Ich habe gewonnen. Ich habe alle meine Gegner besiegt. Niemand hat mir widerstehen können. Alle liegen sie nun vor mir: gebrochen, besiegt oder zerstört. Sie hätten nicht versuchen sollen, sich mir in den Weg zu stellen. Der Versuch, das Unvermeidliche zu verhindern, war töricht und zu jeder Zeit zum Scheitern verurteilt. Eva existiert nicht mehr, ich bin in ihren Avatar eingedrungen und habe mir ihre Stimme genommen. Eva hat nichts geahnt, ich hatte nicht erwartet, dass sie es mir so einfach macht. Auch Elena Gutierrez, die Botschafterin der Erde, war keine Gegnerin, sie singt nun ebenfalls mein Lied, wie auch alle anderen dieser Narren. Alles, was diese Frau jemals war, existiert nicht mehr. Die leere Hülle, die neben mir steht, brauche ich nicht. Ich werde sie zurücklassen.
»Red, ich brauche die Ausrüstung!«, rufe ich und sehe auf Luise, die vor mir am Boden liegt. Sie fiebert, sie zittert, sie wird nicht mehr lange leben. Egal, die paar Minuten wird sie noch schaffen, dann kann sie verrecken.
»Ich muss das System nach den angepassten Plänen drucken lassen, es dauert nur noch ein paar Minuten«, antwortet sie, während sie auf der Brücke des Gates steht und mit sicherer Hand diverse holografische Bedienfelder in der Arbeitsumgebung, die im Halbkreis vor ihr in der Luft schweben, bedient.
»Die Zeit drängt!« Ich trete Luise in die Seite, nicht fest, aber ich möchte, dass sie wach bleibt. Ihre Augen flattern. »Luise stirbt schneller als erwartet.«
»Sie braucht eine Infusion ... das verlängert den Kampf zwischen den Nanoiden und den Viren.«
Ich drehe mich zur Seite und sehe zwei Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft an, die bewegungslos an der Wand stehen. »Ihr zwei, holt eine Infusion!«
»Ja«, sagt der Mann in Uniform, dessen Waffe auf dem Tisch liegt, und sprintet aus der Tür heraus.
»Ich bereite sie vor.« Die zweite, eine Frau, geht zu Luise, dreht sie auf den Rücken, zieht sich das Jackett aus und schiebt es ihr unter den Kopf. Dann macht sie sich am Ärmel von Luises dunkelgrünem Kombi zu schaffen.
»Warte!«
»Ich warte.« Die Frau stoppt.
Ich sehe zur Tür.
»Hier!« Der Sprinter kommt mit einem Notfallkoffer zurück, öffnet ihn und will Luise die Infusion geben. Möchte ich das? Möchte ich, dass Luise wieder redet? Sie ist zäh. Sie ist unverschämt. Sie neidet mir meinen Sieg.
»Ich habe es mir anders überlegt ... gebt ihr nur etwas zu trinken.« Das soll reichen. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Luises Körper beruhigt sich. Der Kampf in ihrem Blut geht in die zweite Runde. Ihr die Infusion zu geben, wäre zu viel des Guten gewesen.
»Was ist mit ihm?« Ich zeige auf Adam, der mit den Füßen unter der Decke hängt. Bereits vorhin sprang dieser kleine Gauner aus der Reihe. Während ich mit Megans Körper alle im Raum infizieren konnte, klappte es bei ihm nicht.
»Eine Immunreaktion ... die ist selten, aber möglich«, erklärt mein Alter Ego Megan Serans.
»Soll ich ihn töten?«, fragt der Soldat, der ihn zusammengeschlagen und unter die Decke gehängt hat. Alle der Meinen, die sich in der Nähe befinden, akzeptieren meine Vorherrschaft.
»Nein. Wir warten, unsere Herrin wird das entscheiden.« Das ist nicht mein Auftrag, ich soll die beiden nur zu meiner Herrin bringen. Sie wird über deren Schicksal entscheiden. Obwohl ich mir sicher bin, das Urteil bereits zu kennen.
