XVII. Ich bin noch nicht fertig mit dir!

Luise fühlte sich müde, erschöpft, erledigt und bereit, mindestens zwei Tage am Stück zu schlafen. Wenn sie nur endlich jemand lassen würde. Dieser elendige Tag drohte, nicht mehr zu enden. Sie stand neben Adam und beobachtete, wie sich Eva von den persönlich und virtuell Anwesenden hofieren ließ. Alle lagen sie ihr zu Füßen. Die Stimmung wirkte befreit, was anhand der tragischen Opfer heute seltsam anmutete. Nur ein paar Räume weiter stapelten sich zahlreiche Leichen in schwarzen Säcken.

»An was denkst du?«, fragte Adam mit gesenkter Stimme. Luise hatte seine Nähe noch nie dringender gebraucht. Sie sah Elena an, die gerade mit einem Sektglas anstieß. Offenbar verstanden Megan Serans und sie sich gut. Was stimmte hier nicht? Hatte sie irgendetwas verpasst? Sie verstand es nicht.

»An mein Bett …« Luise beschäftigten weitere Dinge, für die sie im Moment nicht die richtigen Worte fand. Als ob hier jemand einen richtig miesen Film drehte. Verdammt, vermutlich sollte sie einfach eine Pause machen. Sie lehnte sich bei Adam an und ließ die Luft aus ihren Lungen weichen.

»Gute Idee.«

»Ist diese Entwicklung nicht unglaublich?« Sie biss sich auf die Lippe, es war nicht leicht, loszulassen. »Hättest du mit den Rutus als Urheber dieser ganzen Scheiße gerechnet?«

»Nein.«

»Ich auch nicht ...«

»Hatte Raven im Verdacht.«

Luise schüttelte den Kopf. »Die existiert nicht mehr.« Sie hatte sie selbst vernichtet.

»Ich weiß … dachte dennoch, dass sie einen Weg gefunden hat, uns zu verarschen.«

»Verstehe …« Aber es waren nicht die Delos, nicht Raven und ebenso keine andere Wächter-KI. Auch von der Naar hatte niemand einen Trick entdeckt, sich unter Eds wachsamem Blick vor die Tür zu schleichen. Na ja, was sollte Luise sich darüber den Kopf zerbrechen. Eva hatte sie alle gerettet und nur das zählte. Sie hatten gewonnen. Die Fakten zeigten, dass die Rutus offenbar vor zwölf Jahren einen Weg gefunden hatten, ein altes Saatsystem der Delos zu kapern und auf der Erde eine Schläfer-Zelle zu hinterlassen. Ein weitsichtiger Zug, es hätte nicht viel gefehlt und ihr Plan wäre aufgegangen. Während sie auf der Erde Aufruhr geschürt hatten, hätten sie das Gate fast mit einem Bluff einsacken können. Milena war verschlagen genug, um so einen Plan auszuhecken. Nein, daran bestand kein Zweifel.

»Ich dachte, ich kenne Elena.«

»Wieso?« Sie nahm seine Hand.

»Justin Codd, der britische Commander, war sicherlich kein Arschloch und liegt jetzt mit mehreren Löchern im Fell in der Horizontalen. Wenn du dir unsere Botschafterin ansiehst, könnte man meinen, dass Justin nur kurz Kaffee holen ist.«

»Das stimmt …« Luise dachte ähnlich. Elena verhielt sich unpassend. Das verband Luise mit Adam, sie sahen viele Dinge ähnlich. Na ja, jedenfalls die wichtigen.

»Mit der Nummer hat Milena sich echt ins Knie geschossen. Sie hat sogar zur Ablenkung ihren eigenen Bruder, dessen Frau und zwei kleine Kinder erschießen lassen. Ein Opfer, das absolut nichts gebracht hat. Scheiße, ich meine, welcher Motherfucker macht so etwas?«

»Beängstigend …« Das hatte Luise für einen Moment nicht auf dem Schirm gehabt. Aber klar, die Rutus hatte für ihre wuterfüllte Rache sogar ihre Familie geopfert.

