CLAIRE
Dienstag, 22. Februar
Der Tag des Absturzes
Ich muss geschlafen haben, denn plötzlich werde ich vom Wecker aufgeschreckt. Ich blinzle den Schlaf weg und sehe mich im Zimmer um. Es ist bereits hell, und Rorys Bett neben mir ist leer. Die Uhr zeigt halb acht.
Ich setze mich auf, warte ab, bis die Nervosität sich legt und durch freudige Erregung abgelöst wird, bevor ich ins Badezimmer gehe. Ich stelle die Dusche an und beobachte, wie Dampf mein Gesicht im Spiegel vernebelt. Ich sehe nach, ob der USB -Stick noch da ist, und bin beruhigt, dass er anscheinend nicht entdeckt wurde.
Dann stelle ich mich unter die Dusche und lasse das heiße Wasser auf meinen Rücken prasseln, während mich ein Hochgefühl durchströmt. Nach über einem Jahr sorgfältiger Planung, ständiger Angst, dass der kleinste Fehler dazu führen könnte, dass mein Plan herauskommt, ist es jetzt endlich so weit. Ich bin reisefertig. Ich habe alles, was ich brauche. Rory ist bei einem Meeting. Ich muss mich nur anziehen und zum letzten Mal zur Tür hinausgehen.
Ich dusche schnell zu Ende und hülle mich in meinen Lieblingsbademantel, in Gedanken bin ich schon Stunden weiter voraus. Ein ruhiger Flug nach Detroit, ein Schulbesuch und ein Essen, das alles wird mich beschäftigen, bis alle schlafen. Eine Reihe von Dingen, die ich nacheinander abhaken kann, bis ich frei bin.
Aber als ich wieder ins Schlafzimmer komme, bleibe ich abrupt stehen, denn Constanze, das Mädchen für oben, hebt gerade meinen Koffer aufs Bett und öffnet ihn. Sie beginnt, die dicken Wintersachen herauszunehmen, die auf meine Unterwäsche gepackt sind.
Ich schließe meinen Bademantel fester. »Was machen Sie da?« Ich habe die Augen auf den Koffer geheftet, verfolge jede ihrer Handbewegungen, während sie Dinge herausholt, und mache mich darauf gefasst, dass sie den Nylonrucksack findet. Jeans, die unpassend für das Event in Detroit sind. Einige langärmelige T-Shirts und eine Daunenjacke, die noch keiner zu Gesicht bekommen hat.
Aber sie nimmt nur die warmen Sachen heraus, bringt sie zurück zum Schrank und kommt mit leichterer Kleidung wieder – Kleider und weite Hosen aus Leinen. Sie legt meinen hellrosa Kaschmirpullover aufs Bett, ein Farbfleck, der irgendwie deplatziert und viel zu dünn für diesen kalten Februarmorgen wirkt. Sie lächelt mir über die Schulter zu, als sie alles neu packt und sagt: »Mr. Corcoran möchte mit Ihnen sprechen.«
Er muss im Flur gelauert haben, denn bei der Erwähnung seines Namens kommt Bruce herein und bleibt stehen, offenbar fühlt er sich unbehaglich, weil ich gerade aus der Dusche komme. »Planänderung«, sagt er. »Mr. Cook übernimmt den Termin in Detroit selbst. Er möchte, dass Sie nach Puerto Rico fliegen. Es gibt dort eine Organisation – eine humanitäre Gruppe, die sich für Hurrikan-Hilfsmaßnahmen engagiert –, und er ist der Meinung, dass die Stiftung das übernehmen sollte.«
Es kommt mir so vor, als ob sich die ganze Welt in ihrer Achse verschoben hätte, die Schwerkraft mich mit einem heftigen Ruck zum Mittelpunkt der Erde reißt. »Was haben Sie gesagt?«
»Mr. Cook fliegt nach Detroit. Er und Danielle sind heute Morgen schon früh aufgebrochen«, wiederholt er. »Er wollte Sie nicht wecken.«
Constance schließt meinen Koffer wieder und schlüpft an Bruce vorbei in den Flur.
