Das Mädchen schlug einen weiteren Eiszapfen herunter und schmolz ihn nahe der Glut in ihrem Zinnbecher. Mit dem Beil hackte sie auf ihr Loch ein, schlug es größer und auch tiefer, um ihr Feuer wieder zum Leben zu erwecken. Weiter im Inneren gab es trockenes Holz, welches das Feuer heiß lodern ließ, und sie schichtete es auf für später. Eine ganze Weile sammelte sie Larven, aß sie und probierte sogar eine große, fadenbeinige Spinne, aber sie war sauer, und es war ohnehin kaum etwas an ihr dran, deshalb öffnete sie die Hand und ließ die restlichen hastig davonkrabbeln.
Sie kostete auch von dem Moos, das unweit der Wurzeln des umgestürzten Baumes wuchs, und befand es für genießbar. Außerdem versuchte sie, mit den Zähnen den Rest der Rinde abzuschaben, der noch am Stamm war, so wie ihre Dienstherrin das Fleisch von den Blättern ihrer geliebten Artischocken abgezogen hatte, doch im Gegensatz zu diesen merkwürdigen Keulenköpfen erwies sich die Rinde als kärglich und kein bisschen schmackhaft.
Jetzt, wo sie Zeit hatte, konnte sie ihren Sack auspacken und sich wieder um ihre Sachen kümmern, jeden Gegenstand hegen und pflegen. Der Schaft des Beils war von Kiefernharz verklebt, das sie mit dem Messer abschabte. Der Sack hatte einige winzige Löcher, wie sie voller Schrecken entdeckte, denn es bedeutete, dass vielleicht ein Teil ihres Proviants herausfiel, und sie zog ein paar Fäden aus einem fransigen Rocksaum, durchbohrte mit der Messerspitze vorsichtig den Stoff und zog die Fäden hindurch, um die Löcher zu schließen. Die Stiefel waren am ärgsten mitgenommen; der Nagel hatte sich jetzt ganz durch den Absatz gebohrt, und am linken großen Zeh klaffte zwischen der Sohle und dem Leder ein Maul. Sie flickte sie, so gut sie konnte, mit Harz und abgerissenen Streifen ihres Unterkleides, polsterte sie mit Moos und einem weiteren Stück ihrer Decke aus und stellte sie dann fein säuberlich poliert ans Feuer, damit sie ganz trocknen konnten.
Ihr guten Stiefel, sagte sie laut. Seid jetzt folgsam und bleibt gesund, denn wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis wir in Sicherheit sind.
Dann standen all ihre Habseligkeiten strahlend vor ihr, als würden sie sie anlächeln.
Sie lächelte zurück, liebte sie sie doch mehr als die meisten Menschen, denn diese Gegenstände waren ihre einzigen Freunde, und sie standen ihr nur zu gern zu Diensten.
Als alles sauber und ordentlich war und sie sich um ein jedes Ding gekümmert hatte, wusste das Mädchen nicht, was sie sonst tun sollte, denn sie erinnerte sich an keinen einzigen Tag ihres Lebens, an dem sie nicht tausend Aufgaben zu erledigen gehabt hatte, und jetzt wartete sie mit leeren Händen darauf, dass die Welt zu schmelzen begann. Neben ihren zahlreichen Pflichten für ihre Dienstherrin hatte ihre Sorge vor allem der kleinen Bess gegolten, die geboren wurde, als das Mädchen selbst gerade fünf Jahre alt und erst vor Kurzem im Haushalt angekommen war. Das Mädchen Zett war während der qualvollen Geburt zugegen gewesen, ihr hatte die Dienstherrin das schreiende Bündel in den Arm gedrückt, während man die blutigen, besudelten Laken weggeschafft und frische aufgezogen und sie in ein sauberes Nachthemd gekleidet hatte. Und das Mädchen hatte hinabgeblickt in das Gesicht der kleinen Bess, eine rote geballte Faust, und war ebenso gerührt gewesen wie hilflos, hatte sie doch in ihren wenigen Jahren noch nichts so Wundervolles und so Abstoßendes gesehen, nichts so rein Gutes und rein Tierisches wie das, was sich da gerade vor ihren Augen ereignet hatte. Von diesem Moment an hatte sie die kleine Bess geliebt, heftig und mit ganzer Seele, wegen allem, ihrer Weichheit und Zerbrechlichkeit und der heftigen Bedürftigkeit, die nur das Mädchen stillen konnte.