»Ich glaub es nicht.«

»Bitte?«

»Ich glaube nicht, dass Milena ihren Bruder hat erschießen lassen. Fuck, ich traue dieser Bitch jeden Scheiß zu ... aber das Ding kaufe ich ihr nicht ab!«

»Und die ganzen Beweise?«

»Sprechen gegen sie … ich glaube es dennoch nicht. Hey, das macht keiner. Glaub mir, ich kenne echt miese Leute, aber das hätte keiner gemacht. Milena hätte auch sonst wen erschießen lassen können … Elena zum Beispiel. Der Aufschrei in der Öffentlichkeit wäre kaum leiser gewesen.«

Luise presste die Lippen zusammen, ein Kind zu bekommen, veränderte die Sichtweise. Sie hatte bei ihrem Abgang in Madrid ebenfalls einige Scherben hinterlassen.

»Verdammt, Milena hätte zumindest die Kinder verschonen können. Nur ein emotionsloser Roboter handelt so ...«

»Vielleicht hatte sie noch eine Rechnung mit ihm offen?« Luise war sich selbst nicht sicher. Die sozialen Strukturen in Del'Narrow waren für Menschen ungewohnt.

»Hey, das ist bei den Rutus kein Debattierklub, Milena hätte ihrem Bruder auch anders die Eier lang ziehen können. Das wäre dann persönlich gelaufen … sie hätte ihn in die Augen sehen wollen. Sorry, aber genauso schätze ich die Lady in Rot ein.«

»Stimmt ...« Luise wollte sich Adams Gedanken nicht verschließen, er hatte recht.

Red, die Nessanerin, betrat den Raum, ging ohne ein Wort zu Eva und sprach mit ihr. Dabei legte Eva ihr kurz die Hand an die Wange. Eine ungewöhnliche Geste, aber heute gab es einige Dinge, die neben der Spur liefen. Worüber sie sprachen, konnte Luise nicht verstehen. Red nickte und verließ den Raum. Niemand hatte auf sie reagiert, es schien sogar so, als ob nur Luise sie bemerkt hatte.

»Da ist Red ...«

»Ähm ...wo?« Auch Adam schlief bereits im Stehen. »Ich bin für einen Moment ... echt, Red ist hier, wo ist sie? Wieso hat sie nicht kurz Hallo gesagt?«

»Ich weiß es nicht ... sie ist wieder weg.« Der Besuch hatte kaum länger als eine halbe Minute gedauert. Was sollte das? Was hätte Eva ihr sagen wollen, was nicht auch online zu klären gewesen wäre? Sie hatten sich nichts gegeben.

»Die Idee mit deinem Bett war klasse ... können wir nicht einfach gehen?« Adam sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Zeit zum Verschwinden.

»Gleich ... ich geh kurz in den Waschraum.« Luise verspürte bereits seit einigen Minuten einen unangenehmen Druck am Unterbauch. Der Stress setzte ihr zu, das war nicht zu leugnen.

»Ich warte ... wenn du zurück bist, verschwinden wir. Bei der Party braucht uns keiner.«

»Stimmt ...« Dem wollte sie nichts hinzufügen.

 

Luise stand im Waschraum vor dem Spiegel und stützte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Waschtisch ab. Die Klimaanlage surrte lauter, als es zu erwarten gewesen wäre. Als ob es sie zerreißen würde. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung. Sie befürchtete, gleich wie ein nasser Sack auf den Boden zu knallen.

»Scheiße!« Was war das? Sie krampfte und versuchte, so gut wie es ging, auf den Beinen zu bleiben. Nein, sie wollte nicht schlappmachen, nicht heute und nicht hier. Es wurde schlimmer. Mit einem langen stummen Schrei ging sie auf die Knie. Die Kraft in ihren Beinen ließ nach, ohne dass sie es verhindern konnte.

Sie konnte nichts dagegen tun, im nächsten Moment fand sie sich schnell und flach atmend am Boden wieder. Drückte ihr etwas gerade eine heiße Lanze durch die Leiste? Mit zwei Fingern am Hals aktivierte sie das Funksystem. Es ging nicht anders: Adam musste ihr helfen und sie sofort zu Ed auf das Gate bringen.

»Adam ...« Ihre Stimme drohte zu brechen. »Ich brauche Hilfe.« Bitte, er musste sofort zu ihr kommen.

Nichts.

»Adam!«

Er antwortete nicht.

»Adam, hörst du mich?«, rief sie lauter. Die nächste Schmerzwelle zwang sie, sich zusammenzukrümmen. Sie rang nach Luft. Ihr war heiß. Sie schwitzte, nein, sie glühte bereits. Dennoch blieb ihre Haut trocken. Das musste an der energetischen zweiten Haut liegen, die Ed ihr verpasst hatte.

