EVA
Berkeley, Kalifornien
August
Sechs Monate vor dem Absturz
Der Mann hieß Agent Castro, und während der nächsten paar Tage sah Eva ihn überall. Sie hatte die Visitenkarte, die er durch ihren Briefschlitz gesteckt hatte, weggeworfen und versuchte so zu tun, als wäre er ihr nicht bis zu ihrem Haus gefolgt. Aber er tauchte immer wieder auf. Im Parkplatz auf dem Supermarkt. Vor einem Coffeeshop. Er tauchte sogar bei DuPree’s auf, setzte sich an einen Tisch in einem anderen Bereich und sorgte dafür, dass Eva mehrere Bestellungen durcheinanderbrachte, während er langsam Spareribs zum Abendessen verspeiste und ein Guinness trank.
Es beunruhigte sie, dass es ihn nicht störte, gesehen zu werden. Und sie fragte sich, wie lange er sie schon beobachtet hatte, bevor er beschloss, keinen Hehl mehr daraus zu machen.
Als Dex sie endlich zurückrief, verlangte sie ein sofortiges Treffen. »Woher hast du den Kontakt zu Brittany?«, fragte sie ihn. Sie saßen sich im Keller einer Bar in der Telegraph Avenue gegenüber, direkt neben einem Billardtisch und inmitten angetrunkener Studenten, die ein Footballspiel auf einem Großbildfernseher ansahen.
»Ein Typ, mit dem ich aufgewachsen bin, ist nach Los Angeles gezogen. Er kennt sie von da. Als sie hier raufgezogen ist, hat er ihr meinen Namen gegeben. Er sagt, sie wäre eine potenzielle Stammkundin. Warum?«
Eva sah ihn prüfend an, suchte nach Anzeichen, dass er log oder sich schuldig fühlte. »Ich habe gesehen, wie sie mit einem FBI
-Ermittler gesprochen hat, nachdem sie versucht hat, was von mir zu kaufen. Und der verfolgt mich jetzt. Ich sehe ihn überall.«
Dex hörte auf zu essen. Seine Miene wurde ernst. »Erzähl mir genau, was passiert ist.«
Eva berichtete, dass Brittany abhängig zu sein schien. Sie beschrieb ihre Nervosität und ihre zerkratzten Hände. »Meine Frage ist, warum du mir jemanden schickst, den du nicht selbst überprüft hast. So war das nicht abgemacht.«
Dex’ Blick wurde düster. »Was meinst du?«
»Ich weise darauf hin, dass ich, kurz nachdem ich eine Kundin getroffen habe, die du mir geschickt hast, von einem Bundesagenten beschattet werde.«
»Fuck.« Dex warf seine Serviette auf den Tisch. »Ich will, dass du erst mal mit allem aufhörst. Stell nichts her und verkauf nichts, bis du von mir hörst.«
»Und wie willst du das Fish erklären?«, fragte sie.
»Ich regle das mit ihm«, sagte Dex. »Es ist mein Job, dich zu schützen.« Eva starrte ihn an, dachte darüber nach, was er gesagt hatte, wusste, wie dieses Spiel lief. Wenn jemand die Wahl zwischen Gefängnis und dem Verrat eines Freundes hatte, dann tat er letzten Endes das, was zu tun war. Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass das auch für Dex galt, und sie war sich absolut nicht sicher, ob sie anders handeln würde.
Und doch war Dex derjenige gewesen, der ihr beigebracht hatte, wie sie Risiken einschätzte. Erkannte, ob jemand vielleicht ein verdeckter Ermittler oder ein Süchtiger war, der sie verraten könnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie in einen Abgrund führte, in den er selbst mitgerissen werden würde.
Einige Monate nach ihrem Ausschluss vom College, als sie noch in Dex’ Gästezimmer wohnte und die Drogen in seiner Küche herstellte, hatten sie sich mit einem neuen Kunden treffen sollen. Es war ein Student mit zotteligen Haaren, kaum zwanzig, mit Ohrstöpseln und hängenden Hosen.