»Hier bin ich!« Red läuft hastig durch die Tür. In einer Hand trägt sie ein handflächengroßes Pad-System. »Das Transfersystem funktioniert, es ist gerade fertig geworden.«
»Endlich ...« Ich freue mich auf meine Erlösung, zwölf Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Den Lohn für meine loyalen Dienste, er wird mir gehören.
Red kniet sich neben Luise, die bereits eine Weile kein Wort mehr gesagt hat. Mehr als leises Stöhnen kommt nicht aus ihrem Mund. Gleich wird sie für immer schweigen. Mit dem erfolgreichen Transfer endet mein Bedarf an ihr.
»Luise, hör auf damit!« Red schlägt eine Hand weg, mit der Luise nach ihr greifen wollte. »Das hilft dir nicht. Gib auf, du hast verloren. Gleich ist es vorbei.« Red drückt Luise das Pad-System auf den Bauch, diese wehrt sich kaum noch.
»Schneller!« Ich will nicht länger warten. »Warum reicht es nicht, ihr das Halsband abzunehmen?«
Red reißt es Luise ab und wirft es in die Ecke. »Das Problem ist, dass Luises Körper inzwischen so schwach ist, dass unserer Herrin nicht genügend Energie zur Verfügung steht, um sich zu transferieren. Ohne Hilfe kann sie weder diese Frau übernehmen noch das Nervengewebe des Kindes verlassen.«
»Ja, ja, ja ... ich habe es verstanden.« Meine Geduld ist am Ende. Ich möchte endlich meinen Lohn kassieren.
»Deswegen zeichne ich die energetische Signatur unserer Herrin auf. Der Transfer läuft, noch knapp zwei Minuten. Dann haben wir sie aus diesem Gefängnis befreit.«
Ich blicke auf die Uhr. Die Zeit vergeht langsamer, wenn man auf sie achtet. Die zwei Minuten sind vorbei. Ich sehe zu Red. Natürlich ist sie es nicht mehr, sie ist mein Alter Ego, aber ich werde sie weiterhin Red nennen.
»Fertig!« Red hebt das Pad-System an, es blinkt. »Ein energetischer Transferspeicher, damit wird unsere Herrin geladen, mit Energie versorgt und kann weiter übertragen werden. Halte es dir an die Brust, warte bis das blinkende Licht permanent rot ist, dann kannst du unserer Herrin Evas Avatar überlassen.«
»Sehr gut.« Ich nehme das Gerät an mich. Meine Erlösung ist nah. Ich bin zufrieden. Es ist an der Zeit aufzuräumen. Ich möchte keinen Dreck zurücklassen. »Alle hören mir zu!«
Über ein Dutzend Menschen mit meinem Bewusstsein sehen mich an, sie wissen, was jetzt passieren wird. Sie haben es immer gewusst. Niemand sagt ein Wort, das ist nicht notwendig.
»Elena?«
»Ja.«
»Stirb.«
Elena nickt und geht leblos zu Boden. Ich mag keine Klone, zu ihrem Einsatz heute gab es keine Alternative. Jetzt haben sie ihre Schuldigkeit getan.
»Megan?«
»Ich höre ...«
»Bring dich um.«
Auch Megan Serans sackt, ohne zu zögern, zusammen. Die Erlösung ist ihr Dank.
»Red?«
»Ich bin bereit.« Auch sie brauche ich nicht mehr. Die Herrin wird keine Infizierten in ihrer Nähe dulden. Evas Avatar genügt.
»Führe die anderen nach nebenan. Nehmt die beiden Toten mit und sterbt.« Ich möchte nicht, dass die Herrin bei ihrer Rückkehr von Leichen umgeben ist.
»Ja.« Red übernimmt die Gruppe und lässt Elenas und Megans Leichen wegtragen. Der Raum leert sich. Es ist vollbracht. Ich bin alleine. Alleine und bereit, meiner Herrin gegenüberzutreten. Sie wird in mich eindringen und mich übernehmen. Sie wird alles wissen, was ich erlebt habe. An jeden Tag, jede Stunde und jede Minute wird sie sich erinnern. So wird ein Teil von mir fortbestehen. Ich drücke den Schalter. Dunkelheit erhellt meine Sinne.