»Er kann dich nicht hören «, sagte eine weibliche Stimme, die sie nicht kannte.

»ADAM!«, schrie sie.

»Die Türen des Waschraums sind dick. Die Klimaanlage ist sehr laut. Das Ding bräuchte eine Wartung. Zwischen dir und Adam liegen vier massive Wände, er wird dich auch nicht hören, wenn du dir die Seele aus dem Leib schreist.«

»Wer bist du?« Luise verstand es nicht.

»Erkennst du mich nicht?«

»WER BIST DU?«

»Oder soll ich Mama zu dir sagen?«

»Was ...« Okay, jetzt drohte sie, gleich überzuschnappen. Luise hatte keine Ahnung, wer das war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendein verdammtes Arschloch an diesem Tag einen so schlechten Scherz ausdachte.

»Mama«, sagte die Stimme und veränderte ihre Klangfarbe. Sie wurde jünger, sehr viel jünger, als ob ein Kind sprechen würde. »Erkennst du mich wirklich nicht?«

»Hör auf damit!«

»Auf Taten folgen Konsequenzen. Oder denkst du, über den Dingen zu stehen? Du musst lernen, Verantwortung zu übernehmen.« Worte eines Erwachsenen, gesprochen von einem vielleicht fünfjährigen Mädchen, das ging zu weit.

Luise litt, die Unterleibsschmerzen waren unerträglich und dann diese groteske Stimme. Das ergab keinen Sinn, weder der Klang noch die Aussagen konnte sie einordnen.

»Ich helfe dir, Mama ...«

Luise weinte, aber ihr rannen keine Tränen die Wangen herab. Nicht ein Tropfen von ihr verließ ihren Körper.

»Na komm schon ... wer sagt Mama zu seiner Mama? Das ist doch nicht so schwer, oder?« Das Kind sprach spielerisch und liebevoll, wie es auch ein Kind getan hätte. Die Häme lag alleine in der Wortwahl und in dem passenden Kontext.

Sie rang nach Luft. »Du bist nicht mein Kind!« Wie sollte das auch funktionieren?

»Warum nicht?«

»DAS GEHT NICHT!«

»Na ja, das ging vielleicht bisher nicht, aber die Dinge entwickeln sich weiter. Wenn du nicht von der Zukunft überrollt werden willst, darfst du nicht im Gestern stehen bleiben.«

»Mein Kind ist erst wenige Wochen alt, was du sagst, kann nicht stimmen! Das ist doch Wahnsinn! Adam, Ed, ich brauche Hilfe! Hört mich jemand? Bitte kommt zu mir!«

»Nur ich höre dir zu, Mama.«

»Du bist nur eine Wahnvorstellung!« Luise wusste nicht, wie sie aus dieser erschreckend realen Depression wieder herauskommen sollte. Die Kinderstimme zog sie immer tiefer in den Abgrund hinein. Alles begann sich zu drehen.

»Ähm ... nein. Die bin ich nicht. Ich glaube, ich muss deutlicher werden, damit du mir glaubst.«

»Was ...«

»Luise, das kleine Mädchen, das Adam und du gezeugt habt, lebt nicht mehr. Sie ist tot. Ausgelöscht. Es ist hart, aber Akzeptanz ist der erste Schritt zurück in die Realität.«

»Du ... du lügst!«

»Das tue ich nicht, ich selbst habe den Embryo getötet. Zugegeben, das ist ein Widerspruch, aber ich kann ihn erklären. Ich war, wie du dich vielleicht erinnerst, in großen Schwierigkeiten ... du hast mir keine andere Chance gelassen.«

»Was sagst du da?« Luise wurde heiß und kalt, sie glaubte, gleich sterben zu müssen. Das konnte nicht sein. Sie weigerte sich, zu akzeptieren. Das konnte einfach nicht sein!«

»Luise, erinnerst du dich nicht? Du wolltest mich auslöschen. Natürlich hast du dich geschützt. Mit diesem Kupferhalsband ... zu deinem Pech hast du allerdings nicht an dein ungeborenes Kind gedacht. Tja, deshalb bin ich jetzt dein Kind.«

»N E I N !!!«

»Nun, ich könnte durchaus verstehen, wenn du spontan den Wunsch verspürst, aus dem Leben zu scheiden. Du hast gekämpft, du hast alles gegeben und du hast verloren. Kommt vor, man muss auch verlieren können. Nimm es sportlich. Wenn du möchtest, kann ich dir helfen, dein Leiden zu beenden. Du musst nur dein Kupferhalsband entfernen. Es geht schnell und tut nicht weh.«

»RAVEN! DU BIST EIN MONSTER!« Diese Ausgeburt der Hölle hatte ihr Kind getötet!

