»Das war kein guter Tag heute …« Elena fing an, die Verantwortlichen im Raum saßen an einem großen ovalen Tisch. Hinter den jeweiligen Vertretern ihrer Länder standen Personen, die ihnen assistierten und bei den Amerikanern, den Chinesen und ihr jeweils ein bewaffneter Personenschützer. In ihrem Fall Dimitri, der mit Argusaugen über sie wachte. Sie schätzte ihn als äußerst pflichtbewusst, professionell und vertrauenswürdig.
»Frau Botschafterin …« Eine amerikanische Staatssekretärin des Außenministeriums, Teresa Gomez, nickte ihr zu. Sie war die Gastgeberin dieser in kurzer Zeit zusammengerufenen Konferenz. Es ging um Informationen aus erster Hand, Informationen über Delos, vermutlich wollte sich niemand der Anwesenden in der prekären Lage nur auf Berichte verlassen.
»Wie Sie wissen, komme ich direkt von der Naar. Ich war Gast bei einem diplomatischen Empfang, die Rede, die Eva gehalten hat, kennen Sie bereits. Nun … ich möchte keine Zeit verschwenden, dafür ist die Lage zu ernst. Die Stimmung unter den Delos ist schlecht, sehr schlecht, diese Zivilisation ist es nicht gewohnt, sich etwas, das sie begehrt, nicht nehmen zu dürfen. Ich halte die aktuelle Sicherheitslage für äußerst fragil.«
»Frau Botschafterin, wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen? Es gibt Berichte, dass Delos menschliche Körper wie Kleidung benutzen wollen. Eva selbst tut es! Und im Moment ist sie vermutlich die Einzige, die den Rest dieser dekadenten Bande noch im Zaum hält«, erklärte ein französischer General mit kurz rasierten grauen Haaren. Jedes seiner Worte stimmte.
»Ja.« Im Raum wurde es leiser. Es ging um Vertrauen. Elena konnte die Anwesenden nur um etwas bitten, wenn sie ihr glaubten. »Ja … genau so ist es. Ich kann es bestätigen und ich kann Ihnen auch bestätigen, dass es genau vier Nessaner auf dem Arcurus Gate, drei Menschen und Eva sind, die uns beschützen. Sie haben den Finger am Abzug der mächtigsten Waffe in der bekannten Milchstraße und halten die Delos damit in Schach.«
»Nun … ich durfte mit Eva sprechen. Ich hatte sogar das Vergnügen, das Gate zu inspizieren und Ed, die führende Nessanerin kennenzulernen. Diese Individuen haben ihre Integrität bewiesen … aber gnade uns Gott, wenn jemand einen Weg findet, sie auszuschalten«, sagte der russische Außenminister. Um für Vertrauen zu werben, hatten in den letzten Wochen zahlreiche Politiker das Gate besucht. Heute sollte man den Erfolg dieser Politik sehen können.
»Das wird Eva nicht zulassen!«
»Frau Botschafterin … sie hat bereits zweimal die Kontrolle verloren. Zweimal hat Adam Doit, ein Amerikaner aus London, ein Mann mit keiner vertrauensförderlichen Vergangenheit, uns alle gerettet. Dafür danke ich diesem Mann, dennoch war es nur Glück. Wir sind der völligen Zerstörung der Erde nur entgangen, weil wir Glück hatten. Unvorstellbar großes Glück!«
»Herr Minister, ich stimme Ihnen zu.« Auch dem wollte Elena nicht widersprechen. Egal, was sie Adam zu verdanken hatten, es war sicherlich äußerst riskant, darauf zu vertrauen, dass er seine Heldentaten wiederholen konnte. Die Mehrzahl der Anwesenden haderte mit Evas Entscheidung, an Adam festzuhalten. Eine Haltung, die Eva kannte und die sie nicht interessierte.
