CLAIRE
Dienstag, 22. Februar
Erst nachdem wir schon eine Stunde in der Luft sind, hört mein Herz auf zu rasen, und ich hole zum ersten Mal seit Jahren tief Luft. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Das Flugzeug, in dem ich sitzen sollte, ist jetzt irgendwo über dem Atlantik, Tausende Kilometer entfernt. Ich stelle mir vor, wie es in Puerto Rico landet, zum Terminal rollt und Urlauber entlässt, wie Eva unsichtbar an allen vorbeischlüpft. Rory wird inzwischen entdeckt haben, was in dem FedEx-Päckchen ist. Wenn er anfängt, mich zu suchen, wird er nach Claire Cook oder Amanda Burns Ausschau halten. Er hat keine Ahnung, wer Eva James ist. Es war beinahe zu einfach.
Ich erinnere mich an einen Abend, als ich dreizehn war und mit meiner Mutter auf der Veranda saß. Ich war seit einigen Wochen das Opfer einer Gruppe beliebter Mädchen gewesen. Sie folgten mir, flüsterten grausame Dinge, warteten, bis ich allein im Flur oder in der Toilette war, um ihre verletzenden Bemerkungen zu machen. Meine Mutter wollte einschreiten, aber ich ließ sie nicht, weil ich glaubte, es würde alles nur noch schlimmer machen. »Ich wünschte, ich könnte einfach verschwinden«, hatte ich geflüstert. Wir sahen zu, wie die dreijährige Violet in dem kleinen Garten herumlief, die Rosen sich in der leichten Abendbrise hin und her bewegten.
»Es gibt immer eine Lösung, Claire. Aber du musst mutig genug sein, um sie zu erkennen«, sagte meine Mutter, nahm meine Hand aus meinem Schoß und drückte sie.
Damals habe ich nicht verstanden, was sie meinte. Aber jetzt wird mir klar, dass sie mir einen Rat für später gegeben hatte. Ich hatte die Wahl zwischen zwei schrecklichen Möglichkeiten – Rorys Zorn oder die Leute, die Nico mir vielleicht geschickt hätte, um mir zu helfen. Und dann kam Eva des Wegs und hat mich gerettet.
Ich denke an Eva, denke daran, was sie verloren hat, und hoffe, dass sie ihren Frieden findet, wo immer sie schließlich landet. Ich stelle mir vor, dass sie irgendwo in ein entlegenes Dorf entkommt und ein kleines Haus am Meer findet. Dass ihre blonden Haare auf ihre gebräunten Schultern fallen, die von einer versöhnlichen Sonne gestreichelt werden. Ein Neuanfang, wie ich ihn mir auch erhoffe.
Erstaunlich, dass wir einander gefunden haben.
Vor lauter Freude verspüre ich ein Kribbeln, und ich lache laut, erschrecke den Mann, der neben mir sitzt. »Entschuldigung«, sage ich, wende mich zum Fenster und beobachte, wie die Landschaft unter mir sich von städtischer Bebauung in großflächiges Ackerland verwandelt, während ich immer mehr Kilometer zwischen mich und Rory bringe.
Sechs Stunden später landet das Flugzeug unsanft in Oakland. Wir sind über San Francisco gekreist, und obwohl der Pilot auf Sehenswürdigkeiten wie die Bay Bridge und die Transamerica Pyramid hinwies, habe ich sie vor Aufregung kaum registriert. Während ich warte, bis ich das Flugzeug verlassen kann, und die Leute hinter mir drängeln, schließe ich die Augen und denke an ein Spiel, das Violet und ich immer gespielt haben: Würdest du lieber … Wir verbrachten Stunden damit, uns unmögliche, urkomische Alternativen auszudenken. Würdest du lieber zehn Kakerlaken essen oder ein Jahr lang jeden Tag Leber zum Abendessen? Ich muss insgeheim lächeln und frage mich, was Violet und ich uns jetzt vielleicht einfallen lassen würden. Würdest du lieber mit einem gewalttätigen, aber reichen Mann verheiratet sein oder lieber irgendwo ohne Geld und Identität noch einmal neu anfangen? Die Entscheidung fällt mir nicht schwer.
Schließlich öffnet sich die Flugzeugtür, und alle steigen nach und nach aus. Ich reihe mich zwischen ihnen ein, ziehe die Kappe tief über die Augen, zumindest bis ich das Flughafengebäude und die Überwachungskameras hinter mir gelassen habe. Als Erstes muss ich Petra anrufen und ihr sagen, dass ich in Oakland bin. Und dann ein billiges Motel finden, wo man nicht viele Fragen stellt. Da ich nur vierhundert Dollar im Portemonnaie habe, muss ich klug vorgehen.