»Sieh ihn dir genau an«, hatte Dex gesagt. Sie standen hinter dem Wartehäuschen einer Bushaltestelle, als würden sie den Fahrplan studieren. Der junge Mann hatte eine Art Tick, zuckte kaum merklich mit der linken Schulter und schüttelte den Kopf, während er wartete. Dex sagte leise: »Du siehst dir die Leute immer erst genau an. Achte auf Besonderheiten; wenn jemand zum Beispiel bei 26 Grad ein Sweatshirt anhat. Oder ein Tank Top, wenn es regnet. Das sind Hinweise, und du musst
sie bemerken. Sieh dir seine Ohrstöpsel an. Sie sind nirgendwo angeschlossen. Fällt dir auf, dass das Kabel in seiner Brusttasche endet und das Handy in seiner hinteren Hosentasche steckt?« Eva hatte genickt, diese Dinge abgespeichert, denn sie wusste, dass ihr Überleben davon abhing. Dex fuhr fort: »Wenn du so etwas siehst, gehst du weiter. Denn dann stimmt etwas nicht. Entweder ist es ein Junkie oder ein Polizist.« Er sah sie mit ernster Miene an, seine grauen Augen fixierten ihre. »Deine oberste Priorität – Fishs oberste Priorität – ist deine Sicherheit. Deshalb überlebt er schon so lange in dem Geschäft.« Dex lachte leise. »Deshalb und wegen der zehn Leute, die bei der Polizei von Berkeley und Oakland für ihn arbeiten.«
Sie waren weggegangen, ohne den Deal mit dem jungen Mann zu machen, ließen ihn am Bordstein zurück, während er auf Drogen wartete, die er nie bekommen würde.
»Hast du ihr was verkauft?«, fragte Dex Eva jetzt.
»Nein. Sie war ziemlich daneben. Verrückt. Ich hab ihr gesagt, sie hätte mich mit jemandem verwechselt, und habe zugesehen, dass ich wegkam.«
Dex nickte. »Gut. Du machst eine Weile Urlaub, bis wir herausgefunden haben, was los ist.«
»Scheint so, als wollte der Typ, dass ich ihn sehe.«
»Wahrscheinlich«, sagte Dex. »Die Menschen machen Fehler, wenn sie nervös sind, und er will dich nervös machen. Dass er sich so offen zeigt, bedeutet, dass er im Grunde nichts gegen dich in der Hand hat und langsam verzweifelt ist.«
»Was soll ich machen?«
»Lass dich von ihm verfolgen. Er wird nichts sehen, und irgendwann sucht er sich ein anderes Ziel.«
Dex warf ein paar Fünfdollarscheine auf den Tisch. Um sie herum brach Jubel aus, alle Augen waren auf den Fernseher gerichtet, wo gerade jemand einen Touchdown erzielt hatte. Eva wollte aufstehen, aber Dex sagte: »Du solltest noch ein bisschen bleiben.«
Eva lehnte sich zurück und sah ihm nach, als er ging. Dabei bekämpfte sie eine aufkommende Panik, wie jemand, der darauf wartete, in ein Rettungsboot zu kommen. Ihr wurde klar, dass sie die Einzige sein würde, die auf dem sinkenden Schiff zurückblieb. Dex versuchte bereits, auf Distanz zu gehen.
Die Collegestudenten um sie herum tranken und lachten. Ihre größte
Sorge war, ob Cal ins Pokalspiel kommen würde. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so entspannt gewesen wie diese Leute. Selbst als Studentin war sie wachsam gewesen. Still. Da sie im Heim aufgewachsen war, hatte sie von klein auf gelernt, dass es das Sicherste war, Beobachter zu bleiben. Die Schwestern in St. Joe ermahnten sie, fleißig zu sein. Respektvoll. Das war Eva geworden, und hatte dabei stets herauszufinden versucht, wie sie die Regeln unauffällig unterlaufen konnte.