»Ihr Flug geht um elf von JFK
»JFK ?«, flüstere ich, unfähig, das Ganze zu begreifen.
»Mr. Cook hat das Flugzeug genommen, deshalb mussten wir für Sie einen Flug mit Vista Air buchen. Es braut sich irgendein Unwetter über der Karibik zusammen, und es ist der letzte Flug dorthin, bevor sie alles einstellen. Wir hatten Glück, dass wir noch einen Platz für Sie bekommen haben.« Er wirft einen Blick auf seine Uhr. »Ich werde draußen warten, während Sie sich anziehen. Wir müssen dafür sorgen, dass Sie um neun am Flughafen sind.«
Er schließt die Tür, und ich setze mich auf mein Bett, meine Gedanken rasen. Alle meine Pläne wurden in den wenigen Stunden, die ich geschlafen habe, zunichtegemacht. Die vierzigtausend Dollar, der gefälschte Ausweis von Nico, mein Brief und Petras ganze Hilfe – das alles wartet in Detroit, wo Rory das Päckchen öffnen und Bescheid wissen wird.
Irgendwie schaffe ich es, mich anzuziehen, und wenig später sind wir auf dem Rücksitz einer gemieteten Limousine auf dem Weg zum Flughafen. Bruce geht den Reiseplan mit mir durch, sein Ton ist einen Hauch weniger respektvoll, als wenn Rory dabei ist. Aber ich höre kaum zu, versuche, mir irgendetwas auszudenken, das diese Sache noch abwenden könnte.
Mein Handy zeigt eine Textnachricht von Rory an.
Tut mir leid wegen der Planänderung in letzter Minute. Wir sind in fünf Minuten im Hotel.
Ruf mich an, wenn du da bist, und genieß die Wärme. Hier ist es zwei Grad kalt.
Also weiß er es noch nicht. Vielleicht ist noch Zeit genug, es in Ordnung zu bringen. Ich umklammere mein Handy und wünschte, wir würden schneller fahren, denn am Flughafen kann ich mir besser überlegen, was ich als Nächstes tue.
»Sie werden in San Juan übernachten«, sagt Bruce und liest die Informationen von seinem Handy ab. »Es sind zwei Nächte für Sie im Caribe gebucht. Danielle sagt, es könnten auch drei werden, deshalb hat sie Ihr Meeting am Freitag abgesagt.«
Er sieht zu mir auf, und ich nicke, denn meiner Stimme traue ich nicht. Ich bin völlig panisch und verzweifelt, will nur Petra anrufen und gemeinsam mit ihr überlegen, wie wir alles noch retten können. Aber ich muss warten, bis wir am Flughafen sind, wo die einzigen Menschen, die mein Gespräch mit anhören können, Fremde sind.
Sie lassen mich am Bordstein raus, und Bruce gibt mir letzte Informationen. »Vista Air, Flug 477«, sagt er, als ich aus dem Auto steige. »Die Bordkarte ist auf Ihrem Handy, und bei der Ankunft wird jemand Sie abholen. Rufen Sie Danielle an, wenn Sie noch Fragen haben.«
Ich gehe auf die Glasschiebetür zu, die in den großen Abflug-Terminal für Vista Air führt, wobei ich mir bewusst bin, dass das Auto immer noch mit laufendem Motor am Bordstein steht. Geh weiter , sage ich mir. Verhalte dich unauffällig . Ich stelle mich an der Schlange für die Sicherheitskontrolle an, die aus mehreren Reihen Reisender besteht, öffne mein Handy und scrolle durch meine E-Mails auf der Suche nach dem Reiseplan für Detroit, den Danielle mir vor ein paar Tagen geschickt hat. Dann wähle ich die Nummer des Hotels.
»Excelsior Hotel«, antwortet die Frau am anderen Ende.