»Frau Botschafterin, 74 Prozent aller Befragten in den G7-Staaten und Russland votieren dafür, militärisch gegen die Bedrohung der Erde vorzugehen. In diesem Fall stünden einer Mission die militärischen Kapazitäten der ganzen Welt zur Verfügung. Das wäre die größte Streitmacht, die die …«
»Danke.« Elena fiel dem amerikanischen General ins Wort. »Ich danke für dieses Stichwort. Nun, ich habe nicht gedient. Ich bin noch nicht einmal gewählt oder anderweitig auf der Erde demokratisch legitimiert worden … ich bin nur von Eva auf diese Position berufen worden. Sie vertraut mir.«
Alle sahen sie an, eine Journalistin, die im passenden Moment, am richtigen Ort, eine Kamera auf die Ereignisse gehalten hatte. Sie hatte die Jahrhundertstory, dass es außerirdisches intelligentes Leben gibt, verkünden dürfen.
»General, auch Ihnen stimme ich zu.« Sie sah den Amerikaner an, der sichtlich auf den Haken wartete. »Wir werden bedroht. Wir sind alle in Gefahr und die Lage ist ernst … glauben Sie mir, sehr ernst. Genau für diese Situation gibt es das Militär, um einzugreifen, wenn Worte nicht mehr genügen.«
Alle hörten ihr zu.
»Wir sollten angreifen! Wir sollten alles mobilisieren, was wir haben! Jede Rakete, jede Bombe, jedes Flugzeug und jedes Schiff … lassen Sie uns die Naar angreifen und sämtliche Delos töten! Die oder wir! Wir sind im Recht! Wir kämpfen für unser Leben! Das sind wir den Menschen auf den Straßen schuldig, die genau danach schreien!«
»Ähm …« Der russische General räusperte sich.
»Wir schicken alles an die Front, was wir haben … oder?« Elena sah den Amerikaner immer noch an. »Führen die Vereinigten Staaten die erste Welle an?«
»Frau Botschafterin …«, die amerikanische Staatssekretärin griff erneut ein, ihr General schwieg, sichtlich angepisst, so von Elena vorgeführt zu werden.
»Ja.« Jetzt sah Elena sie an.
»Das geht nicht …«
»Wie?« Natürlich kannte Elena die Antwort, genau wegen dieses Dilemmas saßen sie hier.
»Wir können die Naar nicht angreifen.«
»Das verstehe ich nicht … aber die Menschen auf den Straßen wollen Krieg und ihr Landsmann wollte mich gerade noch mit der Mächtigkeit unserer Ressourcen beeindrucken.« Elena musste diesen Weg gehen, anders würde sie die Bitte von Eva nicht vortragen können. Niemand würde ihr sonst zuhören. Wie gesagt, sie war nur eine Botschafterin, die Befehle gaben andere.
»Kein militärischer Verband, den wir in diesem Raum kontrollieren, verfügt über wirksame Waffen, um gegen die Naar vorzugehen. Auch bei einem Konflikt mit den Rutus stehen uns keine erfolgversprechenden militärischen Lösungen zur Verfügung. Und das Arcurus Gate … das verfluchte Ding ist 600 Lichtjahre von uns entfernt und dennoch in der Lage, mit einem Knopfdruck aus der Erde einen flambierten Donut zu machen.« Die Staatssekretärin nutzte bildhafte Worte, sie hatte es besser verstanden.
»Wir haben keine Chance …« ergänzte eine Chinesin. »Wir würden noch nicht einmal in die Nähe der Naar kommen. Verfügbare chinesische Interkontinentalraketen könnten zwar theoretisch die Naar erreichen, würden aber für den Anflug Monate benötigen. Meine Spezialisten haben mir erklärt, dass zudem höchstens zwei von zehn Waffensystemen dort ankommen würden. Mit einer für interstellare Verhältnisse derart niedrigen Geschwindigkeit, dass niemand unserer möglichen Gegner ein größeres Problem damit haben sollte, verbliebene Gefechtsköpfe abzufangen.«
»Der Ausführung schließe ich mich an … die Streitkräfte der Russischen Föderation könnten es nicht besser«, sagte der Russe.