Aber es war kein Zuhause. Die Schwestern waren älter. Streng und kompromisslos. Sie dachten, Kinder sollten still und gefügig sein. Eva erinnerte sich an die kalten Flure vor dem Schlafsaal, hinter dem Altarraum, wo es nach Kerzenwachs und Feuchtigkeit roch. Sie erinnerte sich an die anderen Mädchen. Nicht an ihre Namen, aber an ihre Stimmen, rau und herrisch oder weich und verängstigt. Sie erinnerte sich an das Weinen in der Nacht. Wie am Ende des Tages jede von ihnen allein war.
Eva nahm einen letzten Schluck von ihrem Bier und stand auf, bahnte sich einen Weg zur Treppe, die nach oben in den Hauptspeiseraum führte. Sie sah den Notausgang und stellte sich vor, wie der Alarm losging, der bereits in ihrem Kopf schrillte. Aber sie ging daran vorbei, denn es war nicht der Zeitpunkt, etwas so Verzweifeltes zu tun. Noch nicht.
Als sie in ihre Einfahrt einbog, sah sie, wie Liz gerade ihre Tür abschloss und zu ihrem Auto ging. Eva suchte die Straße mit ihren Blicken ab und zwang sich, ganz normal zu handeln.
»Hallo!«, rief Liz.
Eva war seit dem ersten Nachmittag in Liz’ Wohnung neugierig auf die ältere Frau geworden. Sie erwischte sich dabei, dass sie auf Geräusche von ihr horchte. Beobachtete, wie sie kam und ging. Eva hatte immer noch ihre Stimme im Kopf, und sie musste zugeben, dass sie sich zu der Frau hingezogen fühlte.
Eva schloss ihr Auto ab und wandte sich ihr lächelnd zu, wobei sie auf Liz’ New-Jersey-Kennzeichen deutete. »Sind Sie den ganzen Weg hergefahren?« Sie versuchte, ihre Schultern zu entspannen und konzentrierte sich auf Liz, statt daran zu denken, dass Agent Castros Auto jeden Moment um die Ecke kommen könnte.
Aber heute war sie offenbar nicht besonders gesprächig, und Eva atmete auf, als Liz lediglich sagte: »Ich dachte, es wäre ein toller Roadtrip, aber ich fürchte mich jetzt schon vor der Rückfahrt.« Sie öffnete die Tür ihres
Wagens und glitt mit einem Winken auf den Fahrersitz. Eva ging weiter zur Haustür, schloss sie auf und schlüpfte hinein.
Die Stille war angenehm. Sie ging zur Couch, legte sich hin und zwang sich, einige Male tief durchzuatmen. Doch sie konnte sich nicht entspannen. Sie spürte Castros Gegenwart, als würde er bei allem zuschauen, was sie tat. Jede Interaktion – wie die vor ein paar Sekunden mit Liz – wurde dokumentiert. 16.56: Eva spricht mit älterer Nachbarin vor dem Haus.
Sie starrte die Wand an, die ihre Haushälfte von der Wohnung ihrer Nachbarin trennte, und fragte sich, ob es nützlich wäre, Liz in der Nähe zu haben. Teil der Geschichte zu werden, die sie Castro präsentieren wollte. Dass sie nur eine Kellnerin war, die ein bescheidenes Leben führte, voller banaler Dinge, zu langweilig, um sie alle aufzuzeichnen. Eva ist mit befreundeter Nachbarin ausgegangen
. Oder: Eva und befreundete Nachbarin nehmen an einer Führung durch den Berkeley Rose Garden teil
. Was könnte ihn am meisten langweilen?
Später am Abend klopfte es an der Tür. Ein schneller Blick aus dem Fenster offenbarte, dass Liz mit einer Auflaufform auf der Veranda stand. »Wenn ich koche, vergesse ich immer, die Zutaten eines Rezepts vorher zu halbieren«, sagte sie. Eva vermutete jedoch, dass Liz ungern nur für sich allein kochte.
Liz gab ihr die Form und trat ein. Eva zögerte zunächst, brachte das Essen dann aber in die Küche. Als sie den Kühlschrank schloss und sich umdrehte, sah sie, wie Liz die Buchtitel auf dem Regal im Wohnzimmer studierte. Es beunruhigte sie, dass jemand in ihrer Wohnung war und ihre Sachen ansah. Aber sie holte tief Luft und lächelte darüber hinweg. 19.45: Nachbarin bringt Eva Essen. Sie unterhalten sich zwölf Minuten lang.
