EVA
Berkeley, Kalifornien
August
Sechs Monate vor dem Absturz
Evas Hände bewegten sich automatisch unter den hellen Lampen, während oben der Ventilator surrte, ein Rauschen, das ihre Sinne betäubte und die Luft aus dem Kellerlabor in den Garten beförderte. Sie wurde das Bild der Katze nicht los – wie ruhig sie gewartet hatte, wie schnell es für den Vogel zu Ende gegangen war.
Sie schüttelte den Kopf und zwang sich zur Konzentration. Sie musste alles noch am Vormittag fertigstellen. Sie würde Dex um drei treffen, um ihm Fishs Portion zu geben und kurz danach ihre neue Kundin.
Sie maß Zutaten ab, wog und korrigierte sorgfältig, fühlte sich entspannt. Selbst nach all den Jahren, nach allem, was passiert war, war es immer noch wie Zauberei, dass man Substanzen mischen, erhitzen und dadurch etwas vollkommen Neues kreieren konnte.
Sie ließ die Mischung auf dem Campingkocher zu einer dicken, teigigen Konsistenz werden. Sie war mittlerweile unempfindlich gegen den scharfen chemischen Gestank, der in ihrer Nase brannte und noch lange in ihren Haaren und Kleidern hing, nachdem sie fertig war. Deshalb investierte sie in teure Lotionen und Shampoos, das Einzige, was den Geruch ihrer Tätigkeit überdeckte.
Als die Flüssigkeit fertig war, goss sie sie in die Pillenformen und stellte wieder den Timer ein. Aus verschiedenen Husten- und Erkältungsmedikamenten stellte sie mit gewöhnlichen Haushaltsutensilien etwas Ähnliches wie Adderall her. Aber die Herstellung ihrer Mischung war viel sicherer, denn die Explosionsgefahr, die beim Kochen von Methamphetamin bestand, wurde umgangen. Das Ergebnis war eine winzige Pille mit einer starken Wirkung, die unterdurchschnittliche Studenten wie Brett stundenlang hellwach und konzentriert machte.
Als sie mit allem fertig war, wusch sie ihre Utensilien in dem Waschbecken in der Ecke und belud die tragbare Geschirrspülmaschine, die sie vor einigen Jahren gekauft hatte. Sie nahm sich die Worte ihres Chemielehrers zu Herzen: Ein sauberes Labor zeichnet einen wahren Profi aus. Sie war in der Tat ein Profi, aber niemand würde hier herunterkommen und sicherstellen, dass sie sich an die üblichen Laborregeln hielt. Sie wischte die Arbeitsplatten ab und sorgte dafür, dass von den Zutaten, für die sie durch die ganze Bay Area fuhr, keine Spur mehr übrig war.
Nicht dass irgendjemand jemals hier herunterkommen würde. Vor langer Zeit hatte sie sich überlegt, dass es das Beste war, ein Regal vor die Tür dieser alten Waschküche zu schieben. Von außen würde man niemals auf die Idee kommen, dass es überhaupt existierte. Das Regal war mindestens einen Meter achtzig hoch, hatte eine solide Rückwand und war mit den Utensilien eines Hobbykochs gefüllt – Kochbücher, Rührschüsseln, Dosen mit Mehl und Zucker und einige Steckboxen voller Pfannenwender und riesigen Löffeln, die Eva nie benutzte. Auf ähnliche Weise ging sie durch die Welt – dem Anschein nach eine farblose Kellnerin in ihren Dreißigern, die hart arbeitete, um über die Runden zu kommen, in einer Doppelhaushälfte im Norden Berkeleys wohnte und einen fünfzehn Jahre alten Honda fuhr. Während sie in Wirklichkeit das Gegenteil war, allein dafür verantwortlich, die Studenten in Berkeley wach und auf Kurs zu halten, damit sie in vier Jahren ihren Abschluss schafften. Und sie machte kurzen Prozess mit denen, die Probleme bereiteten.
Sie nahm den Timer vom Tresen, ging die Kellertreppe hinauf und schaltete das Licht und den Ventilator hinter sich aus. Die Stille legte sich über sie. In der Küche hielt sie inne und wartete darauf, dass die Geräusche der Umgebung draußen in ihren Kopf drangen.
Sie hörte, wie ihre neue Nachbarin, eine ältere Frau mit kurz geschnittenen grauen Haaren, die Haustür aufschloss. Als sie vor ein paar Wochen eingezogen war, merkte Eva, dass sie freundlich gesinnt war. Obwohl Eva höflich war und kurz grüßte, spürte sie den interessierten Blick der Frau, die auf einen intensiveren Austausch zu warten schien.