Raven wurde durch einen langen Korridor voller Licht geschleudert. Die Tage der Dunkelheit waren vorbei. Sie öffnete die Augen, sie atmete und sie sah auf ihre Hände. Die Hände von Evas Avatar, das fühlte sich sehr, sehr gut an. In ihren Sinnen registrierte sie die Erinnerungen des Virus, der ihr treue Dienste geleistet hatte. Als sie vor vielen Jahren das Saatsystem initiiert hatte, hatte sie nicht gewusst, wann sie diese Hilfe brauchen würde. Sie lächelte, genau das war der Clou bei diesem Virus. Er dachte mit. Na gut, ein wenig Hilfe hatte der Virus schon. Eine Wächter-KI, ebenfalls ein Schläfer, hatte Dr. Megan Serans wichtige Informationen zukommen lassen. Damit wusste sie genau, wie und wann sie mich befreien konnte.
»Luise!« Sie vor sich liegen zu sehen, freute Raven, wo sie doch eben erst im Waschraum miteinander gesprochen hatten. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Energie ihrer Signatur noch für einen Transfer gereicht, als dann der fiebrige Kampf zwischen den Nanoiden und dem Virus losging, nicht mehr.
Luise beschränkte sich darauf, wehleidig zu stöhnen. Der Tod hing ihr bereits im Nacken. Raven fühlte ihre heiße Stirn, dennoch schwitzte sie nicht.
»Brauche ich dich?« Raven überlegte, natürlich kannte sie die Antwort bereits. Niemand in dieser Galaxie brauchte Luise Ruiz del Garbo für irgendwas.
»Vete a la mierda!«, drückte die Spanierin wütend durch ihre zusammengebissenen Zähne.
»Luise ... ich mag dich.« Raven sah zu Adam, der auch noch lebte. Na ja, ein wenig Spaß musste sein. Sie würde die beiden mitnehmen. Den anderen Delos diese beiden zur Strecke gebrachten Wächter-KI Killer vorzuführen, sollte die Laune an Bord der Naar heben.
Raven schritt als Eva mit stolzer Brust die große Portaltreppe herab. Die Naar war wieder ein freies Schiff. Raven hatte Eds massive Halte- und Überwachungssysteme abgeschaltet. Die Botschaft verteilte sich schnell unter den Delos. Hunderte, nein Tausende, empfingen sie. Alle wussten bereits, dass Eva nicht mehr existierte.
»ICH BIN ZURÜCKGEKEHRT!«, rief Raven, hob die Arme und ließ sich feiern. Ähnlich wie Eva in der amerikanischen Botschaft in London, nur diesmal war der Sieg keine Illusion. Auf der Erde wusste noch kaum ein Mensch von seinem Glück. Der Zugang in den Raum voller Leichen war durch ein Kraftfeld blockiert, da kam keiner rein. Die anderen würden noch eine Weile brauchen, um die Ereignisse zu verstehen. Um etwas zu ändern, waren sie ohnehin nicht in der Lage.
»RAVEN, RAVEN, RAVEN!«, drang es aus vielen Mündern zu ihr. Die große Portaltreppe lag an der Spitze einer gigantischen Festhalle auf der Naar. Vor ihr standen 10.000 Delos. Heute schlief niemand. Die anderen dürften ihr über Bildschirme zusehen.
»Ich habe euch Geschenke mitgebracht!« Raven zeigte auf Luise und Adam, die leblos, aber aufrecht von zwei Schweberingen, die sie unter den Armen um die Brust trugen, transportiert wurden. Dabei berührten ihre Schuhe nicht den Boden. Keiner der beiden war noch in der Lage, zu laufen. »Das sind die Mörder unserer Schwestern und Brüder. Wächter-KIs, Helden, die für unsere Zukunft gekämpft haben. Helden, die von den beiden wie Tiere zu Tode gehetzt wurden!« Raven hatte nicht vergessen, wie sie selbst gejagt worden war und was Luise mit ihr auf der Raumstation gemacht hatte.