»Das Leben ist ein Geben und Nehmen. Du gibst mir dein Leben und ich nehme es.«

»Niemals!« Luise versuchte, auf die Beine zu kommen, scheiterte aber bei dem Versuch, sich hochzudrücken. Ihr fehlte die Kraft. »Ich werde dich vernichten!«

»Das ist dir bereits beim letzten Versuch nicht gelungen.«

»Vernichten!«

»Luise, Mama, nein, ich bleibe bei Luise. Ich fühle, dass du noch nicht bereit bist für den nächsten Schritt. Er ist unausweichlich. Akzeptiere es.« Ravens Stimme veränderte sich erneut. Sie reifte und klang nun älter. Bis sie sich einen Moment später wieder genauso anhörte wie bei dem Kampf auf der Raumstation.

»Ich werde dir zeigen, wozu ich bereit bin!« Luise schrie, sie musste aufstehen. Sie schaffte es, sich auf die Seite zu drehen und auf die Knie zu kommen. Jede Muskelfaser in ihrem Körper brannte und jede Berührung des Bodens glich dem Griff auf eine glühend heiße Herdplatte. Sie gab nicht auf.

»Noch so kämpferisch?« Raven lachte. »Ich erkläre dir deine Situation. Du bist am Ende ... dass du überhaupt noch atmest, liegt an den Nanoiden in deinem Blut. Das sind lästige kleine Zeitgenossen, die nicht verstehen, was mit ihnen passiert.«

»Die Nanoiden werden dich töten!« Das hoffte Luise, sie wusste aber, dass es nicht so einfach sein würde.

»Das versuchen sie in der Tat, sie greifen das Kind an. Ein süßes unschuldiges Kind. Die Nanoiden haben herausgefunden, dass ich mich in seinem Nervengewebe befinde. Ich wehre mich natürlich, dafür habe ich Hilfe bekommen. Wehrhafte Hilfe, die gegen deine Nanoiden in den Krieg zieht.«

»Ich habe keinen ...« Luise beendete nicht den Satz, jetzt verstand sie, was passierte. Der Virus, der Santa-Rosa Virus, jemand hatte sie gezielt infiziert. Deshalb hatte Raven so lange gewartet, ohne den Virus hätten die Nanoiden sie neutralisiert.

»Doch ... du bist infiziert. Die Nanoiden kämpfen für dich, das solltest du spüren. Ein hitziges Gefecht. Die Kraft der Natur gegen modernste Rutus Technologie. Ein Kampf auf Augenhöhe. Wir sitzen beide in der ersten Reihe. Du glühst, deine Körpertemperatur liegt bereit über 40 Grad Celsius.«

»Du wirst nicht gewinnen!«

»Oh doch ... du solltest wissen, das Gefecht zwischen dem Virus und deinen Nanoiden kostet viel Energie. Sehr viel Energie sogar. Zurzeit verbraucht dein Körper bis zu 50.000 Kalorien in der Stunde. Das sind über fünf Kilogramm deiner Fett- und Muskelmasse. Du bist schlank, du hast keine Reserven, um diesen Kampf lange durchzuhalten. Dein Körper wird in den nächsten beiden Stunden wie im Zeitraffer zerfallen. Am Ende wird es sehr schmerzhaft ... also gib auf, ich werde dir ein gnädiges Ende schenken.«

»Noch bin ich Herrin über meinen Körper!« Das war nur eine Frage des Willens. Luise schrie, sie kämpfte und sie stand wieder auf. Ihre Haut war trocken. Sie sah sich im Spiegel, in ihrem Gesicht waren bereits tiefe dunkle Augenhöhlen zu entdecken.

»Nicht mehr lange.«

»Ich werde es Eva sagen!« Eva würde eingreifen und Raven in der Luft zerfetzen.

»Oh, nein, bitte nicht. Bitte, sag es nicht Eva, sie würde mich unter ihrem Stiefel zerquetschen!«, jammerte Raven theatralisch. Dieses Monster zelebrierte ihren Sieg. »Komm, ich helfe dir ein wenig, damit du gehen kannst.«

Luise spürte, wie das Leben zurück in ihre Beine fand. Nicht schnell, aber Schritt für Schritt ging sie auf die Tür zu. Sie öffnete sie und ging auf den Flur. Von den anderen konnte sie nichts hören, es herrschte absolute Stille.