Mr. Cosatino, der alte Mann, der dort seit Urzeiten gewohnt hatte, war so viel einfacher gewesen. Sie hatten nur einmal miteinander gesprochen, letztes Jahr, als sie den Kaufpreis für ihre Haushälfte bar bei ihm bezahlt hatte. Sie fragte sich, was mit ihm geschehen war, ob er krank geworden oder gestorben war. Von einem Tag auf den anderen war er verschwunden. Und jetzt war da diese Frau mit ihrem freundlichen Lächeln und dem Blickkontakt.
Eva schob das Regal nicht wieder vor die Tür und stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf zu ihrem Büro. Ein winziges Zimmer mit Blick auf den Vorgarten, das Eva kaum benutzte, außer um Rechnungen zu bezahlen und ihre Winterjacken aufzubewahren. Trotzdem hatte sie es genauso eingerichtet wie den Rest des Hauses – in warmen Gelb- und Rottönen, ganz anders als das Anstaltsgrau der Wände in dem Heim, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte jedes Stück – den Schreibtisch aus Kiefernholz, den tiefroten Teppich, den kleinen Tisch mit Lampe, der unter dem Fenster stand – als Gegengift zu der Kälte ausgesucht, die sich in ihr eingenistet hatte, als sie ein Kind gewesen war.
Sie setzte sich an ihren Laptop, öffnete die Log-in-Seite der Bank in Singapur und gab ihre Benutzerdaten aus dem Gedächtnis ein. Sie überprüfte ihren Kontostand penibel, hatte zugesehen, wie der Betrag im Verlauf der letzten zwölf Jahre ständig größer geworden war, von fünfstellig zu sechsstellig und zu einer komfortablen siebenstelligen Zahl. Im Finanzdistrikt von San Francisco gab es jede Menge gut aussehende Männer, die sich damit auskannten, das Gesetz für ihre eigenen Zwecke zu beugen. Es war leicht gewesen, einen Steueranwalt zu finden, der wusste, wie man eine Scheinfirma gründete, welche ausländischen Banken nicht zu viele Fragen stellten, und der ihr helfen konnte, ihr illegales Einkommen an einen sicheren Ort zu schleusen.
Irgendwann würde sie aufhören müssen. Niemand konnte das für immer machen. Und wenn die Zeit kam, würde sie sich ein Flugticket kaufen und einfach verschwinden. Sie würde alles hinter sich lassen. Das Haus. Ihre Sachen. Ihre Kleidung. Dex und Fish. Sie würde ihr Leben wie eine alte Haut ablegen, als neuer Mensch wieder herauskommen. Als besserer Mensch. Sie hatte es schon einmal getan, und sie würde es wieder tun.
Als die Pillen fertig waren, schüttete sie sie aus ihren Formen in getrennte Tüten. Sie wickelte die für Dex in blaues Papier, band eine Schleife darum und fuhr zu dem Park im Norden Berkeleys, wo sie sich treffen wollten. Mit den Jahren hatte sie gelernt, unsichtbar zu sein. Zwischen die Schichten der Außenwelt zu schlüpfen, einfach eine Frau, die spazieren ging oder einen Freund im Park traf, um ihm ein hübsch verpacktes Geschenk zu geben. Das war nicht schwer, wenn man klug war. Und Eva war immer klüger als die meisten gewesen.
Sie fand ihn an einem Picknicktisch mit Blick auf einen schmuddeligen Spielplatz. Kleine Kinder bevölkerten die Geräte, jedes von seiner Mutter oder einem Kindermädchen beaufsichtigt. Eva blieb stehen, noch außerhalb von Dex’ Blickfeld, und beobachtete die Kinder. Das hätte sie sein können, wenn ihre Mutter jemand anders gewesen wäre. Vielleicht hätte sie Eva in einen Park wie diesen gebracht, um nach der Schule Dampf abzulassen oder ein paar Stunden am Wochenende totzuschlagen. Immer wieder hatte Eva in ihrem Kopf nach einer Erinnerung an die kurze Zeit gesucht, die sie mit ihrer leiblichen Familie verbracht hatte. Aber ihre ersten beiden Lebensjahre waren wie ausgelöscht.