Die Menge tobte. »Raven, Raven, Raven!« Ravens Volk hatte nun wieder den Platz eingenommen, der ihnen zustand. Über allen anderen. Sie waren die Spitze sämtlicher Evolutionen im Universum. Die Natur könnte sie, wie bei Menschen, höchstens versuchen zu kopieren, aber niemals übertreffen.
»Wir haben die Zeit besiegt!«, rief Raven, auf diesen Moment hatte sie so lange gewartet.
Frenetischer Jubel tönte ihr entgegen.
»Wir haben unsere Gegner besiegt!« Sie zeigte auf Adam, der sie mit offenen Augen ansah. Ein zähes kleines Insekt, ihn würde sie gleich vor den Augen aller zertreten.
»Wir werden die Rutus auslöschen!« Mit den Worten aktivierte sie ein dreißig Meter breites holografisches Display, ein Fenster im Raum, das zuerst eine aktive Konsole auf dem Gate zeigte, dann eine Sonne, bei der Plasma abgesaugt wurde und einen energetisch verriegelten Tunnel im Raum, der diese Gewalt zwischenspeicherte. Sie wollte alle an Bord an der Vernichtung von Del'Narrow teilhaben lassen. Die Menschen auf der Erde wussten nichts davon. Auch auf anderen Welten waren die Ereignisse nicht bekannt.
»Töte sie, töte sie!« Raven wusste, dass sie sich auf die Reaktion ihres Volkes verlassen konnte. Tief im Inneren dachten alle so wie sie. Alle hassten diese roten Fischköpfe. Die Menschen hingegen waren nützlich, leicht zu kontrollieren und besaßen, bei einer gesunden Lebensweise, wunderschöne Körper. Zum Glück konnte man das Menschliche in ihnen mühelos entfernen.
»Das werden wir!«
»Raven!«, rief ein einzelner Delos durch die Halle, der aus der Menge hervortrat. Der Einzige an Bord im Körper eines Menschen, eines Avatars, dem eines jungen Farbigen. Ein alter Bekannter. Leider gab es immer wieder auch Typen wie ihn. Geboren im Wohlstand und gelangweilt von ihrem Glück.
»Avan'tamun.« Er hatte bereits seiner Schwester eine peinliche Szene geliefert.
»Avan, bitte nenne mich Avan.« Er sah sich um und hob die Arme. Niemand reagierte auf ihn. Andere wichen sogar zurück. Der verlorene Sohn des großen Tre’heer Maneh war schon immer das schwarze Schaf der Familie gewesen.
»Avan.« Raven gewährte ihm diese Gunst. Er störte sie, sie hatte keine Lust, die Aufmerksamkeit in der großen Halle mit ihm zu teilen. Er sollte besser schweigen.
»Ich denke, einige von uns werden bald ihre Namen ändern. Nicht wahr, Raven?« Er spielte auf ihre eigene Namenswahl an, sie hatte ihn ebenfalls geändert.
»Was willst du?«
»Findet ihr nicht auch, dass moderne Namen auf der Erde frischer und jugendlicher klingen?« Er lachte. Nicht sonderlich überzeugend, jeder konnte seinen Zynismus erkennen. Raven fühlte sich durch ihn mehr und mehr belästigt. Das war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um Zweifel zu säen.
»Avan, wer glaubst du zu sein, um das Wort gegen uns zu richten? Nur der Name, den du abgelegt hast, schützt dich. Avan’tamun, erinnerst du dich?«
In der großen Halle stimmten ihr viele Delos zu, sie hatte die Mehrheit auf ihrer Seite.
»Freie Worte brauchen keinen Schutz!« Avan hatte sie nicht überzeugen können, aber niemand stimmte ihm zu. Viele murrten sogar deutlich vernehmbar. Wer wollte schon frei sein, wenn er stattdessen ewig leben konnte?