»Die militärischen Möglichkeiten Europas sehen noch magerer aus.« Das kam von einem deutschen General. »Wir verfügen nicht über die in dieser Situation notwendigen taktischen Optionen … niemand hier im Raum tut das.«
»Müssen wir uns also über eine militärische Antwort unterhalten, die niemand von uns zu geben in der Lage ist?« Genau diese Frage wollte Elena stellen. Es ging bei schwierigen Entscheidungen immer nur um verfügbare Optionen.
»Das ist unerträglich!«, protestierte der amerikanische General, der in der Runde sein Gesicht zu verlieren drohte. Dennoch sprach er allen aus der Seele. Die Erkenntnis über die eigene Machtlosigkeit war wirklich unerträglich.
»Wir sitzen an einem Tisch«, erklärte ein japanischer Minister. »Eine gemeinsame Antwort aller Völker ist nicht unerträglich. Uns bleiben diplomatische Optionen. Frau Botschafterin, wie schätzen Sie Evas Haltung ein?«
»Sie ist isoliert, sie kennt die Gefahr, sie nutzt das Gate, um die Naar engmaschig zu kontrollieren. Sie steht zu ihrem Wort. Sie will die Erde und andere freie Völker schützen.«
»Unsere Zukunft hängt an seidenen Fäden … einer Delos, die bei den ihren keinen Rückhalt hat. Vier Nessanern, die nur die große Entfernung vor Angriffen schützt und Typen wie Adam Doit, dem ich unter anderen Umständen noch nicht einmal meinen Autoschlüssel überlassen würde«, sagte ein britischer Militär. Auch er hatte recht.
»Es geht um Vertrauen.« Elena sah durch die Runde, ihre Worte brauchten einen Moment, um verstanden zu werden. »Vertrauen … wir sitzen heute hier nicht zusammen, weil sich alle Völker in der Vergangenheit blind vertraut haben.«
»Wem wollen Sie vertrauen?«, fragte der Franzose.
»Uns.« Elena lächelte. »Als Erstes vertrauen wir uns … damit geht es los. Scheitern wir daran, gelingt es uns nicht, uns zu vertrauen, wären alle anderen Schritte zum Misserfolg verurteilt.«
»Sie haben recht …« Der amerikanische General fand wieder zurück in die Gruppe. »Wir brauchen eine gemeinsame Strategie. Gott helfe uns, Sie wissen alle, wer noch mein Boss ist.«
»Dennoch bitte ich Sie, in Ihren Administrationen für Vertrauen zu werben. Sprechen Sie mit allen, die Ihnen zuhören. Politiker, Militär, Presse, Fernsehen, Internet, wir müssen die Spirale von Angst und Misstrauen brechen. Vertrauen, reden Sie einfach über Zuversicht und Vertrauen.«
Stille.
»Ich bin zuversichtlich … bin ich mir all der Gefahren bewusst, die uns bedrohen? Selbstverständlich. Ist der Schutz, den Eva uns gewährt, fragil? Ja, weswegen ich dafür werbe, ihn zu stärken. Zu stärken mit Zuversicht! Das ist die Option, die ich favorisiere!«
»Reicht das?«, fragte der Russe, ein stämmiger Typ, der keine Haare auf dem Kopf hatte.
»Das möchte ich glauben.« Elena stand auf und ging auf seinen Platz zu. »Das ist eine Wahl zwischen schlechten und schwachen Optionen. Kämpfen können wir nicht … uns stehen keine Waffen zur Verfügung, um bestehen zu können. Uns bleibt nur, Flammen zu bekämpfen, die von unserer Angst entfacht werden.«
»Frau Botschafterin, Sie haben recht …« Der gescholtene amerikanische General, ein drahtiger Typ mit Bart, stand ebenfalls auf. »Das ist eine informelle Runde. Wir können keine Entschlüsse fassen, aber wir können mit der Botschaft heimkehren, für Zuversicht und Vertrauen zu werben. Wenn wir das alle gemeinsam tun, werden uns Menschen hören. Vielleicht nicht alle, aber sicherlich viele. Ich werde genau in diesem Sinne in Washington berichten.«
»Danke … meine Damen, meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Wegen der schlimmen Ereignisse in Kopenhagen habe ich den Botschafter der Rutus eingeladen, um in dieser informellen Runde mit ihm zu sprechen. Ich möchte ihm mein Beileid aussprechen, meinen Willen, dieses Verbrechen aufzuklären und natürlich um den weiteren Beistand der Rutus werben. Es steht Ihnen frei zu gehen, aber ich würde mich über jeden freuen, der bleiben möchte.« Elena wunderte sich über sich selbst, sie lief ungesichert auf einem dünnen Seil über eine scheißtiefe Schlucht und drehte dabei noch eine Pirouette.
