EVA
Berkeley, Kalifornien
August
Sechs Monate vor dem Absturz
Eva wartete vor seinem Studentenwohnheim auf ihn. Es war nicht das, in dem sie selbst vor so vielen Jahren gewohnt hatte, sondern ein neueres, mit weicheren Konturen und dunkler Holzverkleidung; es war fast, als sollten die Studenten das Gefühl haben, in einer italienischen Villa zu wohnen. Ihr Blick wanderte nach oben, über Fenster, die geöffnet waren, um die kühle Morgenluft hereinzulassen, dahinter Poster von Bands, von denen sie noch nie gehört hatte. Vom Zentrum des Campus schlug die Turmuhr zur Stunde. Studenten, die früh am Morgen Seminare hatten, gingen an ihr vorbei, während sie auf dem Gehweg stand und sich an ein Auto lehnte, das nicht ihr gehörte. Niemand sah sie an. Genau wie immer.
Schließlich kam er heraus, den Rucksack über eine Schulter gehängt, in sein Handy vertieft. Er bemerkte Eva nicht, bis sie direkt neben ihm herging.
»Hi, Brett«, sagte sie.
Er blickte erschrocken auf, und ein Anflug von Sorge huschte über sein Gesicht, als er sah, wer ihn da ansprach. Aber dann setzte er ein Lächeln auf und sagte: »Eva. Hey.«
Auf der anderen Straßenseite stiegen zwei Männer aus einem parkenden Auto und begannen, langsam und schweigend in dieselbe Richtung zu gehen. Sie zu verfolgen.
Eva sagte: »Du weißt sicher, warum ich hier bin.«
Sie überquerten die Straße, gingen an Coffeeshops und Buchläden vorbei am südlichen Rand des Campus entlang. Als sie an einen kleinen
backsteingepflasterten Weg kamen, der zum Eingang einer kleinen Kunstgalerie führte, die erst um elf Uhr öffnete, stellte sie sich vor Brett, um ihn zum Stehenbleiben zu zwingen. Die beiden Männer hinter ihnen hielten ebenfalls an und warteten.
»Hör zu, Eva«, sagte Brett. »Es tut mir wirklich leid, aber ich habe dein Geld noch nicht.« Während er sprach, blickte er in die Gesichter der wenigen Menschen, die so früh unterwegs waren. Er suchte nach jemand Vertrautem, der ihm zur Seite sprang und half. Aber Eva machte sich keine Sorgen. Für jeden, der sie vielleicht sah, war Brett einfach ein Student, der sich auf dem Gehweg mit einer Frau unterhielt.
»Das hast du letztes Mal auch schon gesagt«, sagte Eva. »Und das Mal davor.«
»Es liegt an meinen Eltern«, erklärte Brett. »Sie lassen sich scheiden. Sie haben meine monatliche Unterstützung um die Hälfte gekürzt. Ich kann mir kaum ein Bier leisten.«
Eva neigte mitfühlend den Kopf zur Seite, als könnte sie das Problem verstehen. Als wäre sie nicht gezwungen gewesen, während der drei kurzen Jahre, die sie in Berkeley studiert hatte, von einem winzigen Tagessatz zu leben, sich in der Mensa zusätzlich etwas in die Tasche zu stecken, um über die langen Wochenenden zu kommen. Niemand hatte sie regelmäßig finanziell unterstützt. Sich kein Bier kaufen zu können hatte nie auf Evas langer Sorgenliste gestanden.
Sie blieb hartnäckig. »Das ist eine traurige Geschichte, aber leider nicht mein Problem. Du schuldest mir sechshundert Dollar, und ich bin es leid, zu warten.«
Brett zog seinen Rucksack höher auf die Schulter und verfolgte mit den Augen einen Bus, der die Straße entlangrumpelte. »Ich besorge es. Ich schwöre. Nur – wird es ein bisschen dauern.«
Eva griff in ihre Hosentasche und holte ein Kaugummi heraus, wickelte es sorgfältig aus und steckte es in den Mund. Sie kaute es bedächtig, als würde sie darüber nachdenken, was er gesagt hatte. Die Männer, die ihnen folgten, sahen Evas Signal und kamen auf sie zu.
Brett bemerkte sie beinahe sofort, nahm ihren energischen Gang wahr, und wusste, dass er und Eva ihr Ziel waren. Er machte einen Schritt zurück, als wollte er weglaufen, aber die Männer verkürzten schnell den Abstand und versperrten ihm den Weg.
»O mein Gott«, flüsterte er. In seinen Augen lagen Angst und Panik. »Eva, bitte. Ich schwöre, ich werde zahlen. Ich schwöre
.« Er begann zurückzuweichen, aber Saul, der größere der beiden Männer, legte eine Hand auf Bretts Schulter. Eva sah, wie seine langen Finger zudrückten, und Brett begann zu weinen.