»Guten Morgen«, sage ich und versuche, ruhig und freundlich zu klingen. »Ich sollte eigentlich heute in Ihrem Hotel übernachten, aber meine Pläne haben sich geändert. Unglücklicherweise erwarte ich ein Päckchen, das heute Morgen bei Ihnen eintreffen müsste, und würde Sie bitten, es weiterzuleiten.«
»Natürlich«, sagt die Frau. »Wie ist Ihr Name?«
Etwas in meiner Brust löst sich, und ich hole tief Luft. Ich kann es noch in Ordnung bringen. Ich bitte Sie, das Päckchen zum Caribe zu schicken, und verschwinde dann eben von dort. »Claire Cook.«
»Oh, richtig, Mrs. Cook! Ja, das Päckchen wurde heute Morgen zugestellt, und ich habe es vor kaum zehn Minuten Ihrem Mann gegeben«, zwitschert sie, offenbar immer noch aufgeregt wegen der Begegnung.
Ich umklammere mein Handy, sehe Punkte vor den Augen und muss mich anstrengen, mich aufrecht zu halten. Ich stelle mir vor, wie Rory mit viel Wirbel ankommt und sich direkt in sein Hotelzimmer begibt, wo er E-Mails und Anrufe checkt und seine Rede noch mal durchgeht. Irgendwann wird er sich an das FedEx-Päckchen erinnern. Es spielt keine Rolle, dass es an mich adressiert ist. Ich sehe vor mir, wie er es öffnet, hineinblickt und den fest zusammengebundenen Packen Bargeld sieht. Hineingreift und den unbeschriebenen Umschlag herauszieht, in dem mein neuer Führerschein, Pass, Kreditkarten und andere gefälschte Dokumente sind. Wie er den Namen – Amanda Burns – und dann das Bild von mir entdeckt. Und einen Brief, frankiert und an ihn in New York adressiert, der alles erklärt.
»Mrs. Cook?« Die Stimme der Frau holt mich in die Gegenwart zurück. »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?«
»Nein«, sage ich, meine Stimme ist nur noch ein Flüstern. »Das ist alles.« Ich lege auf, gehe in Gedanken die anderen Möglichkeiten durch. Ich könnte woanders hinfliegen. Einfach an einen Schalter gehen und ein Ticket nach Miami oder Nashville kaufen. Aber das würde eine Datenspur hinterlassen. Das ganze Geld, das dafür vorgesehen war, meine Spuren auszulöschen, ist jetzt in Detroit. Bei Rory.
Ich scrolle durch meine Kontakte, bis ich finde, was ich suche. Ninas Nagelstudio in der Park Avenue als Tarnung für Petras Handynummer.
Sie nimmt beim dritten Klingeln ab.
»Ich bin es, Claire.« Ich bin mir plötzlich der Menschen um mich herum bewusst und spreche leiser, als ich erkläre, was passiert ist. »Rory hat seine Pläne geändert und schickt mich nach Puerto Rico. Und Petra …« Ich kann es kaum aussprechen. »Er ist in Detroit.« Ich versuche verzweifelt, meine aufkommende Hysterie unter Kontrolle zu halten – vergeblich.
»O mein Gott.« Petra atmet aus.
»Ich habe dort im Hotel angerufen. Sie haben das Päckchen schon Rory gegeben.« Ich schlucke schwer. »Was soll ich bloß machen?«
Die Schlange an der Sicherheitskontrolle bewegt sich zentimeterweise vorwärts, und ich bewege mich mit ihr. Petra schweigt und denkt offenbar nach. »Geh wieder raus, und nimm von dort ein Taxi. Du kannst bei mir bleiben, und wir überlegen uns was.«
Es stehen nur noch wenige Leute vor mir in der Schlange, meine Möglichkeiten werden mit jeder Minute weniger. Sobald Rory entdeckt, was ich vorhatte, wird er alle Konten sperren, bis er mich wieder zu Hause hat. Ich denke an das letzte Mal, als ich versucht habe, ihn zu verlassen, und stelle mir uns beide dort vor, die Beweise für das, was ich vorhatte, vor mir ausgebreitet, und denke an das, was als Nächstes passieren wird. Vielleicht befolgt er sogar die Anweisungen, die ich ihm in meinem Brief gegeben habe, offiziell unsere Trennung bekannt zu geben und die Öffentlichkeit zu bitten, meine Privatsphäre zu respektieren, und verwendet den Plan gegen mich. Es ist möglich, dass ich meinen eigenen Abschiedsbrief geschrieben habe.