Zehn Minuten später. Alle waren geblieben, viele hatten in der Pause telefoniert. Einige hatten ihr sogar gratuliert, die richtigen Worte gefunden zu haben. Hoffentlich hatte sie das wirklich. Der Botschafter der Rutus hatte heute seine Frau und zwei seiner Kinder verloren. Elena hatte es für richtig gehalten, in der großen Runde keinerlei Schuldzuweisungen vorzunehmen. Zum Glück hatte es auch niemand sonst getan, sonst wäre der Ausgang sicherlich ein anderer gewesen.
»Herr Botschafter …« Elena ging als Erstes auf den Rutus zu, der eine traditionelle dunkle Lederrobe trug. Sein Kopf war gesenkt und seine verkapselten Atemtentakel unter der Nase ruhig. Dass er Milenas Bruder war, machte es nicht einfacher. Als Mensch konnte man es sich in diesen Tagen noch nicht einmal leisten, es sich mit einer Alien-Zivilisation zu verscherzen und sicherlich noch weniger mit mehreren.
»Elena …« Der Rutus sprach englisch. Alle anderen schwiegen. Sie sah kurz zu Dimitri, der ihr nicht von der Seite wich. Auch dem Rutus folgte ein bewaffneter Bodyguard. In diesem Fall ebenfalls ein Rutus. Es wäre unpassend gewesen, den Botschafter weiterhin mit Sicherheitskräften von der Erde zu beschützen.
»Es tut mir unendlich leid … als ich davon erfahren habe, wollte ich es nicht wahrhaben.«
»Es ist wahr …«, antwortete er gefasst und legte die roten Hände vor dem Bauch zusammen. Er sah durch den Raum und nickte mehrfach den Anwesenden zu. Die Wichtigsten hier kannte er persönlich. Durch Elenas Arbeit hatte sie viel Zeit mit ihm verbracht. Die Aufgabe, für Vertrauen zu werben, galt auch für die Beziehung mit den Rutus. Wenn es gegen Delos ging, waren sie Verbündete. Die Demonstranten auf den Straßen der Großstädte hingegen hassten die Rutus wegen ihres fremdartigen Aussehens sogar noch mehr. »… deswegen müssen wir die Realität akzeptieren.«
»Wenn ich nur irgendetwas für Sie tun könnte …«
»Frau Botschafterin, das können Sie. Verschaffen Sie uns Gerechtigkeit. Es war ein Verbrechen, die Täter waren korrupte Beamte. Dennoch haben sie nicht alleine agiert … ich habe mit meiner Schwester gesprochen. Sie ist der Magistrat. Ich habe sie gebeten, mich abzuberufen, aber sie hat es mir nicht gestattet. Ich bleibe … weswegen ich helfen möchte, diese Tat aufzuklären.« Der Botschafter der Rutus sprach mit fester, klarer Stimme, dennoch klang er gebrochen.
»Natürlich … ich werde einen Kontakt vermitteln.« Elena schluckte und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Als Journalistin wusste sie, dass man Angehörige von Tatopfern von laufenden Ermittlungen besser sehr, sehr weit fernhalten sollte.
»Herr Botschafter, ich werde mich der Sache annehmen«, die britische Staatssekretärin reagierte geistesgegenwärtig. »Einer der Täter war Brite, wir haben mit der Überprüfung dieses Polizisten und seiner Vergangenheit bereits angefangen.«
»Frau Staatssekretärin, danke, ich weiß Ihre Geste der Transparenz zu schätzen.« Der Rutus gab sich staatsmännisch, er wählte seine Worte mit Bedacht, dennoch vermittelten seine Augen die stille Wut, die in seinem Herzen brannte. Wenn man Delos im Kollektiv grenzenlose Dekadenz vorhielt, war es bei den Rutus ein tief verwurzelter Hang zur Gewalt. Denen war es nie darum gegangen, menschliche Körper wie Kleidung zu benutzen, sie wollten sie höchstens töten.