Sie wollte sich wieder zur Straße begeben, sie hatte ihren Beitrag geleistet. Aber Bretts Augen hielten sie zurück, flehten sie an, es sich anders zu überlegen, und Eva zögerte. Vielleicht war es das Morgenlicht, das schräg auf sie herabfiel; ein Hauch von Herbst lag in der Luft und erinnerte sie an den Beginn eines Semesters mit neuen Kursen und spannendem neuem Lernstoff. An ein Leben, das sie einmal geliebt hatte und das ihr noch nicht ganz entrissen worden war.
Oder vielleicht war es die Art, wie Brett sie ansah. Wie er wimmerte, die Stirn voller hellroter Pickel, die Haare im Gesicht weich und dünn. Er war noch ein Kind. Und sie erinnerte sich, dass sie auch einmal eins gewesen war. Fehler gemacht hatte. Um eine zweite Chance gebettelt hatte.
Niemand hatte sie ihr gegeben.
Sie trat zurück, ließ zu, dass sie Brett den Weg hinunterführten, weg von der Straße.
Eine Stimme hinter ihr schreckte sie auf. »Es musste sein.«
Dex.
Er kam aus dem Schatten eines Ladeneingangs, zündete sich eine Zigarette an und signalisierte ihr, mit ihm zu gehen. Von hinten war das Geräusch von Fäusten zu hören, die auf Fleisch trafen, Bretts Schreie, sein Flehen um Hilfe. Dann ein besonders lauter Aufprall – vielleicht ein Tritt in den Magen, oder sein Kopf, der gegen eine Wand geknallt wurde – und dann nichts mehr von Brett.
Eva ließ sich nichts anmerken, denn sie wusste, dass Dex sie prüfend ansah. »Was machst du hier?«
Er zuckte mit der Schulter und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Ich weiß, dass du diesen Teil nicht magst. Dachte, ich komme vorbei und sehe nach dir.«
Eine Lüge? Die Wahrheit? Schwer zu sagen bei Dex, aber Eva hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass er nicht so früh aufstand, wenn es ihm ihr Boss, Fish, nicht befohlen hatte.
»Mir geht’s gut«, sagte sie.
Sie gingen gemächlich einen Hügel in Richtung Stadion hinauf, an einer Kaffeebar mit weißer Markise und einer Terrasse vorbei, deren Tische und
Stühle noch in einer Ecke gestapelt waren. Drinnen saßen dicht gedrängt Professoren und Universitätsangestellte und tranken ihren Morgenkaffee, bevor sie zur Arbeit gingen. Draußen saß ein Bettler im Rollstuhl und spielte Mundharmonika. Eva warf ihm einen Fünfdollarschein hin.
»Gott segne dich«, sagte der Mann.
Dex verdrehte die Augen. »Weiches Herz.«
»Karma«, korrigierte Eva.
Sie blieben oben auf dem Hügel vor dem International House stehen, und Dex sah an ihr vorbei zur Bucht, als würde er die Aussicht bewundern. Sie folgte seinem Blick. Die beiden Männer waren wieder aufgetaucht und gingen nach Westen Richtung Telegraph Avenue. Keine Spur von Brett, den sie wahrscheinlich einfach am Boden liegen gelassen hatten. Der Galeriebesitzer würde ihn in ein paar Stunden finden und die Polizei rufen. Oder vielleicht würde Brett es irgendwie schaffen, aufzustehen und zurück zum Wohnheim zu stolpern. Die Lehrveranstaltungen müssten heute ohne ihn stattfinden.
Als die Männer nicht mehr zu sehen waren, drehte Dex sich zu ihr um und gab ihr einen Zettel. »Neue Kundin«, sagte er.
Brittany. 16.30 Tilden.
Eva verdrehte die Augen. »Nichts klingt so sehr nach ›Kind der Neunziger‹ wie der Name Brittany. Wie bist du an sie gekommen?«
»Empfehlung von einem Typen, den ich in L.A. kenne. Ihr Mann ist gerade hier rauf versetzt worden.«
Eva blieb plötzlich stehen. »Sie ist keine Studentin?«
»Nein. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versicherte er ihr. »Sie ist okay.« Er warf seine Zigarette auf den Boden und zertrat sie. »Ich seh dich heute Nachmittag um drei.«
Er ging den Hügel wieder hinunter, ohne auf eine Antwort von ihr zu warten. Das war nicht nötig. In den zwölf Jahren, die sie nun schon mit Dex arbeitete, hatte sie nicht ein einziges Treffen verpasst. Sie wartete, bis er an dem Fußweg vorbei war – noch immer kein Zeichen von Brett –, und wandte sich dann Richtung Norden nach Hause.
