CLAIRE
Freitag, 25. Februar
Bergungshelfer berichten, der Sitz Ihrer Frau sei leer gewesen.
Ich starre auf die Nachricht des NTSB
und versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Meine Gedanken springen zwischen zwei Fragen hin und her: Kann Eva irgendwie das Flugzeug verlassen haben? Und was wird Rory tun, wenn Bergungshelfer ihm erklären, dass es keine Spur von mir gab?
Ich öffne einen neuen Tab in meinem Browser und google Bergung von Überresten nach einem Flugzeugabsturz über dem Ozean
. Mindestens zwanzig Beiträge über den Absturz von Flug 477 poppen auf; alle wurden in den letzten vier Tagen verfasst. Neueste Meldung: Sucher entdecken sterbliche Überreste und Trümmer.
Ein anderer Beitrag trägt die Überschrift Vista-Airlines-Unglück: Flug 477 stürzt vor der Küste Floridas ab.
Ich versuche was anderes. Wie werden menschliche Überreste nach einem Flugzeugabsturz geborgen?
Wieder erscheint eine lange Reihe von Beiträgen mit den neuesten Meldungen über die Suche. Sie beinhalten kurze Berichte über Vistas mangelhafte Sicherheitsbewertung und Spekulationen über die Ursache des Absturzes. Aber nichts, das mir verrät, was ich wissen muss – ob sie in der Lage sein werden, definitiv festzustellen, dass ich nicht in der Maschine war. Oder ob es möglich ist, dass sie nicht alle Passagiere bergen können.
Oder eine Antwort auf die entscheidende Frage: Wie kann Eva aus diesem Flugzeug gekommen sein? Ich versuche mir vorzustellen, wie sie irgendwo da draußen herumläuft, meinen Namen benutzt, so wie ich ihren benutze, und meinen Führerschein benutzt, um in Hotels einzuchecken. Oder vielleicht hat sie ihn ja auch gleich nach der Landung verkauft. Ich habe Nico für meine falschen Amanda-Burns-Dokumente zehntausend Dollar gezahlt. Keine Ahnung, was ein echter Führerschein wert ist. Vielleicht war
Identitätsdiebstahl ja Evas Nebenerwerb; deshalb konnte sie eine Doppelhaushälfte in Berkeley bar bezahlen.
Ich google weiter. Kann man gescannt werden, ohne in den Flieger zu steigen?
Ich finde einen Beitrag in einem Forum; dort fragt sich jemand, ob man das tun kann, um mit den zusätzlichen Meilen seinen Vielfliegerbonus aufzustocken. Doch die Antworten sind nicht gerade ermutigend:
Um die abschließende Zählung der Passagiere kommt man nicht herum. Wenn die Zahl nicht stimmt, müssen alle das Flugzeug verlassen und noch einmal durch die Sicherheitskontrolle. Das klappt nicht, ohne sich selbst und alle anderen Passagiere in dem Flieger zu verarschen.
Eine andere Antwort lautet:
Es ist unmöglich, die Bordkarte scannen zu lassen und anschließend nicht in den Flieger zu steigen. Überleg mal. Du wirst nur ein paar Meter vom Flugzeug entfernt kontrolliert. Meinst du, ein Flugbegleiter überprüft dich und sieht dann seelenruhig zu, wie du davonläufst? Diese ganze Diskussion ist albern und pure Verschwendung von geistiger Energie.
Richtig. Die Zählung der Passagiere. Eva muss in dieses Flugzeug gestiegen sein.
Ich erschrecke, als Evas Handy auf dem Schreibtisch neben mir bedrohlich summt. Ein Anruf von Privat
. Ich starre auf das helle Display, während das Handy noch ein paarmal klingelt. Ich stelle mir vor, wie ich rangehe und mich als Eva ausgebe. Fragen stelle, die mir vielleicht Aufschluss darüber geben könnten, wer sie wirklich war. Was sie tat. Warum sie in einer Flughafenbar eine Fremde ansprach und ihr eine haarsträubende Geschichte über einen sterbenden Ehemann erzählte. Das Summen hört auf, und in dem Raum herrscht wieder Stille. Nach einer Weile leuchtet das Display erneut auf und meldet den Eingang einer Sprachnachricht. Ich tippe den neuen Code ein, den ich erst kürzlich erstellt habe, und lausche.
Am anderen Ende ist eine Frauenstimme zu hören. »Hi, ich bin’s. Wollte mal hören, wie es gelaufen ist. Ob alles okay ist. Du wolltest dich doch längst bei mir melden. Also, ruf mich an.«
Das war’s. Kein Name. Keine Telefonnummer. Ich höre mir die Nachricht noch einmal an und versuche, irgendwelche Details zu erhaschen – das Alter der Frau, irgendwelche Hintergrundgeräusche, die mir vielleicht verraten, von wo sie angerufen hat – aber da ist nichts.
Meine Mutter ist einmal mit Violet und mir zum Strand von Montauk gefahren. Sie gab jedem von uns einen leeren Eierkarton, den wir mit Schätzen füllen sollten. Violet und ich gingen meilenweit, um nach bunten Scherben und intakten Muschelschalen zu suchen. Außen schwarz, aber wenn man sie umdrehte, waren sie entweder perlmuttrosa wie Ballettschuhe oder violettblau wie Babydecken. Wir sortierten unsere Schätze nach Art und Farbe, und als unsere Kartons voll waren, kehrten wir zu dem gemieteten Ferienhaus zurück, um sie unserer Mutter zu zeigen.