Nachdem wir das Flugzeug verlassen haben, mache ich mich auf die Suche nach einem Münztelefon. Als ich die Gates hinter mir gelassen habe, bemerke ich etwas Seltsames. Mehrere Menschengruppen scharen sich schweigend in den verschiedenen Bars und Restaurants um die Fernsehmonitore.
Es muss etwas passiert sein.
Ich nähere mich einer dieser Gruppen und spähe über die Schultern der Menschen. Im Fernsehen läuft eine Nachrichtensendung, aber der Ton ist leise gedreht. Eine ernst blickende Frau spricht gerade, und ihr Name erscheint kurz auf dem Bildschirm – Hillary Stanton, Pressesprecherin von NTSB . Ich lese die Untertitel auf dem Bildschirm.
Wir wissen noch nicht, was den Absturz verursacht hat, und es ist zu früh, um etwas zu sagen.
Es folgt ein Schnitt zu einem Nachrichtenmoderator, und ich erhasche einen Blick auf die Schlagzeile, die vorher vom schwarzen Untertiteltext verdeckt war.
Der Absturz von Flug 477.
Ich lese es noch einmal, versuche, den Worten eine andere Bedeutung zu geben.
Flug 477 war mein Flug nach Puerto Rico.
Ich dränge mich näher heran. Mehr Text erscheint, diesmal vom Moderator.
Die zuständigen Behörden wollen noch keine Vermutungen über die Ursache des Absturzes anstellen, aber sie haben angedeutet, dass es wahrscheinlich keine Überlebenden gibt. Flug 477 war mit 96 Passagieren an Bord auf dem Weg nach Puerto Rico.
Im Bild erscheint jetzt eine Live-Aufnahme des Meeres, Wrackteile schwimmen auf der Oberfläche.
Der Boden scheint sich unter mir zu bewegen, und ich taumele gegen einen Mann, der neben mir steht. Er hält mich am Ellbogen fest, so lange, bis er sicher ist, dass ich nicht falle. »Alles in Ordnung?«, fragt er.
Ich schüttele ihn ab und dränge mich durch die Menge. Ich kann das, was ich im Fernsehen sehe, nicht mit den ganz frischen Erinnerungen an Eva in Einklang bringen – ihre Stimme, ihr Lächeln, kurz bevor sich die Toilettentür hinter ihr schloss.
Mit gesenktem Kopf durchquere ich die Halle. Plötzlich fällt mir auf, wie viele Fernsehbildschirme es hier gibt, und alle berichten von dem Unglück. Ich schlucke den Kloß hinunter, der in meiner Kehle steckt, und entdecke in der Nähe der Toiletten ein Münztelefon.
Mit zitternden Händen hole ich die Quittung hervor, auf der ich Petras Nummer notiert habe, und wähle. Eine unpersönliche Stimme sagt mir, dass ich einen Dollar und fünfundzwanzig Cent einwerfen soll. Ich suche in Evas Portemonnaie, bis ich die Münzen zusammenhabe, und werfe sie eine nach der anderen in den Schlitz. Mein Herz rast.
Doch statt eines Klingelns höre ich nur drei Töne und eine automatische Stimme, die sagt: Wir bedauern, aber die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht mehr vergeben .
Ich habe es so eilig gehabt, sie anzurufen, dass ich mich verwählt haben muss. Ich hole tief Luft, versuche, mich so weit zu beruhigen, dass meine Hände nicht mehr zittern, nehme die Münzen aus dem Rückgabefach und wähle erneut, diesmal langsamer.
Wieder bekomme ich die Auskunft, dass die Nummer nicht mehr vergeben ist.
Ich lege auf und habe das Gefühl, neben mir zu stehen, gehe hinüber zu einer verlassenen Stuhlreihe, wo ich zusammenbreche und in die Halle starre. Menschen gehen an mir vorbei, ziehen Koffer hinter sich her, treiben Kinder an, sprechen in Handys.
Ich muss die Nummer falsch abgeschrieben haben. Ich denke an die Toilettenkabine zurück, wo es mir wegen des Adrenalins wahrscheinlich an Konzentration mangelte.
Und jetzt bin ich total abgeschnitten.
Auf der anderen Seite des Gangs wechseln die Fernsehbilder wieder und ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich.
Die Namen der Passagiere sind noch nicht veröffentlicht worden, aber NTSB-Vertreter haben erklärt, dass sie später am Abend eine Pressekonferenz geben werden.