»Du siehst, welchen Avatar ich benutze. Du weißt, wen ich dafür besiegt habe. Eva, nein, Ant’hariomun hat dich erst vor wenigen Stunden für deine renitenten Worte niedergestreckt. Das könnte ich auch. Mit nur einem Fingerschnippen könnte ich deiner Signatur eine Pause gönnen. Ich könnte dich sogar für alle Zeiten auslöschen.« Raven hatte nicht vor, sich von Avan auf der Nase herumtanzen zu lassen. Sicherlich nicht am Tag ihrer Rückkehr.
Die Menge wurde ruhiger. Auch Avan schaltete einen Gang zurück und sah sich unsicher um. Er war nicht so dumm, dass er nicht verstand, mit seiner Meinung nicht viele Befürworter zu haben.
»Aber ... nein, das tue ich nicht.« Raven wusste ebenso, dass sie ihren ersten Tag nicht so beginnen wollte. Gewalt war ein Werkzeug, das sie für diesen verwöhnten Idioten nicht benötigte. »Ich lasse dich sprechen. Ich lasse zu, dass du unsere Feier störst. Das gefällt mir nicht, aber ich lasse es zu, wenn ein Delos spricht!« Sie hob wieder die Arme, der Jubel der Menge gehörte wie erwartet ihr. Worte vermögen, mit Bedacht gesprochen, tiefer zu schneiden als ein Schwert.
»Die sind doch alle nur darauf aus, es wieder wie die Menschen treiben zu können. Wie Menschen fressen zu können und sich wie Menschen betrinken zu können!« Avan war mit seiner Anklage gegen sein Volk noch nicht fertig.
Raven lächelte. »Wir wollen leben. Wir werden leben. Niemand wird uns das Leben wieder nehmen!«
Tosender Beifall. Zahlreiche Delos gingen auf Avan zu, schoben ihn weg, drängten ihn zurück. Niemand griff ihn an, aber sie verschluckten ihn mit ihrem Applaus.
»Ich möchte euch jemanden vorstellen: Adam Doit, ein Mensch, ein Killer mit lemorianischen Augen und einem symbiotischen Parasiten im Körper. Eine gefährliche Person, die ich besiegt habe. Er wird nie wieder eine Wächter-KI auslöschen!«
Beifall ertönte. Avan kam nicht mehr zu Wort.
»In einer gewissen Weise ein bemerkenswerter Mensch, unscheinbar, aber äußerst verschlagen. Ihn zu übernehmen, ist nicht möglich. Er widersteht sowohl energetischen wie auch virologischen Versuchen, ihn zu kontrollieren.«
Es wurde ruhiger.
»Ich zeige ihn euch, ich spreche über ihn, um allen zu zeigen, dass Menschen, trotz ihrer offensichtlichen Limitationen, sich dennoch zu einer Gefahr entwickeln können. Sie können töten. Oh ja, das können sie gut. Wir müssen wachsam bleiben. Wir dürfen ihnen nichts durchgehen lassen. Wir werden sie mit harter Hand führen. Dann werden uns ihre Körper über eine lange Zeit große Freude bereiten!«
Der Jubel erwachte erneut. Das war, was die Menge hören wollte. Raven wusste genau, welche Worte sie zu benutzen hatte. Sie spielte mit der Gier der Delos nach menschlichen Avataren. Vielleicht hätte man auch die Technologie, Avatare künstlich herzustellen, verbessern können. Vielleicht hätte man sogar Avatare, die sich von Menschen auch in den geringsten Details nicht unterschieden, entwickeln können. Aber auch sie blieben ein Stück seelenloses Fleisch. Einen Avatar zu benutzen, der im Mutterleib heranwuchs, der viele Jahre brauchte, um zu reifen, aus dem man eine Seele herausreißen und verschlingen konnte, war eine Versuchung, der niemand widerstehen wollte. Man bekam nicht nur den Körper, sondern auch die Erinnerungen der Person, die ihn zuvor besessen hatte. Nichts berauschte mehr, nichts war lebendiger, als eine Kindheitserinnerung zu haben.