»Sie können auf mich zählen.«
»Botschafterin Gutierrez, meine Schwester bat mich darum, eine Nachricht von ihr zu überbringen.«
Im Raum wurde es stiller.
»Milena ist der Magistrat von Del’Narrow. Sie ist über den Zwischenfall informiert. Sie bewertet den Anschlag auf meine Familie als Versuch, das Bündnis zwischen Menschen und Rutus zu brechen.« Seine Stimme wackelte kurz. Was er gerade sagte, kam nicht aus seinem Herzen. So klang Gehorsam. Gehorsam gegenüber seiner Schwester, deren Worte er weitergab. »Wir vermuten reaktionäre Kräfte der Delos hinter diesem verabscheuungswürdigen Versuch. Eva ist sich dessen bewusst. Milena zweifelt nicht an ihr, sie zweifelt aber an den Schutzmaßnahmen, die das Gate vor einem Zugriff besagter reaktionärer Kräfte aus den Reihen der Delos bewahren soll.«
Stiller ging es nicht. Der Botschafter der Rutus sagte den Anwesenden nichts Neues. Alle hörten ihm zu.
»Wir befinden uns im Krieg. Menschen und Rutus stehen dabei Schulter an Schulter, um sich gegen eine Vernichtung unserer Völker zu wehren. Mir sind die Ängste der Menschen bekannt, wie auch die offene Ablehnung aller extraterrestrischen Zivilisationen.«
Der Rutus ließ seine Worte wirken. Bei Elena taten sie das auf jeden Fall, er traf den richtigen Nerv.
»Ich verstehe Sie, ich verstehe die Menschen … ich fühle nicht anders. Ich fühle Schmerz, ich fühle Hass, ich wünsche mir Vergeltung, wünsche mir, die Urheber zur Strecke zu bringen. Ich spüre, wie ich es selbst mit einer Waffe in der Hand erledigen würde.« Der Ausdruck seines Gesichts bestätigte jedes seiner Worte.
»Emotionen definieren, wer wir sind … sie dominieren aber nicht unser Handeln. Nur deswegen haben unsere Spezies unabhängig voneinander den Kampf um die Vorherrschaft ihrer Evolution gewonnen. Nur deswegen stehen wir heute hier.«
Der Botschafter sah sich um.
»Wenn wir unseren ureigenen Impulsen nachgeben, wenn wir in den Krieg ziehen, wenn sich Rutus von Menschen abwenden … werden wir jeweils von der Entwicklung der drohenden Ereignisse verschlungen. Der Niedergang der Erde wäre nur der Anfang. Einmal entfesselt, würden Delos auch Del ’Narrow vernichten, auf der Naar trägt man nicht gerne rot.«
Das Lachen blieb Elena im Halse stecken.
»Bitte sehen Sie mich an … ich kämpfe bereits. Ich kämpfe aber nicht gegen Sie. Ich kämpfe mit mir. Dieser Kampf ist noch nicht beendet. Ich kann meinen Wunsch nach Vergeltung nicht verdrängen, aber ich kann ihn unterdrücken. Ich zwinge mich, nicht im Hass zu handeln … deswegen bin ich hier. Ich möchte für Vertrauen werben, Vertrauen zwischen Menschen und Rutus. Dabei kann ich Ihnen nicht versprechen, dass es keine weiteren Zwischenfälle geben wird.«
Der amerikanische General stand auf, er klatschte Beifall. Die anderen schlossen sich dem an. Elena hatte bei der aktuellen Lage und dem Verlust, den der Botschafter der Rutus erleiden musste, sicherlich keine Unterstützung von ihm erwartet. Er sprach ihr und vermutlich auch vielen Anwesenden aus dem Herzen.