Mir wird klar, wie gefährdet ich in Kürze sein werde, wie übermächtig solche Dinge werden und die Gemüter der Menschen im ganzen Land bewegen. Zuerst die schrecklichen Details, die Spekulationen, was schiefging. Dann das Interesse an den Menschen. Die Opfer. Ihre Leben, ihre Hoffnungen. Ihre Gesichter, lächelnd, lachend, ahnungslos, was ihnen bevorsteht. Wegen Rorys Prominenz wird man meine Geschichte aufblasen, und meine Anonymität wird mit alarmierender Geschwindigkeit zusammenschrumpfen. Bald wird mein Bild in allen Medien erscheinen. Ich werde dieselbe traurige Berühmtheit erlangen wie Maggie Moretti. Noch eine weitere Tragödie, die Rory tapfer durchstehen muss. Und ich sitze fest, mit sehr wenig Geld, ohne meinen Ausweis und ohne Versteck.
Mein Blick fällt auf Evas Handtasche. Ich greife hinein und hole einen Schlüsselbund sowie ihr Portemonnaie heraus. Ich stecke die Schlüssel in die Tasche und öffne das Portemonnaie, merke mir die Adresse auf dem Führerschein. 543 Le Roy. Ohne zu zögern, trete ich aus dem Flughafengebäude in den hellen Sonnenschein Kaliforniens und rufe ein Taxi.
Wir jagen eine Autobahn entlang, die Skyline von San Francisco ist am östlichen Rand der Bucht hinter Industriegebäuden zu sehen, aber ich nehme nichts davon wirklich wahr. Stattdessen denke ich an die letzten Augenblicke, die ich mit Eva in der Toilettenkabine verbracht habe. Sie war entschlossen, sich eine zweite Chance zu erkämpfen, ohne zu ahnen, dass sie keine hatte. Ich lehne den Kopf gegen das Fenster und versuche, mich darauf zu konzentrieren, wie sich das kalte Glas an meiner Haut anfühlt. Noch ein bisschen durchhalten . Ich kann mich nicht gehen lassen, bevor ich allein bin.
Bald verlassen wir die Autobahn und fahren durch Straßen voller Collegekids, optimistisch und farbenfroh. Ich versuche mir vorzustellen, was Rory gerade macht. Wahrscheinlich hat er den Termin in Detroit abgesagt und ist auf dem Rückweg nach New York. Zahlt stillschweigend die vierzigtausend Dollar wieder bei der Bank ein und versteckt alles andere in seinem Geheimfach.
Ich starre aus dem Fenster, als wir an der Universität vorbeifahren. Studenten überqueren leichtsinnig die Straße, so unbekümmert, wie nur Studenten es können. Wir fahren am östlichen Rand des Campus entlang und kommen in ein Wohngebiet an der nördlichen Seite, mit Hügeln und kurvenreichen Straßen. Einzelhäuser, Doppelhäuser und Apartments stehen nebeneinander zwischen hohen Redwood-Bäumen. Ich frage mich, was mich erwartet, wenn ich Evas Tür aufschließe. Ein Eindringling, der das Haus betritt, in dem sie mit ihrem Mann gelebt hat, immer noch genau so, wie sie es verlassen hat. Ich werde ihre Fotos ansehen, ihr Bad benutzen, in ihrem Bett schlafen. Ich schaudere bei dem Gedanken und versuche, nicht so weit vorauszudenken.
Der Fahrer setzt mich vor einem weißen zweistöckigen Doppelhaus mit einer langen Veranda und zwei identischen Türen am Ende jeder Seite ab. Auf der rechten Seite sind die Vorhänge zugezogen, um neugierige Blicke fernzuhalten. Eine große Kiefer überschattet einen Teil der Veranda, die Erde darunter sieht dunkel und frisch aus. Die linke Seite ist unbewohnt, die kahlen Fenster geben den Blick auf leere Räume mit Deckenleisten frei, eine rote Akzentwand und Holzfußböden sind zu sehen. Ich bin froh, dass ich nicht die Fragen eines Nachbarn beantworten muss, wer ich bin oder wo Eva ist.
Ich fummele mit den Schlüsseln herum, finde schließlich den richtigen und stoße die Tür auf. Zu spät fällt mir ein, dass es eine Alarmanlage geben könnte, und ich erstarre. Aber alles ist still. Es riecht nach ungelüfteten Räumen, außerdem ist da noch ein leichter chemisch-blumiger Duft.
Ich schließe die Tür ab und steige vorsichtig über ein Paar Schuhe, die aussehen, als hätte jemand sie erst vor ein paar Minuten von den Füßen geschleudert. Ich spitze die Ohren, ob irgendein Geräusch, ein menschlicher Laut zu hören ist. Doch trotz der Unordnung ist es im Haus absolut still.