»Das ist zu nah«, sage ich. »Jemand wird mich sehen und es ihm sagen.«
»Ich wohne im verdammten Dakota Building. Keiner kommt hoch, wenn ich es nicht will.«
»Mindestens drei von Rorys Freunden wohnen ebenfalls dort«, erinnere ich sie. »Er wird mein ganzes Leben durchforsten. Meine Bankkarten. Kreditkarten. Handydaten, die ihn jetzt direkt zu dir führen werden. Zu Nico. Und zu mir, wenn ich mich bei dir verstecke.« Mein Blick gleitet über die Sicherheitsbeamten, die die Leute links und rechts zu den Röntgengeräten dirigieren. Es sind nur noch drei andere vor mir. »Ich glaube, in Puerto Rico habe ich bessere Chancen zu verschwinden«, sage ich. »Nach dem Hurrikan funktionieren viele Verbindungen noch nicht. Die Leute werden empfänglicher für Bargeld sein und nicht viele Fragen stellen.« Ich spreche jedoch nicht aus, wie schwer es auf einer Insel mit begrenzten Ausreisemöglichkeiten fast ohne Geld sein wird. Das schaffe ich nicht ohne Hilfe. Ich weiß, ich habe versprochen, es nicht zu tun, aber ich frage: »Kennt Nico jemanden da unten?«
Petra atmet hörbar aus, während sie nachdenkt. »Ich glaube ja«, sagt sie schließlich. »Ich weiß nicht viel, Nico hält mich von den Leuten fern, mit denen er Geschäfte macht, Claire. Aber das sind keine netten Leute, Claire. Und wenn sie dich erst mal haben, kann Nico dich da vielleicht nicht sofort wieder rausholen. Bist du sicher, dass du das willst?«
Angst bohrt sich wie ein kalter Stachel zwischen meine Rippen, während ich mir ein dunkles Auto vorstelle. Ein namenloses Gesicht. Einen kalten Raum voller Frauen, gefesselt und angekettet. Schmutzige, klumpige Matratzen, auf einem Betonboden verstreut. Dann denke ich daran, wie Wut aussieht, wenn sie sich in Rorys Gesicht abzeichnet, daran, was er mit mir machen wird, sobald er mit mir allein ist. Daran, wie sehr er sich gedemütigt fühlen wird, und seine Empörung über das, was beinahe geschehen wäre. »Ruf ihn an«, sage ich.
»Wo bist du untergebracht?«, fragt sie.
Ich gebe ihr die Daten und höre, wie sie in einer Schublade nach einem Stift sucht.
»Okay. Jemand wird dort mit dir Kontakt aufnehmen. Sobald du von uns hörst, musst du reisefertig sein.«
Wieder packt mich die Angst, als ich mich frage, ob Nico in der Lage sein wird, mir zu helfen. Und ob ich es will.
Petra gibt mir weitere Anweisungen. »Such einen Bankautomaten, und hol dir so viel Bargeld wie möglich – nur für alle Fälle.«
Ich bin jetzt vorne in der Schlange, und die anderen warten darauf, dass ich das Gespräch beende und meine Sachen aufs Förderband lege. »Ich muss auflegen«, sage ich zu ihr.
»Versuch, ruhig zu bleiben«, sagt sie. »Ich melde mich, sobald ich kann.«
Dann lege ich auf und bin von Zweifeln erfüllt. Es kommt mir vor, als wäre ich gerade in einen Albtraum geraten – ich versuche, mich herauszuwinden, doch wohin ich auch sehe, überall lauert Gefahr.