»Geht es?«

Luise antwortete nicht, die Kraft brauchte sie zum Gehen. Schritt für Schritt ging es weiter. Von den Marine Infanteristen, die hier vorhin zu sehen waren, konnte sie niemanden entdecken.

»Das machst du sehr gut. Schön langsam. Nicht fallen, ich habe keine Ahnung, ob ich dich dann noch einmal auf die Beine bekomme ... du siehst bereits etwas mitgenommen aus!«

»LECK MICH!« Luise kam am Eingang des großen Besprechungsraums an. Elena öffnete ihr die Tür. Sie lächelte vielsagend. Die Bildschirme an den Wänden waren aus.

»Hallo Luise!« Elena zeigte auf Eva, die in der Mitte des Raumes auf sie wartete. »Wir haben dich erwartet.«

Luise ging weiter und sah sich um. Adam hing mit einem Knebel im Mund mit den Füßen unter der Decke. Nein, bitte nicht! Sie erschrak und fand sich einen Moment später am Boden wieder. Adam so zu sehen, nahm ihr die letzte Hoffnung. Die Marine Infanteristen, die sie im Flur vermisst hatte, standen mit geballten Fäusten neben ihm.

»Willkommen in meiner wunderbaren neuen Welt!«, sagte Eva und breitete die Arme aus. Was niemals hatte geschehen dürfen, war passiert. Raven hatte einen Weg gefunden, Eva zu überwältigen. Die letzte Beschützerin der Erde war gefallen. »Wie ich höre, hat meine Herrin bereits mit dir gesprochen.«

»Fick dich!«, schnaubte Luise. Auch wenn sie am Boden lag, würde sie sich niemals beugen. »Ed wird das erfahren und euch alle töten! Ihr werdet das Gate nicht bekommen!«

Eva lächelte. »Ed, stimmt ja, da war noch jemand. Warte, wir fragen sie, einverstanden?« Sie drehte sich elegant um ihre eigene Achse und eine holografische Projektion vermittelte ihnen den Eindruck, wieder auf der Brücke des Gates zu stehen.

»Red!« Luise konnte Red sehen, die keine zwei Meter vor ihr stand. Mit einem Messer in der einen Hand und Eds Kopf in der anderen. Luise schloss resigniert die Augen. Dieser Horror fand kein Ende, er wurde sogar mit jedem Atemzug schlimmer.

»Red, berichte uns, was du getan hast!«, verlangte Eva und sah sich auf der Brücke um. Überall war Blut zu sehen. Sie drehte sich und lachte übertrieben laut.

»Ich habe Eds Avatar getötet. Sie hat es bis zur letzten Sekunde nicht wahrhaben wollen. Ich habe auch Po und Ken aufgeschlitzt, man konnte nicht mit ihnen reden.« Red zeigte auf weitere Leichen, die in ihrem Blut lagen. Für Luise war es unerträglich, der Nessanerin, die alle verraten hatte, zuzuhören.

»Danke Red.« Eva klatschte Beifall und deutete eine Verbeugung an. Elena und Megan Serans stiegen mit ein. Die anderen im Raum standen wie Wachspuppen herum und bewegten sich nicht. »Was ist mit den Ruhebehältern?«

»Die gibt es noch.«

»Erledige es!«

»Ich gehe zu ihnen.« Die Perspektive der Projektion folgte Red, ohne dass sich jemand in der Londoner Botschaft bewegte. Sie verließ die Brücke, durchquerte einen Korridor, auch hier war Blut an den Wänden zu sehen, und schritt eine Treppe hinab. »Ich stehe jetzt vor der gesicherten Tür.«

»Öffne sie.«

»Ich betrete den Raum.« Vor Red waren vier größere Glaszylinder zu sehen, in denen Luftblasen in einer Nährlösung nach oben sprudelten. Der grünliche Inhalt bewegte sich nur minimal. Keiner der Nessaner würde sich gegen Reds hinterhältigen Angriff wehren können. »Das hier ist Pos Glas.«

»Zerstöre es!«, befahl Eva.

