel und die Haare sind kraus. Der Kontakt mit ihren Erinnerungen verunsichert mich. Fragen treten aus den Schatten empor, die ich nicht beantworten möchte.

»Bist du im Bad, hast du es dir anders überlegt?« Peter steht immer noch an der Tür.

»Peter, nein!«

»Ich gehe ja schon …«

 

Am anderen Morgen, ich habe nicht gut geschlafen. Mein menschlicher Körper ist müde, man muss ihn mit Vorsicht behandeln, er geht schnell kaputt. Ich ziehe mich an und packe meine Sachen. Das Flugzeug nach Los Angeles wartet bereits. Der Wagen vor dem Hotel wird in zehn Minuten losfahren.

»Guten Morgen.« Peter steht wieder vor meiner Tür. Ich schnappe mir die Tasche mit dem Notebook und den Trolley. Dann öffne ich die Tür und sehe Peter.

»Morgen …« Ich gehe weiter.

»Schlechte Laune?«

»Peter, lass es einfach.« Ich will nicht darüber reden. Peter ist jünger als Megan, größer und sieht nicht schlecht aus. Es ist falsch gewesen, mit ihm zu schlafen, er soll bei seiner Frau bleiben.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Hör auf!« Es ist nicht einfach, ihn in seine Schranken zu weisen. Hoffentlich wird sich daraus kein Problem ergeben.

»Einen Kaffee?« Er hält mir eine Tasse mit einem Schraubverschluss und einer Trinköffnung vor die Nase. Ich kenne den Geruch, Megan mochte ihn. Gut, ich werde den Kaffee trinken.

»Danke.« Die Wärme, das Koffein und der Zucker bringen meinen Kreislauf in Schwung. Ich trinke die ganze Tasse in einem Zug leer und gebe sie ihm zurück.

»Ähm …«

»Wo ist unser Wagen?« Ich will so schnell wie möglich weg hier, ich muss die Spur dieser Toten von letzter Nacht hinter mir lassen. Ich darf unter keinen Umständen meinen Auftrag vernachlässigen.

»Direkt vor der Tür ...«

»Sehr gut …« Ich gehe durch besagte Tür, die Sonne blendet mich. Das ist das erste Mal, dass ich die Sonne dieser Welt sehe. Sie wärmt mich, sie fühlt sich gut an.

»Dr. Serans.« Ein Polizist wartet am Wagen auf sie.

»Deputy.«

»Ich soll Sie zum County Airport bringen …«, erklärt der Polizist und öffnet die Wagentür.

»Danke.«

Peter steigt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, auf der anderen Seite des Wagens ein.

»Ist die Wahl nicht verrückt gelaufen?«, fragt der Deputy. »Was diese Spinner in Washington machen … versteht keiner.«

Megan lächelt, die Wahl natürlich, vor ein paar Tagen war gewählt worden. Mich interessiert der Ausgang der Wahl nicht, sie ist ohne Belang, nur meine Mission zählt, sonst nichts. Menschen lieben es zu reden, ich tue es nicht.

»Der Schwarze wird es nicht schaffen!«, sagt Peter. Mich interessiert auch nicht, wen er damit meint.

»Wir haben es eilig.« Ich sehe ungeduldig aus dem Fenster, was die beiden Männer sofort verstehen. Sie schweigen. Sehr gut, das hätten sie bereits zuvor machen sollen. Der Wagen biegt auf eine breite Straße ab und beschleunigt. Ich hätte im Moment noch eine Tasse Kaffee vertragen können.

Mein Telefon klingelt. Ich greife in die Innentasche meines Jacketts, auf dem Display wird Hueys Name angezeigt. Megans Boss, das Gespräch würde ich annehmen.

»Morgen.«

»Megan?«

»Auf dem Weg zum Flughafen.«

»Und … was war?«

»Blinder Alarm … wird alles im Bericht stehen.« Der Bericht spielte keine Rolle.

»Gib mir eine Kurzversion und verschone mich mit Fremdworten.« Huey ist kein Arzt.

»Kein VX, kein anderer Kampfstoff, nichts, was dir Kopfschmerzen bereiten sollte.«

»Sehr gut … aber Nasenbluten war das nicht, oder?« Huey hatte offenbar auch andere Quellen.

»Schwere innere Blutungen, multiples Organversagen, nein, Nasenbluten war es nicht.« Ich werde zukünftig Menschen weniger blutig töten, Hirn- und Herzschläge wirbeln weniger Staub auf.

»Ursache?«

»Das konnte ich auf die Schnelle nicht feststellen … oder soll ich den County Coroner arbeitslos machen?« Der örtliche Leichenbeschauer wird es nach ein oder zwei Wochen ohnehin aufgeben. Nachdem meine Spuren weg sind, gibt es nichts mehr, was er finden kann.

»Nein, dafür zahle ich dir zu viel. Komm zurück nach Los Angeles. Es gibt Arbeit.«

»Ich bin unterwegs.« Als Megan Serans mit einer FBI-Marke werde ich nicht auffallen.

»Guten Flug.«

»Danke.« Ich trenne die Verbindung. Der Deputy biegt bereits auf den Flughafenzubringer ab. Charles M. Schulz-Sonoma County Airport steht auf dem Schild.

»Mir haben die Leichen Angst gemacht … die Notärztin war komplett leer, bei der haben sogar die Fußnägel geblutet«, sagt Peter, warum schwieg er nicht einfach.

»Es sind nur Tote … hörst du, nur Tote.« Davon würde es bald mehr geben, viel mehr.

»Dass du das so locker nimmst.«

»Das tue ich nicht.« Ich töte nicht ohne Grund und Peter sollte mir dafür danken. »Unsere Arbeit fängt immer erst an, wenn es für die Betroffenen bereits vorbei ist.«

Der Wagen steuert auf einen Learjet des FBI zu, der bereits auf dem Vorfeld steht. Ich öffne die Tür, es ist beinahe so, als ob ich mich auf der Flucht befinde. Nur, vor was flüchte ich? Vor den Menschen, denen ich heute Nacht das Leben genommen habe? Nein, sie waren entbehrlich. Vor meiner Mission? Nein, die werde ich ausführen. Aber was beschäftigt mich dann? Die Erfahrung, ein Mensch zu sein? Sicherlich nicht, dafür ist es nicht bedeutsam genug. Aber warum stören mich Fragen in meiner Konzentration? Warum kann ich sie nicht ignorieren? Warum höre ich noch nicht einmal jetzt damit auf, mir Fragen zu stellen?

»Dr. Serans.« Der Pilot begrüßt mich und hilft mir, die kurze Treppe zum Flugzeug heraufzusteigen. Im November ist es morgens nördlich von San Francisco nicht sonderlich warm, ich trage dünne Lederhandschuhe. Damit ziehe ich keine Blutspur hinter mir her.

 

***