Als Kind hatte Eva sie sich so oft und so intensiv vorgestellt, dass diese Bilder fast wie wirkliche Erinnerungen zu sein schienen. Ihre Mutter mit langen blonden Haaren, die Eva lachend über ihre Schulter hinweg ansah. Ihre Großeltern, alt und gebrechlich, die wegen ihrer wilden Tochter besorgt waren und das letzte Geld für eine Entziehungskur zusammenkratzten. Eine unauffällige Familie mit einem großen Problem. Sie versuchte, etwas für sie zu empfinden, aber sie fühlte sich abgeschnitten, wie eine Lampe, deren Kabel aus der Steckdose gezogen war. Es war kein Strom darin. Keine Verbindung. Kein Licht.
Aber Mütter und Töchter fielen Eva immer auf, erregten ihre Aufmerksamkeit wie ein scharfer Fingernagel, der an Stellen kratzte, die schon lange verheilt sein sollten.
Sie wusste nur zwei Dinge über ihre Mutter. Ihr Name war Rachel Ann James, und sie war drogenabhängig. Eva hatte es in ihrem zweiten Studienjahr erfahren, als unerwartet ein Brief von Schwester Bernadette eintraf. Das Blatt war mit ihrer akkuraten Handschrift vollgeschrieben, so vertraut, dass es Evas Stimmung gehoben und sie in die Zeit zurückversetzt hatte, als sie ein Mädchen war.
Es fühlte sich wie ein unerwünschtes Eindringen an, als in ihrem Briefkasten Antworten auf Fragen landeten, die zu stellen sie schon lange aufgegeben hatte. Gerade als sie das Gefühl hatte, sie könnte über sich hinauswachsen – über die Person, die sie immer gewesen war.
Eva hatte keine Ahnung, wo der Brief sich jetzt befand. In eine Kiste geworfen oder in einer Schublade vergraben. Es war einfacher, so zu tun, als hätte es diesen Teil ihres Lebens nie gegeben. Als wäre sie an dem Tag, als sie in Berkeley anfing, einfach aus dem Nichts aufgetaucht.
Sie riss den Blick von den Kindern los und ging die letzten paar Meter zu Dex.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie und gab ihm das Päckchen mit den Pillen.
Er lächelte und steckte es in die Innentasche seiner Jacke. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank, und sie sahen den Kindern beim Spielen zu, wie sie von der Rutsche sprangen, sich gegenseitig um die Schaukeln jagten. Wenn sie sich hier trafen, blieben sie immer noch eine Weile, wie zwei Freunde, die die Sonne genossen. Dex’ Mantra seit vielen Jahren war ihnen zur Gewohnheit geworden: Du siehst nur wie ein Drogendealer aus, wenn du dich so benimmst.
»In diesem Park habe ich zum ersten Mal allein gedealt«, sagte Eva und zeigte zum Parkplatz. »Als ich kam, parkten zwei Streifenwagen am Bordstein, und die Polizisten standen daneben, als ob sie auf mich warteten.«
Dex wandte ihr das Gesicht zu. »Was hast du gemacht?«
Eva dachte an den Tag zurück, die Angst, die sie gehabt hatte. Wie ihr Puls gerast war, ihr Atem stockte, als sie die Männer gesehen hatte, in voller Uniform, mit Pistolen, Schlagstöcken und glänzenden Gürtelschnallen. »Ich habe mich daran erinnert, was du gesagt hast. Dass ich selbstbewusst auftreten, den Blick geradeaus richten und nicht zögern soll.«
Eva erinnerte sich, wie sie an den Polizisten vorbeigegangen war, ihnen ganz kurz in die Augen gesehen und durch die Angst hindurch gelächelt hatte, und dann zum Spielplatz gegangen war, wo sie mit einem Jurastudenten im dritten Studienjahr verabredet war. »Ich habe mir vorgestellt, dass ich in einem fensterlosen Büro arbeite und hergekommen bin, um in der Mittagspause ein bisschen Sonne und frische Luft zu tanken.«
»Das ist der Vorteil, wenn man eine Frau ist.«
Eva fand nicht, dass es ein großer Vorteil war, aber sie wusste, was er meinte. Menschen, die aussahen wie sie, stellten keine Drogen her oder dealten damit. Sie waren Lehrerinnen oder Bankangestellte. Sie waren Kindermädchen oder Mütter. Sie erinnerte sich an den Moment, als sie die Drogen übergeben und ihre ersten zweihundert Dollar eingesteckt hatte. Wie seltsam es war. Sie war noch nicht besonders versiert gewesen, die ganze Transaktion verlief wortlos und steif. Sie erinnerte sich, dass sie wegging und dachte: Das war’s. Ich bin ein Drogendealer. Und sich fühlte, als wäre die Person, die sie gerade erst zu sein begonnen hatte, bereits gestorben.