Sie würde das schaffen.
»Sie interessieren sich für Chemie?«, fragte Liz.
Eva zuckte mit den Schultern. Es waren hauptsächlich alte Lehrbücher aus ihrem letzten College-Jahr, die Eva jahrelang nicht mehr geöffnet hatte. Aber sie konnte sich nicht überwinden, sie wegzuwerfen. Es fühlte sich an, als würde sie damit einen wichtigen Teil ihres Lebens entsorgen. »Ja, in der Schule hab ich mich mal dafür interessiert.«
»Das sind aber College-Bücher«, sagte Liz und zog eins davon heraus. Sie schlug es auf und entdeckte darin den Stempel der College-Buchhandlung von Berkeley. »Sie sind hier aufs College gegangen? Das haben Sie nie erwähnt.«
»Eine Weile lang«, sagte Eva. »Ich habe keinen Abschluss gemacht.«
»Warum nicht?«, fragte Liz, wie Eva vorhergesehen hatte.
»Es ist was dazwischengekommen.« Eva hoffte, dass ihre einsilbigen und ausweichenden Antworten die Unterhaltung beenden würden.
Evas Handy vibrierte auf dem Tresen, eine Nachricht von Dex leuchtete auf. Eva griff schnell nach dem Telefon und drückte auf Für später speichern,
bevor sie es in die Hosentasche schob.
Liz beobachtete sie, wartete darauf, dass sie etwas sagte, und als das nicht geschah, deutete die ältere Frau auf die geöffnete Cola-Light-Dose auf dem Tresen. »Das Zeug ist Gift«, sagte sie.
Eva sah auf ihre Armbanduhr, das Theater erschöpfte sie plötzlich. Wie lange würde sie diese Frau unterhalten müssen? »Ich sollte besser duschen. Ich arbeite heute Abend im Restaurant.«
Liz wartete kurz, als versuche sie herauszufinden, ob Eva die Wahrheit sagte, bevor sie erwiderte: »Wissen Sie, das Leben ist lang. Es kann viel schiefgehen und am Ende doch gut ausgehen.«
Eva dachte an das Labor unter ihnen. Sie hielt es für eine passende Metapher. Liz sah nur das, was sie vor sich hatte, während Eva sich Sorgen über das machte, was unter der Oberfläche versteckt war. Und dass es hochkommen könnte, damit Agent Castro es nur noch einsammeln müsste.
»Danke für das Essen«, sagte sie.
Unmissverständlich zum Gehen aufgefordert, stellte Liz das Buch wieder ins Regal. »Gern geschehen.«
Nachdem sie weg war, zog Eva das Handy aus der Tasche und las Dex’ Text.
Fish kümmert sich darum. Nimm dir ein paar Wochen frei, und dann ist der Mann verschwunden.
Eine Welle der Erleichterung überkam sie. Castro würde an ihr vorbeirasen und sie schwach und zitternd, aber heil zurücklassen.
»Es wird alles gut«, sagte sie laut in den leeren Raum. Nebenan hatte Liz Musik angestellt. Jazzklänge drangen leise an Evas Ohren, ein flüchtiger Einblick in ein Leben, das sie jetzt für eine Weile führen konnte.
Später am Abend betrat sie DuPree’s durch den Seiteneingang, ging schnell zu ihrem Schrank und hoffte, dass Gabe, der Geschäftsführer, nicht merkte, dass sie zu spät kam. Als sie wieder auftauchte, wies er gerade einen
Hilfskellner an, einige Tische abzuräumen. »Endlich«, sagte er. »Du hast Bereich fünf.«
Eva schnappte sich ihren Notizblock und ging mit dem Souschef die Tageskarte durch, bevor sie in den großen Speiseraum lief. Bald war sie ganz in ihre Arbeit vertieft, nahm Bestellungen auf, unterhielt sich mit Gästen, servierte Essen. Für kurze Zeit konnte sie die sein, für die alle sie hielten. Nur eine Kellnerin, die hart arbeitete und ihr Trinkgeld für ein langes Wochenende in Cabo oder für eine neue Lederjacke sparte. Leichtigkeit erfasste sie, ihr war schwindelig vor freudiger Erwartung. Sie fühlte sich wie ein Schulkind zu Beginn der Sommerferien.