Red nickte und zertrümmerte Pos Ruheplatz mit dem blutigen Messer. Verdammt, das stammte aus der Küche. Ken hatte damit immer gekocht. Grüne Gallertmasse spritzte auf den Boden und wurde von Red zerschnitten. »Po lebt nicht mehr.«

»Das Glas daneben!«

»Es ist Ken.«

»Zerstören!«

»Ja.« Ohne zu zögern oder ein weiteres Wort zu verlieren, vollendete Red ihr grausames Werk. Luise weinte jämmerlich, sie verlor gerade ihre besten Freunde. Das hatte niemand von den Nessanern verdient. »Hier ist Ed!«

»Hack das Ding klein!«

»Wird erledigt.« Auch bei Ed nahm sie keine Rücksicht. »Das letzte Glas ist von Red. Ich brauche es nicht. Der Virus kontrolliert den Avatar, ich zerstöre es ebenfalls. Den grünen Brei an den Wänden werden Drohnen später entfernen.«

Luise verstand den Zusammenhang. Red musste sich infiziert haben, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Wie auch Rutus besaßen Nessaner eine natürliche Immunität gegenüber energetischen Signaturen. Die hatte Red leider nicht gegen den Virus schützen können. Mit ihren kurzen Besuchen in der Botschaft dürfte sie die Infektion auf dem Gate eingeschleppt haben.

»Sehr, sehr gut gemacht.« Eva kam zu Luise und beugte sich zu ihr herunter. »Hast du noch Fragen?«

»Lass mich in Ruhe!« Luise wollte von dieser barbarischen Tortur nichts mehr erleben.

»Noch nicht genug?«

»Verschwinde!« Luise schloss die Augen. Es war vorbei. Alles war nun vorbei.

»Red?«

»Ja.«

»Gehe zurück auf die Brücke.«

»Sofort.« Reds Avatar war nicht mehr als ein verdammter von einem Virus kontrollierter Roboter. Sie würde nicht zögern, jeglichen Befehl von Eva umzusetzen. »Ich bin zurück.«

»Sehr gut, wie ist der Status des Gates?« Eva liebte es offenbar, mit ihrer neuen Puppe zu spielen.

»Alle Systeme im grünen Bereich. Das Gate ist voll einsatzfähig. Der Reise- und Transportverkehr ist noch unterbrochen. Soll ich ihn wieder starten?«

»Warte damit noch einen Moment.«

»Natürlich.«

»Status der Waffensysteme?« Eva hockte immer noch vor Luise, die kraftlos am Boden dahinsiechte. Adam, den sie nicht sehen konnte, stöhnte. Sie waren beide erledigt, es gab auch sonst niemanden, von dem sie Hilfe erwarten könnten.

»Voll einsatzfähig.«

»Bestens. Red, erzähl Luise und mir, was aus der Sonnenplasma-Aufladung geworden ist, die du für die Vernichtung von Del'Narrow initiiert hast?«

»Sie ist abschussbereit. Ich warte nur auf deinen Befehl. Dann werde ich Del'Narrow verglühen lassen.«

»Das wollte ich hören.«

»Soll ich es tun?«

»Nein. Warte auf mein Kommando.«

»Selbstverständlich.«

Luise schluckte, sie konnte kaum noch reden. Sie glühte regelrecht, ihr Mund war trocken, sie hatte Durst. Dennoch schwitzte sie nicht. Nicht einen Tropfen. Del'Narrow war verloren, alle Rutus, wie auch die Lemorianer die dort lebten, würden sterben. Daran würde sie nichts ändern können. Raven hatte auf ganzer Linie gesiegt, sie konnte sich nun nehmen, was sie wollte. Den Menschen auf der Erde drohte eine dunkle Zukunft.

»Möchtest du für die Rutus um Gnade betteln?« Eva war definitiv ein Roboter. Da war keinerlei Empathie zu erkennen. Sie war nur ein Schatten einer Person, die sie vielleicht früher einmal gewesen war. »Milena und ihrer roten Brut droht ein feuriger Nachmittag, sie könnten wirklich einen Fürsprecher gebrauchen.«

»Eva, du kannst mich mal. Wenn du mich töten willst, tue es endlich. Das ist besser, als dein dummes Gequatsche zu ertragen.« Luise wollte es hinter sich bringen. Sie wusste, dass es keine Worte gab, um Del'Narrow vor seinem Schicksal zu bewahren.

»Hast du es so eilig, zu sterben?« Eva packte in Luises kurze Haare und zog ihren Kopf hoch.

»Fick dich!«

»Schätzchen, ich bin noch lange nicht fertig mit dir!« Dann sah sie Red an. »Red, bringe die Ausrüstung nach London!«

 

***