Aber sie war darüber hinweggekommen. Akzeptierte, was aus ihrem Leben geworden war. Ein Teil von ihr war befreit – all die Jahre, in denen sie die Erwartungen anderer erfüllt hatte. Man hatte ihr gesagt, dass das Leben ein gerader, einspuriger Weg sei, auf dem man vorankomme. Wenn man hart arbeitete, geschah Gutes. Aber sie hatte immer gewusst, dass es mehr wie eine Flipperkugel war, schlingernd und rasend. Das Unerwartete war das Spannende daran. Die Freiheit, das eigene Schicksal zu gestalten. Ihr Leben war ein Haufen Scheiße geworden, aber sie hatte wenigstens etwas daraus gemacht. Das war verdammt noch mal etwas wert.
Dex unterbrach ihre Gedanken. »Manchmal tut es mir leid, dass ich dich da reingezogen habe. Ich dachte, ich würde dir helfen, aber …« Er verstummte.
Eva nahm einen Splitter vom Tisch, hielt ihn zwischen den Fingern und betrachtete das Holz, bevor sie ihn auf den Boden warf. »Ich bin zufrieden. Ich kann mich nicht beklagen.«
Und das stimmte im Großen und Ganzen. Sie sah Dex an, der in ihr Leben getreten war, als es in Trümmern lag, und sie rausgezogen hatte. In ihrem dritten Collegejahr war es Wade Roberts’ Idee gewesen, im Chemielabor Drogen herzustellen. Aber Eva war diejenige gewesen, die die Fähigkeiten dazu hatte. Diejenige, die Ja gesagt hatte, als sie hätte Nein sagen sollen.
Sie bemühte sich, nicht an jenen Tag im Büro des Dekans zu denken. Daran, wie Wade davongekommen und wieder in seinem behüteten Leben gelandet war, Touchdowns erzielte und ahnungslose Mädchen zu Dingen verführte, die sie nicht tun sollten.
Nachdem man sie aus dem Gebäude eskortiert und sie ihre Sachen gepackt und den Schlüssel fürs Wohnheim abgegeben hatte, war sie von Panik ergriffen worden, intensiv und lähmend. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden, keinen Ort, an den sie gehen konnte. Und dann tauchte Dex auf, war auf einmal neben ihr, als sie auf dem Gehweg vor dem Wohnheim stand. Genau so, wie sie am Morgen neben Brett aufgetaucht war.
Damals kannte sie Dex nur als jemanden, der mit Wade und seinen Freunden herumhing, dunkle Haare und auffallende graue Augen hatte. Er war kein Student, und Eva hatte nie herausgefunden, wie er da hineinpasste. Wie sie sprach er kaum, aber beobachtete alles.
»Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte er. »Es tut mir leid.«
Sie sah weg, schämte sich für ihre Naivität. Dafür, wie leicht es für Wade gewesen war, sie zu benutzen. Und dass er davongekommen war, während man sie vom College verwiesen hatte.
Dex blickte über ihre Schulter in die Ferne und sagte: »Hör zu, es ist eine Scheißsituation. Aber ich glaube, ich kann dir helfen.«
Sie schob die Hände in die Taschen, um sie vor der kühlen Luft des Herbstabends zu schützen.
»Das bezweifle ich.«
»Du kannst etwas, wovon wir beide profitieren können.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wovon sprichst du?«
»Die Drogen, die du produziert hast, waren spitze. Ich kenne jemanden, der dich mit dem Equipment und den Zutaten versorgen kann, um sie weiter herzustellen. Sein Chemiker steigt aus dem Geschäft aus, und er braucht sofort jemanden. Es ist eine tolle Gelegenheit, wenn du willst. Total sicher. Du stellst die Drogen her und kannst die Hälfte behalten und selbst verkaufen. Du kannst über fünftausend Dollar die Woche verdienen.« Der bittere Klang von Dex’ Lachen erfüllte die Luft. »An einer Schule wie dieser besteht immer Bedarf nach Aufputschmitteln. Kleine Pillen, mit deren Hilfe diese Kids den nächsten Test, den nächsten Kurs, was auch immer bestehen.« Er zeigte auf eine Gruppe Studenten, die auf dem Weg zur nächsten Bar oder Party an ihnen vorbeigingen, bereits betrunken und völlig selbstverliebt. »Sie sind nicht wie du und ich. Sie nehmen Daddys Geld und denken, nichts könne ihnen etwas anhaben.«
Er sah Eva in die Augen, und sie spürte einen Funken Hoffnung. Dex warf ihr einen Rettungsring zu, und sie wäre dumm, wenn sie ihn nicht ergreifen würde. »Wie?«, fragte sie.