»Danke … ich habe deswegen bereits im Vorfeld dieses Treffens meinen Nachrichtendienst angewiesen, die Vorkommnisse zu bewerten. Sämtliche Erkenntnisse werde ich Ihnen zukommen lassen. Sie wissen, was Delos sind … oder genauer, was sie nicht sind. Delos sind nicht wie wir, sie waren es vielleicht einmal, aber inzwischen sind sie es nicht mehr. Sie leben nicht. Das Erbe der Delos ist Technologie, es ist der Schatten einer Zivilisation, die nicht mehr existiert. Es existieren keine organisch geborenen Delos auf der Naar. Es sind alles KIs, Künstliche Intelligenzen, binäre Wesen, Abbilder von Verstorbenen, die schon lange nicht mehr leben. Sie haben den Kampf gegen die Zeit verloren, wir nicht. Noch nicht, noch ist die Zeit der Menschen und der Rutus nicht abgelaufen. Wir leben noch. Wir kämpfen noch.«
»Hört, hört …«, sagte jemand. In den Augen der Zuhörer war ein Wandel zu erkennen. So sah neues Vertrauen aus. Vertrauen entstand aus Worten, Gesten und Glaubhaftigkeit. Wahres Vertrauen konnte eine sehr starke Waffe sein.
»Den vorliegenden Erkenntnissen nach sind die beiden Bodyguards nicht von Delos übernommen worden. Sie wissen, dass deren Technologie sie genau dazu bemächtigt. Eine perfide Technologie, da Delos Menschen übernehmen können, ohne dass jemand aus dem Umfeld des Opfers es bemerkt. Sich ein Kupferband um den Hals zu legen ist ein einfacher, aber wirksamer Schutz, da die physische Beschaffenheit einer Delos KI einer elektromagnetisch formatierten Signatur entspricht. Diese ist messbar, nachweisbar und bekämpfbar.«
»Haben die beiden Personenschützer Ihrer Meinung nach aus freien Stücken gehandelt?«, fragte Teresa Gomes, der zweite Attentäter war einer von ihren Leuten: Ein bestens ausgebildeter Agent des Secret Service.
»Es waren keine Delos, die gefeuert haben. Das wissen wir mit hoher Sicherheit. Es waren Menschen, zu deren Beeinflussung es bekanntlich auch andere, weniger hoch entwickelte Methoden gibt.«
»Wir kooperieren …«, gestand sie ein. »Der Zwischenfall ist uns bisher unerklärlich. Die Auswahlverfahren unserer Sicherheitsbehörden sind denkbar hoch.«
»Es bleiben Menschen …« Der Botschafter der Rutus hätte ihnen nicht deutlicher ihre Schwächen vorhalten können.
»Ähm … ja.«
»Darf ich einen Gedanken äußern?« Elena hatte eine Idee, die würde sie gerne loswerden.
»Natürlich …« Der Rutus zeigte mit beiden Händen höflich auf sie. Er war sich sichtlich seiner Macht bewusst.
»Wenn Sie den technologischen Entwicklungsstand der Rutus nehmen, was denken Sie, wie viel davon ist den Delos bekannt?«
»99 Prozent … also fast alles. Die wissen genau, was wir können und was nicht. Es gibt leider Agenten der Delos in Del’Narrow. Aus bekannten Gründen ist es schwer, ihnen Herr zu werden.«
»Und umgekehrt … wissen Sie, zu was Delos in der Lage sind?« Elena entwickelte den Gedanken weiter.
»Vor Ankunft der Naar glaubten wir, es zu wissen … nein, wir kennen nicht alles, was Delos können. Vielleicht 95 Prozent, aber das ist nur eine vage Schätzung.«
»Gibt es alternative Technologien?«
»Wozu?«
»Alternative Wege, andere Lebensformen zu beeinflussen? Ihnen den Willen zu nehmen? Sie sich untertan zu machen?« Genau darin lag die Motivation der Delos.