Nur sie, die Dienstherrin und die Hebamme, deren Vergessen man mit Gold erkaufte, wussten von dem schockierend roten Geburtsmal im Gesicht der kleinen Bess und den Hörnerabdrücken auf der schmalen Babybrust. Zum Glück, denn wären das Teufelsmal und die Leere in ihrem Kopf bekannt geworden, hätten alle im Haus und bald darauf die ganze Straße davon gewusst, dann hätte man abergläubisch geraunt, das Baby sei unter einem teuflischen Fluch geboren worden, sodass ihr Leben und das des gesamten Haushalts sehr viel schwerer geworden wären.
Doch so wurde die kleine Bess, als sie heranwuchs, das Püppchen der kleinen Zett, ihr Spielzeug, ihr Schwesterchen, ihr Pflegling, ihre Tochter und vertrauteste Bettgefährtin. Es war keine dienende Arbeit, sondern eine liebende und daher eigentlich fast gar keine Arbeit; sie trug das Baby herum, hielt es trocken und sauber und brachte es der Amme und wiegte es in den Schlaf, doch die Arbeit wollte nie enden und war notwendig, denn die Amme war eine elende Schnapsdrossel, sodass eigentlich nur auf ihre Milch Verlass war, und die Dienstherrin hätte als Mutter kaum gleichgültiger sein können. Der Goldschmied wäre vielleicht ein liebevoller Vater gewesen, nur war er selten im Haus, stand noch vor dem Morgengrauen auf und machte sich auf den Weg zum Zunfthaus, denn er liebte seine Arbeit mehr als alles andere auf der Welt, und um seine Fingernägel glänzte stets ein feiner Rand aus Goldstaub. Nach der Arbeit ging er ins Wirtshaus, aß und trank und lauschte den Unterredungen, dann kam er für ein paar Stunden Schlaf nach Hause, bevor er aufstand und sich wieder auf den Weg zur Arbeit machte. Und so war es das Mädchen, das die kleine Bess ihre ersten Schritte machen sah, spät erst, mit fast drei Jahren, und auch die wenigen Wörter, die in dem kleinen Köpfchen herumkullerten, brachte sie ihr bei. Sie wurde der Geist, der nachts durchs Haus wandelte und alles, was die kleine Bess über den Tag hinweg stibitzt hatte, wieder an seinen Platz legte, die Haarnadeln, den Zierrat und die Schmuckstücke ihrer Mutter, die unreife Aprikose vom Baum, das Schweinegebiss vom Herd und die Blumen, die sie in ihren Händchen zerdrückt hatte. Denn wie eine Schlucht riss die Kleine an sich, was sie schön fand, und schmückte damit ihr Bettchen. Sie hatten die kleine Bess nach der Königin des Reiches benannt, die klug und kühn und bissig und schön war, in der Hoffnung, das eine oder andere davon würde auf das Baby abfärben. Doch es war in ganz England noch kein der Königin unähnlicheres Wesen geboren worden.
Aber wie die Dienstherrin in den raren Momenten der Zärtlichkeit ihrer Tochter gegenüber zu sagen pflegte: So armselig sie in Geist und Verstand auch sein mochte, das Gold wuchs der kleinen Bess auf der Krone.
Und in der Tat besaß sie die allerschönsten Locken, üppig und seidig und eine einzige Pracht.