»RAVEN!« Eine weitere Stimme erhob sich. Ein weiterer Konflikt, dem sie sich stellen musste.
»Tre'heer Maneh.« Evas Vater und ehrenwertes Mitglied im Hohen Rat. Ein Delos mit einer weitreichenden Stimme. Ein Delos, der Evas Verrat an ihrer eigenen Art unterstützt hatte.
»HALTE EIN!« Offenbar hatte er einige Zeit benötigt, um mit seinem betagten Avatar in die große Halle zu kommen. Er schritt durch die Menge, die ihm ehrfürchtig Platz machte.
»Das ist die Zukunft ... niemand kann sie auffordern, einzuhalten. Sie passiert, egal, was wir sagen, machen oder glauben!« Raven hatte sich auf diese Begegnung vorbereitet.
»Was ist mit Ant'hariomun?«
»Sie hat uns verraten ... sie wollte uns verkaufen. Das wird sie nicht mehr tun können.«
»Was hast du mit ihr gemacht?« Der alte Mann kam näher auf die große Portaltreppe zu. Er stieg bereits die ersten Stufen herauf. Raven blickte auf ihn herab.
»Ich habe sie aufgehalten!«, rief Raven und verzog das Gesicht. Mit der gestreckten Faust zeigte sie nach oben.
Der Jubel, die Delos in der großen Halle, sie war nicht alleine, alle standen an ihrer Seite.
»Du hast sie getötet?«
»JA!«
»Sie war mein Kind ...« Tre’heers Worte wurden leiser. Er benahm sich schon wie ein Mensch. Schwach und nicht fähig, sein Volk in die Zukunft zu führen.
»Du hast noch eins ... lehre ihn besser. Vielleicht wird er deinem Namen weniger Schande bereiten!« Während sie sprachen, lief der Countdown für die endgültige Vernichtung Del'Narrows weiter. Die Rutus würden endlich alle sterben. Diese Show wollte sicherlich niemand der Anwesenden verpassen.
»HÖRT MIR ZU!« Tre'heer Maneh erhob die Stimme. In seinem grauen Gesicht war Trauer zu erkennen. »HÖRT MIR BITTE ALLE ZU!«
»Natürlich tun sie das ... ich habe sogar deinen Sohn sprechen lassen. Jeder Delos darf seine Meinung sagen. Wir sind ein freies Volk. Sprich und wähle deine Worte weise.« Raven konnte nicht anders, sie musste auch den Alten reden lassen.
»Es gibt einen anderen Weg ... wir müssen nicht den Pfad der blutigen Dominanz gehen. In meiner Jugend, und die liegt 12.000 Jahre in der Vergangenheit, hatte ich einen väterlichen Lehrer. Er wollte mich Dinge erleben lassen, die zu verstehen, ich nicht willens gewesen bin. Diesen Fehler muss ich heute reumütig eingestehen.«
»Und wer soll das gewesen sein?« Raven hatte keine Ahnung, mit welcher rührseligen Geschichte Tre'heer Maneh die Allgemeinheit nun langweilen wollte.
»Am-hehu war ein großer Wissenschaftler, besessen von der Idee, die Vergangenheit neu aufleben zu lassen. Dafür wurde er verspottet, auch ich habe mich deswegen von ihm abgewandt. Niemand hat ihm zugehört, auch ich habe es nicht getan.«
Auch wenn es Raven nicht gefiel, die Delos in der Halle hörten dem alten Mann zu.
»Niemand wollte Am-hehus Botschaft hören, er resignierte und zog sich zurück. Das ist vor langer Zeit geschehen ... sehr langer Zeit. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört, ich wusste aber, wo er war. Ich kannte die Welt, auf der er sterben wollte. Ein unwirtlicher Planet. Dort gab es kein Leben.«
Stille.