Als sie das Zentrum des Campus durchquerte, flackerten flüchtige Erinnerungen auf. Das Ende des Sommers in Berkeley. Evas eigener Rhythmus, der so tief mit den Gezeiten der Universität verbunden war, war jetzt durch Dex aus dem Gleichgewicht geraten. Sie fragte sich, was der wahre Grund dafür war, dass er sie heute Morgen treffen wollte.
Hinter sich hörte Eva jemanden sagen: »Entschuldigung.«
Sie ignorierte es und überquerte eine kleine Brücke über den Bach, der sich durch das Zentrum des Campus schlängelte.
»Entschuldigung«, sagte die Stimme wieder, jetzt lauter.
Ein junges Mädchen, anscheinend eine Studienanfängerin – hautenge Jeans, Stiefel und brandneuer Rucksack –, stellte sich vor Eva und keuchte. »Können Sie mir sagen, wo Campbell Hall ist? Ich bin spät dran, und es ist der erste Tag, ich habe verschlafen …« Sie verstummte, als Eva sie anstarrte. Sie war so eifrig, hatte alles noch vor sich.
Wie viele Monate würde es dauern, bevor dieses Mädchen unter dem Druck von Berkeley zerbrach? Wie lange bis zum ersten Test, den sie nicht bestand, oder ihrer ersten Drei für ein Referat? Eva stellte sich vor, wie ihr jemand in der Bibliothek einen Zettel mit Dex’ Namen und Nummer zuschob. Wie lange, bis Eva sich mit ihr vor Campbell Hall traf?
»Wissen Sie, wo das ist?«, fragte das Mädchen noch einmal.
Eva hatte das alles so verdammt satt. »No hablo inglés
«, sagte sie und tat so, als spräche sie kein Englisch. Sie wollte dieses Mädchen und ihre Fragen nur loswerden.
Das Mädchen trat erstaunt zurück, und Eva schlüpfte an ihr vorbei den Weg hinauf. Sollte jemand anders ihr helfen. Eva war noch nicht bereit, zu übernehmen.
Das unerwartete Auftauchen von Dex an diesem Morgen beschäftigte sie noch Stunden später, während sie am Spülbecken in der Küche stand und Geschirr abwusch. Als sie ein Glas unter dem heißen Wasserstrahl drehte, rutschte es ihr aus der Hand und zerbrach. Die Scherben flogen ins Porzellanbecken.
»Shit«
, sagte sie, stellte den Wasserhahn ab und trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab, bevor sie vorsichtig die größeren Scherben nahm und in den Müll warf. Sie spürte, dass die Dinge im Umbruch waren, sich etwas veränderte, so wie Tiere ein Erdbeben spüren, ein leichtes Zittern tief unter der Erdkruste, und dass sie aufmerksam sein musste. Für ihre Sicherheit sorgen.
Sie nahm ein paar Küchentücher und wischte den Rest weg, dann blickte sie auf den Timer, den sie aus dem Keller geholt hatte. Noch fünf Minuten.
Sie warf die leere Dose Cola-Light in den Müll und starrte aus dem Fenster in den Garten. Die Büsche und Rosen waren verwildert und mussten
geschnitten werden. Hinten in der Ecke entdeckte sie eine Katze, geduckt und regungslos unter einem tief hängenden Busch; das Tier richtete seine Augen unverwandt auf einen kleinen Vogel, der in einer schattigen Pfütze planschte, die vom morgendlichen Sprengen übrig war. Eva beobachtete das Ganze mit angehaltenem Atem und flehte den Vogel insgeheim an, den gefährlichen Garten zu verlassen.
Plötzlich machte die Katze einen Satz nach vorne. Unter lautlosem Flügelschlagen und Federgestöber packte sie den Vogel, warf ihn zu Boden und erledigte ihn mit ein paar schnellen Hieben. Eva sah zu, wie die Katze mit dem Vogel im Maul davonschlich, und hatte das Gefühl, dass das Universum ihr eine Art Botschaft schickte. Das Problem war nur, dass sie nicht wusste, ob sie die Katze oder der Vogel war.
Der Timer klingelte und riss Eva aus ihrem Tagtraum. Sie sah zur Uhr am Herd, warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster in den Garten, der jetzt bis auf einige verstreute Federn auf dem Weg leer war.
Sie stieß sich vom Tresen ab, schlüpfte an dem Rollregal vorbei, in dem sich nur Dinge befanden, die sie nie benutzte – ein Requisit, um die verborgene Tür dahinter zu verdecken –, und ging hinunter in den Keller, um fertig zu werden.