Sämtliche Kraft der kleinen Bess floss in ihr Haar, und so blieb keine Kraft für irgendetwas sonst. Obwohl sie also nur eine spärliche Handvoll Wörter kannte, besaß sie ein sonniges Wesen, und sie verbrachte lange Stunden im Garten und lachte darüber, wie die Falter im Zick durch die Luft und im Zack durch die Blumen schwirrten, das aufgerissene Mündchen so feucht und rot, dass sämtliche Stallburschen sie anstarrten, obwohl sie wussten, dass sie es nicht sollten. Ein Fremder brauchte lange, um herauszufinden, welche Art von Dung ihren Kopf füllte, denn sie schwieg und lächelte, und die atemberaubende Schönheit ihres Gesichts und ihres Haars ließ jedermann verstummen, sodass die Dienstherrin, wenn sie denn einmal die Gnade hatte, ihre Tochter anzusehen, bitter lächelnd sagte, Nun, wir werden meine Tochter wohl mit einem reichen alten Adligen verheiraten, sie mögen ihre Mädchen hübsch und blond und strunzend dumm. Und dann lächelte die kleine Bess zu ihrer Mutter hoch, das rosa Mündchen offen und sabbernd, und man sah, dass ihre Zähne schon schwarz waren von dem Zucker, nach dem sie ganz verrückt war und den sie Händeweise der Köchin stahl, die so tat, als würde sie ihr plumpes Stöbern in der Speisekammer nicht bemerken, und ihr hier und da eine kleine Süßigkeit hinlegte, obwohl man es ihr verboten hatte.
So tief in ihre Gedanken an die verlorene kleine Bess versunken, bemerkte das Mädchen erst gegen Mittag, dass die Schneeschmelze nun wirklich begonnen hatte. Das Wasser lief die Baumstämme hinab und regnete von den Zweigen, und überall im Wald rauschten Bäche von glänzendem Eiswasser hinab in Richtung Fluss. Sie verharrte am Eingang ihres Unterschlupfes, bewegte sich nur, um auf dem Feuer Wasser zu erhitzen und gegen das Auskühlen zu trinken.
Ihr ganzer Körper tat von den sechs Tagen der Flucht so weh, dass sie sich unendlich viel älter fühlte, als sie war, wie ein altes Hutzelweib, und sie wusste, dass selbst lange Monate der Ruhe nichts daran ändern würden, dass manches in ihrem Körper sich für immer verändert hatte. Sie war zwar erst sechzehn oder siebzehn oder vielleicht auch achtzehn Jahre alt, doch die Wildnis hatte sie so erfasst, dass sie nie mehr jung sein würde.
Die Nacht schlich sich heran, und allmählich ging ihr das Brennholz aus, doch das war nicht schlimm. Die Welt war warm, und ihre Baumhöhle, ihre Decke und ihr Fieber sorgten dafür, dass sie nicht fror, und so schlief sie gut.
Sie erwachte, als die Nacht noch schwer auf dem Wald lag, und zündete einen harzigen Ast an, den sie von einer nahe gelegenen Kiefer abgerissen hatte. Im spärlichen Licht sammelte sie so viele Larven, wie sie nur konnte, und stopfte dem Zinnbecher Moos ins Maul, damit sie darin blieben. Dann wickelte sie all ihre Sachen in die Decke, packte das Bündel in den Sack und band ihn sich unter den Kleidern an den Leib, bevor sie auf zwei kräftige Äste gestützt vorsichtig durch die Nässe und den Schlamm hindurch den dunklen Hügel hinabstieg. Sie hatte ihr Boot während des aufziehenden Unwetters recht gut inmitten der Bäume versteckt, sodass es während der Hagelapokalypse einigermaßen geschützt gewesen war. Zu ihrem Erstaunen fand sie keinerlei Dellen darin. Mit brechender Stimme sagte sie laut Danke, denn das Boot war noch immer willens, sie zu tragen.
Während sich im Osten das erste Sonnenlicht über das Wasser ergoss, paddelte sie mit ihrem Treibholzruder den Fluss hinauf. Am späten Vormittag schließlich waren in den Wäldern, die links und rechts vorbeizogen, deutlich weniger Auswirkungen des Hagelsturms sichtbar als zuvor; es gab keine abgebrochenen Äste und keine ihrer Knospen beraubten Bäume mehr, und die Bäche, die in den Fluss mündeten, waren nicht mehr aufgewühlt von Schmelzwasser. Offenbar hatte es in den Wäldern hier kein Unwetter gegeben; es schien, als wäre der Hagel eine Laune der Natur gewesen, ein eisiger Finger in den Wolken, der vom Meer aus aufs Land gezeigt hatte, direkt hinab auf das Mädchen. Und obwohl es ihr so vorkam, als wäre sie persönlich gejagt worden, war ihr nun dieser Wald ein Labsal, üppig und frisch mit seinen prallen grünen Knospen und den Vögeln, die unablässig durch die Luft schwirrten.