»Wenn ja … kenne ich sie nicht. Im Kampf um Del’Narrow sind keine weiteren Technologien zur Übernahme von Rutus bekannt geworden. Und bei uns hätten sie sie gebrauchen können. Dank unserer Anatomie sind wir gegen die Übernahme durch eine KI immun. Menschen und Delos sind sich ähnlicher, als es Delos und Rutus sind.«
»Würden Sie sie erkennen? Können die Rutus den Menschen helfen, nach solchen Technologien zu suchen? Ich denke, dass wir genau an dieser Frage arbeiten sollen.«
»Dazu müssten die Verschwörer nicht nur über eine passende Technologie verfügen, um dieses Kunststück zu vollbringen, sondern auch über einen Weg, diese unter vielen wachsamen Augen zu benutzen.« Die Tentakel des Botschafters kräuselten sich. »Ed lässt den Nachrichtendienst der Rutus mit der Erlaubnis Evas an der Überwachung der Naar teilhaben. Die Nessanerin dreht für uns jedes Staubkorn um, das wir als verdächtig einschätzen. Über 10.000 Analysten und unsere Computer tun nichts anderes. Ed filtert auch das Umfeld der Naar. Das Raumschiff ist energetisch isoliert. Da kommt nichts rein und nichts raus, von dem wir nicht wissen. Es wäre noch nicht einmal möglich, einen Virus oder so etwas in der Art auf die Erde zu bringen.«
»Hätte Raven es gekonnt?«
»Sie existiert nicht mehr … Ed hat uns auch an der Untersuchung von Luise und Adam über die Schulter gucken lassen. Nichts von ihr hat die alte Raumstation verlassen.«
Elena presste die Lippen zusammen, ihr Verdacht schien im Sand zu verlaufen. Eva, Ed, die Rutus arbeiteten sehr sorgfältig. Hatte Elena etwas übersehen? Gab es mehr, gab es eine weitere Option, die sie noch nicht kannte?
»Die Zeit …«, flüsterte sie.
»Bitte?«
»Wir denken linear … und was ist, wenn es bereits früher geschehen ist? Was ist, wenn Raven zu einer Zeit gehandelt hat, als sie es noch konnte? Kann es sein, dass wir gegen ihr Erbe kämpfen? Könnte sie etwas auf die Erde gebracht haben, eine Art Versicherung, die durch ihr Ende aktiviert worden ist?«
»Ein interessanter Ansatz, ich bitte alle Anwesenden, diesen Gedanken mit den jeweiligen Nachrichtendiensten zu überprüfen. Ich werde es ebenfalls …«
Weiter kam der Botschafter nicht. Sein Kopf explodierte, Blut spritzte Elena ins Gesicht. Jemand hatte geschossen. Weitere Schüsse fielen. Es passierte sehr schnell.
Elena schrie, sie verstand es nicht. Sie ging in die Knie. Weitere Menschen schrien, ohne dass sie es verstehen konnte. Wer schoss da auf wen? Neben der Leiche des Botschafters lag auch sein erschossener Bodyguard, dessen halbes Gesicht sich vom Schädel gelöst hatte. Jetzt konnte sie den Schützen sehen. Sie sah, wie Dimitri die Waffe auf sie richtete. Niemand schoss mehr. Er blutete an der Schulter und hielt seine linke Hand eng an den Oberkörper.
»Elena, Sie sind zu klug für einen Menschen.« Er drückte ab. Justin sprang dazwischen. Das Geschoss traf ihn. Er ging dennoch auf Dimitri zu, der noch zweimal auf ihn feuerte. Die Projektile durchschlugen Justins Oberkörper, er brach zusammen. Die Tür flog auf. Ein Marine Infanterist stand in Uniform mit einem Gewehr in der Tür. Dimitri lud nach. Der Russe war schnell, aber nicht schnell genug. Der Soldat feuerte zuerst und traf ihn dutzendfach.
Elena verstand es nicht. Weitere bewaffnete Marines stürmten in den Raum. Der Kampf war vorbei. Niemand schoss mehr. Das war ein Blutbad. Egal, was der Botschafter der Rutus oder sie für den Augenblick erreicht hatten. Das Vertrauen, für das sie geworben hatten, lag niedergeschossen in seinem Blut.
***