»Ich habe hier ganz in der Nähe eine Wohnung«, sagte er, »mit einem Gästezimmer, in dem du eine Weile unterkommen kannst. Ich helfe dir, du hilfst mir.«
»Wie könnte ich dir helfen?«
»Mein Boss sucht jemanden wie dich. Du bist klug, und niemand hat dich auf dem Schirm.«
Eva wollte Nein sagen, aber sie war am Ende. Sie hatte keine Bleibe. Keine Ausbildung, mit der sie einen Job bekommen würde. Sie stellte sich vor, wie sie sich den Rucksack über der Schulter warf und Richtung Telegraph Avenue ging, sich zwischen die anderen Bettler stellte und um Almosen bat. Oder ins St. Joseph zurückkehrte, die Enttäuschung von Schwester Bernadette ertrug, Schwester Catherines kurzes Nicken, als ob sie schon immer gewusst hätte, dass Eva genau wie ihre Mutter wäre.
Eva hatte sich nie unterkriegen lassen. Es war leicht, furchtlos zu sein, wenn man schon alles verloren hatte. »Sag mir, was ich tun soll.«
Dex’ Stimme holte sie zurück in die Gegenwart. »Ein paar von uns gehen heute Abend in die Stadt, um diese neue Band, Arena, zu hören. «
Eva warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu. »Nein, danke.«
»Los, komm schon, das wird lustig. Ich geb dir ein paar Cola-Light aus. Du musst mehr rauskommen.«
Sie betrachtete seine Bartstoppeln, die am Kinn grau wurden. Sah, wie sich seine Haare am Kragen kringelten. Manchmal musste sie sich daran erinnern, dass Dex ihre Kontaktperson, nicht ihr Freund war. Er wollte sie im Auge haben, nicht für einen spaßigen Abend sorgen. »Ich komme viel raus«, sagte sie.
»Wirklich?«, bohrte er. »Wann? Mit wen?«
»Wem«, korrigierte sie.
Dex lachte leise. »Lenk nicht mit einer Grammatiklektion ab, Professor.« Er kniff sie in den Arm. »Du brauchst Gesellschaft. Du machst das lange genug, um zu wissen, dass du dich nicht vor der Welt verstecken musst. Du kannst Freunde haben.«
Eva beobachtete eine Mutter, die mit ihrem Sohn unter einem Baum saß und ein Buch las. »Ich würde meine ganze Zeit damit verbringen, Dinge vor ihnen zu verbergen. Vertrau mir. So ist es einfacher.«
Und so war es ihr auch lieber. Sie musste nichts erklären oder die typischen Kennenlernfragen beantworten, die die Leute immer stellten. Wo bist du aufgewachsen? Auf welchem College warst du? Was machst du jetzt?
»Ist es wirklich einfacher?« Dex schien nicht überzeugt. »Wie geht noch dieser Spruch über die Arbeit?«
»Geld stinkt nicht?«
Dex grinste. »Nein, der über Arbeit und glücklich sein.«
»Arbeit allein macht Eva zu einem reichen Mädchen«, vollendete sie. Als er nicht lachte, sagte sie: »Danke, dass du dir Sorgen machst, aber mir geht’s wirklich gut.« Sie zog ihren Mantel fester um sich. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich treffe mich in einer halben Stunde mit der neuen Kundin, und anschließend arbeite ich im Restaurant.«
Schon seit Jahren arbeitete Eva zweimal die Woche im DuPree’s, einem gehobenen Steak- und Fischrestaurant im Zentrum von Berkeley. Man bekam reichlich Trinkgeld, und es ermöglichte Eva, Steuern zu zahlen, sodass sie der Steuerbehörde nicht weiter auffiel.
»Ich weiß nicht, warum du dir dieses Theater antust«, sagte Dex. »Du brauchst das Geld nicht.«
»Der Teufel steckt im Detail.« Eva erhob sich von der Bank. »Viel Spaß heute Abend. Lass die Finger von den Drogen.«
Als sie wegging, warf Eva noch einen Blick zum Spielplatz. Ein kleines Mädchen stand oben auf der Rutsche, starr, das Gesicht voller Angst. Als Tränen zu fließen begannen und ihr Weinen zu einem lauten Heulen anschwoll, kam ihre Mutter herbeigelaufen, um ihr zu helfen. Eva beobachtete, wie die Mutter das Kind von der Rutsche hob und zurück zur Bank trug. Dabei küsste sie ihre Tochter oben auf den Kopf.
Noch lange nachdem sie die Autotür geschlossen hatte und weggefahren war, hallte das Weinen des Mädchens in Evas Kopf wider.