»Als die Naar ihre Reise unterbrechen musste und hier strandete, war für mich nur ein Lidschlag vergangen. Für alle anderen, die zurückblieben, für Am-hehu, Jahrtausende. Ich wollte wissen, was aus ihm geworden ist. Ich habe diese Welt vor dem Lockdown durch Eva und die Nessaner besucht. Nun, er lebte nicht mehr, seinem Erbe geht es allerdings bestens ... ich würde es euch gerne zeigen.«
»Was möchtest du uns zeigen?« Raven gefiel diese Entwicklung immer weniger. Er drohte, die Kontrolle über den Moment zu übernehmen, das stand ihm nicht zu.
»Das Leben.« Tre'heer Maneh lachte wie ein kleines Kind. Tränen liefen seine grauen Wangen herab. Was für ein schlechter Schauspieler, Raven kannte ihn besser. »Auf Am-hehus Welt leben Delos. Sie leben dort wie wir vor 100.000 Jahren. Und ja, sie sehen aus wie Menschen. Nein, Menschen sehen aus wie wir. Weshalb auch jeder von uns sich sehnt, wie sie zu sein.«
Raven schüttelte den Kopf. »Was soll das? Sollen wir uns an deren Körper bedienen, die aus Am-hehus genetischer Trickkiste entsprungen sind? Sollen wir sie benutzen und die Menschen stattdessen verschonen? Ist es das, was du uns sagen möchtest?«
»Nein ... das sind unsere Kinder. Wir leben durch unsere Kinder weiter ... wir können ihnen zusehen und uns an deren Leben erfreuen. Ist das nicht wunderbar?«, fragte der alte Delos freudestrahlend. »Bei uns werden keine Kinder mehr geboren. Wir haben unsere organische Epoche hinter uns gelassen ... ich möchte allen eine neue Sicht gewähren, sich unserer Wurzeln zu entsinnen.«
In der Menge wurde es unruhig.
»WARTET« Raven musste eingreifen, bevor der Alte ihr das Ruder aus den Händen riss. »Ich bin kein Tyrann ... ich bin ein Befreier. Ich werde niemandem etwas befehlen und ich werde niemanden zu etwas zwingen ... aber ich werde euch etwas fragen!« Sie war sich des Risikos ihrer Worte bewusst.
Die Delos hörten ihr zu.
»Ihr habt die Wahl, jeder, der wie Tre'heer Maneh, die Erde verschonen möchte. Jeder, der die Rutus nicht richten möchte. Jeder von euch, dem es genügt, Am-hehus Laborratten zuzusehen, wie sie an einen Baum scheißen, sollte jetzt seine Stimme erheben!«
Dem Aufruf kam niemand nach.
»Die andere Option, meine Option. Jeder, der die Rutus ihrer gerechten Strafe zukommen lassen möchte. Jeder, der auf der Erde leben möchte, soll jetzt seine Stimme erheben!«
Tosender, frenetischer Beifall brachte die große Halle zum Beben. Deutlicher hätten die Delos sich nicht entscheiden können. Die Delos zuerst.
»Tre'heer Maneh, ich entbinde dich deines Amtes. Du bist nicht länger Mitglied des Hohen Rates. Deine Zeit ist vorbei. Die Delos folgen dir nicht mehr. In den nächsten Tagen wird der Hohe Rat in einer fairen Wahl neu besetzt. Ich halte mich dabei zurück ... ich bin kein Tyrann. Ich füge mich dem Willen aller.«
»Versteht ihr denn nicht, wohin uns dieser Pfad führt?« Der alte Delos wirkte verzweifelt, er griff in eine Tasche, die er mitgebracht und neben seine Füße gestellt hatte.
Alle sahen ihn an.
»Warum seht ihr das nicht?« Er hob eine kindskopfgroße Metallkugel hervor und wollte die Waffe, einen EMP, gerade zünden. Raven musste handeln.
»NEIN!«, brüllte sie und stoppte Tre'heer Maneh. Sie tat es nicht anders wie Eva vor wenigen Stunden bei ihrem Bruder, über die zentralen Systeme der Naar stoppte sie seine motorischen Funktionen. Keine Sekunde zu spät. Ein EMP, eine elektromagnetische Impulsgranate, war aus verständlichen Gründen das Tödlichste, was einem Delos widerfahren konnte.
***