Ich stelle meine Tasche neben der Tür ab für den Fall, dass ich schnell wegmuss, schleiche hinüber zur Küche und spähe hinein. Leer, aber auf dem Tresen steht eine geöffnete Dose Cola-Light, und im Spülbecken ist etwas Geschirr. Eine Tür führt in den Garten, doch sie ist mit einer Kette verschlossen.
Ich steige langsam die Treppe hinauf und lausche angestrengt. Nur drei Räume – ein Bad, ein Büro, ein Schlafzimmer, Kleidung auf Bett und Boden verteilt, als hätte jemand es eilig gehabt. Aber ich bin allein im Haus und atme die Luft aus, die ich angehalten habe.
Als ich wieder unten bin, setze ich mich auf das Sofa, lege den Kopf in die Hände und lasse die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren. Die Panik, die ich empfand, gefolgt von der Erregung darüber, dass ich mich einfach davongemacht habe.
Dann denke ich an Eva irgendwo auf dem Grund des Atlantischen Ozeans. Ob es wehtat, als das Flugzeug auf dem Wasser aufsetzte, ob die Momente vor dem Aufprall lang waren, erfüllt von panischen Schreien und Weinen, oder ob sie wegen des Sauerstoffmangels nur kurz andauerten. Ich atme einige Male tief durch und versuche, mich zu beruhigen. Ich bin in Sicherheit. Mir geht es gut . Draußen fährt ein Auto vorbei, ansonsten ist es still in der Gegend. In der Ferne läuten Glocken.
Ich hebe den Kopf und nehme die gerahmten abstrakten Drucke an der Wand sowie die weichen Sessel wahr, welche die Couch flankieren. Das Zimmer ist klein, aber gemütlich, die Möbel sind hochwertig, aber nicht extravagant. Das genaue Gegenteil des Zuhauses, das ich gerade verlassen habe.
In dem zum Fernseher gerichteten Sessel ist eine abgenutzte Delle, aber die restlichen Möbel sehen makellos aus, als ob noch nie jemand darauf gesessen hätte. Etwas an dem Zimmer lässt mir keine Ruhe, und ich versuche herauszufinden, was das ist. Vielleicht die Art und Weise, wie es hinterlassen wurde – es sieht aus, als wäre jemand nur für ein paar Minuten weggegangen. Ich sehe mich im Zimmer um, suche nach einem Ort, wo das Krankenbett des Mannes gestanden haben könnte. Wo die Pfleger und Pflegerinnen die Tabletten abgezählt, die Medikamente abgemessen, ihre Hände gewaschen haben. Aber es gibt keine Hinweise darauf. Nicht einmal einen Abdruck im Teppich.
An der hinteren Wand steht ein vollgestopftes Bücherregal. Ich lasse den Blick darüber schweifen – viele Titel über Biologie und Chemie, im unteren Fach ein paar Lehrbücher. Ich habe meinen Job aufgegeben, um meinen Mann zu pflegen . Vielleicht hat sie in Berkeley gelehrt. Oder ihr Mann.
Aus der Küche kommt ein vibrierender Ton, der in dem stillen Haus laut und schrill wirkt. Als ich hineingehe, bemerke ich ein schwarzes Handy zwischen zwei Dosen auf dem Tresen. Ich hebe es verwirrt auf, denn ich erinnere mich, dass Eva auf dem Flughafen in New York ebenfalls ein Handy benutzte. Die Push-Mitteilung kommt von einer jener Apps, bei denen die Nachrichten nach einer bestimmten Zeit wieder verschwinden, gesendet von jemandem namens D.
Warum bist du nicht gekommen? Ist etwas passiert?
Als das Handy in meiner Hand ein weiteres Mal wegen einer Nachricht vibriert, zucke ich beinahe zusammen.
Ruf mich sofort an.
Ich werfe es zurück auf den Tresen und starre es an, warte auf eine weitere Nachricht, aber es bleibt still. Ich hoffe, dass heute Abend keine weiteren Fragen mehr von D kommen.
Ich trete ans Waschbecken und blicke durch das kleine Fenster in den winzigen Garten. Er ist von Büschen umgeben, und mittendurch führt ein backsteingepflasterter Weg zu einer Pforte im hinteren Zaun. Ich stelle mir vor, wie Eva hier steht und die Dämmerung betrachtet, die genau wie jetzt alle Schatten violett und blau färbt, während ihr Mann im Sterben liegt.
Das Handy vibriert erneut, das Geräusch hallt in der leeren Küche wider, und eine düstere Vorahnung überkommt mich. Das leere Haus bietet sich mir an, aber es gibt nichts preis.