Gabe fand sie in der Küche, wo sie dem Koch Anweisungen für ein vegetarisches Gericht gab. Gabe war Mitte vierzig, seine Haare lichteten sich, und sein Hemd spannte sich über einen kleinen Bauch. Er war ein fairer Boss, der zwar oft schroff und ungeduldig wirkte, seinen Angestellten aber immer freigab, wenn es nötig war. »Eva«, sagte er. »Wann kann ich dich für mehr Schichten einplanen? Ich brauch dich häufiger als zweimal die Woche.«
»Das geht leider nicht«, sagte sie. »Dann kann ich meinen Hobbys nicht mehr nachgehen.«
»Hobbys?«, sagte Gabe verdutzt. »Welche Hobbys?«
Eva lehnte an der Küchenwand, dankbar für die kurze Pause, und zählte sie an den Fingern auf. »Stricken. Töpfern. Roller Derby.«
Eine der Küchenhilfen prustete, und sie blinzelte dem jungen Mann zu.
Gabe schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin, dass niemand Verständnis für ihn habe.
Jemand rief durch die Küche: »Eva, Tisch vier will bestellen.«
Sie ging zurück in den Speiseraum, der jetzt, um kurz vor neun, bereits nicht mehr ganz so voll war. Als sie bei Tisch vier ankam, blieb sie abrupt stehen. Dort saß einer ihrer besten Kunden, Jeremy, flankiert von seinen Eltern.
Jeremy studierte im Hauptfach Kommunikationswissenschaften, und sein Vater verlangte glatte Einsen dafür, dass er Jeremys Studiengebühren und seinen verschwenderischen Lebensstil finanzierte. Dazu gehörten ein BMW
, ein luxuriöses Loft in Berkeley und die Drogen, die Eva produzierte. Und anders als Brett bezahlte Jeremy immer bar bei der Übergabe. Es war angenehm, mit ihm zu arbeiten.
Es kam hin und wieder vor, dass sie ihre Kunden in der realen Welt traf,
was diese immer aus dem Konzept brachte. Bei Jeremy war es nicht anders. Als er sie sah, wurde er blass, und seine Augen suchten nach dem nächsten Ausgang. Seine Mutter studierte die Speisekarte, während sein Vater mit dem Handy beschäftigt war. Eva lächelte und hoffte, ihm die Befangenheit zu nehmen. »Hallo. Darf ich Ihnen noch sagen, was wir auf der Tageskarte haben?« Sie begann mit ihrem Vortrag, und Jeremy sah sie währenddessen nicht einmal an. Sie hatte Verständnis für seine Panik. Es hatte Jahre gedauert, bis sie verstand, dass normale Leute sie nicht durchschauten. Dass sie nicht wussten, was sie tat, wenn sie sie im Park oder an der Ecke neben dem Lebensmittelladen trafen. Die Welt war voller Menschen, die Geheimnisse hatten. Niemand war die Person, die er oder sie zu sein schien.
Vor dem Dessert lauerte Jeremy ihr neben den Toiletten auf und stellte sie zur Rede. »Was machst du hier?«, zischte er.
»Ich arbeite hier.«
Er blickte über ihre Schulter in den Speiseraum.
Sie folgte seinem Blick und sagte: »Hör zu, Jeremy. Du kannst ganz entspannt sein. Lass dir eins sagen: Die Menschen glauben das, was sie glauben sollen, solange du dich ganz normal verhältst. Du kennst mich nicht, und ich kenne dich nicht.« Sie ging weg und ließ ihn zwischen den Männertoiletten und dem Notausgang stehen.
Als ihre Schicht zu Ende war, lief sie auf dem Parkplatz an Agent Castros Auto vorbei, hielt seinem Blick für den Bruchteil einer Sekunde stand, bevor sie unauffällig davonging. Welches Spiel er auch spielte, sie beherrschte es ebenfalls.