Evas Leben zu ergründen ist so, als würde man versuchen, einen jener Kartons zu füllen. Einige Leerräume sind mit Dingen gefüllt, die keinen Sinn ergeben, wie etwa einem zurückgelassenen Prepaid-Handy. Fehlenden persönlichen Gegenständen. Einem bar bezahlten Haus. Einer Frau, die auf einen Anruf von Eva wartet und sich erkundigt, wie es gelaufen ist.
Und andere sind immer noch leer und warten darauf, dass sich alles zusammenfügt. Dass alles einen Sinn ergibt.
Ein Gefühl der Schwere überfällt mich. So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Vielleicht war es naiv, aber ich habe nie bedacht, wie stressig oder beunruhigend es sein würde, eine Lüge zu leben. Ich habe immer nur daran gedacht, wie es sich anfühlen würde, von Rory befreit zu sein.
Und hier bin ich nun. Zwar frei, aber keineswegs befreit.
Samstagmorgen. Ich bin früh wach, esse einen Vanille-Joghurt und schaue mir an, wie Rory und Bruce darüber diskutieren, ob sie nach der Beisetzung eine Druckfassung der Trauerrede veröffentlichen sollen, die Rory für mich verfasst hat. Bruce ist dafür, Rory dagegen.
Und dann:
Rory Cook:
Was hat Charlie bei eurem Treffen gesagt?
Ich setze mich auf und stelle meinen Joghurt vorsichtig beiseite, während ich auf Bruce’ Antwort warte.
Bruce Corcoran:
Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Ich habe erklärt, dass du über Claires Tod zu erschüttert seist, um selbst zu kommen. Dass es überaus opportunistisch wäre, jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen und damit gegen die Bedingungen einer stichhaltigen Geheimhaltungsvereinbarung zu verstoßen. Und dass wir in dem Fall gezwungen wären, eine Klage anzustrengen, was niemand wolle. Vor allem nicht jetzt.
Rory Cook:
Und?
Bruce Corcoran:
Es hat nichts gebracht. Charlie meinte, wenn du kandidieren willst, müssten die Wähler wissen, dass sie für einen Kriminellen stimmen. Was mit Maggie Moretti passiert sei, müsse ans Licht gebracht werden. Die Menschen, die sie geliebt haben, hätten es verdient, die Wahrheit zu erfahren.
Und plötzlich ordnen sich alle meine Vermutungen neu. Bei der Erwähnung von Maggies Namen spüre ich das Adrenalin in meinen Adern. Ich halte den Atem an und warte.
Bruce Corcoran:
Was soll ich jetzt tun?
Ich kann Rory förmlich herumbrüllen hören, während er tippt.
Rory Cook:
Ich will, dass du deinen verdammten Job machst und dafür sorgst, dass das aufhört.
Bruce Corcoran:
Ich werde ein Paket schnüren und sehen, ob das die Gemüter beruhigt. Hab Geduld.
Rory Cook:
Verdammt, ich bezahle dich nicht dafür, dass du mir sagst, ich soll Geduld haben.
Damit ist die Debatte beendet. In meinem Kopf dreht sich alles, und ich versuche, die Verbindung zwischen Charlie Flanagan, Rory und Maggie Moretti zu ergründen.
In meiner Jugend bin ich immer mit dem Fahrrad aus der Stadt in ein kleines Waldgebiet geradelt. Ich liebte es, den asphaltierten Bürgersteig hinter mir zu lassen und auf einen unbefestigten, vom Sonnenlicht gesprenkelten Weg einzubiegen, der sich unter hohen Bäumen dahinschlängelte, die meine Geheimnisse bewahrten.
Aber am meisten genoss ich es, wenn ich wieder aus dem Wald herauskam und mein ganzer Körper nach der langen Fahrt auf dem holprigen Boden vibrierte. Ich liebte das Gefühl, auf den Asphalt zurückzugleiten – alle Unebenheiten glätteten sich auf einmal wieder.
Nach den vielen Tagen auf unwegsamem Gelände spüre ich diese Energie jetzt erneut. Ich bin wieder draußen und sehe einen Weg vor mir.
Ich wende mich wieder dem USB
-Stick zu und entdecke unter dem Buchstaben M einen Ordner mit der simplen Bezeichnung Mags.
Als ich ihn öffne, finde ich nicht viel. Rory und Maggie waren in einer Zeit zusammen, als es noch kein Internet und keine E-Mails gab. Deshalb gibt es nur etwa zwanzig gescannte Bilder – Fotos, Notizen auf liniertem Papier, auf Karten und auf der Serviette einer Hotelbar. Jedes einzelne Bild ist mit einer nichtssagenden IMG
-Nummer gekennzeichnet. Beim Durchklicken überfällt mich ein kalter Schauder. Maggies Handschrift ist so persönlich wie ein Fingerabdruck, so leise wie ein Flüstern in meinem Ohr.
Es überrascht mich nicht, dass Rory diese Bilder aufbewahrt hat, lange nachdem er die Ausdrucke vernichtet hatte. Ich weiß, dass er sie auf seine eigene verdrehte Art und Weise geliebt hat. Wie eine Straßenkarte zeichnen die Bilder den Verlauf ihrer Beziehung von der anfänglichen Leidenschaft einer jungen Liebe bis hin zu einem eher komplizierten Verhältnis danach. Es ist wie ein Echo meiner eigenen Ehe. Wie eine Melodie, die vertraut und stumpf zugleich klingt.
Am Ende des Ordners öffne ich ein gescanntes Bild, auf dem die blauen Linien und gezackten Kanten einer aus einem Spiralblock herausgerissenen
Seite zu sehen sind. Der Brief wurde nur wenige Tage vor Maggies Tod geschrieben.
Rory,
ich habe lange über deinen Vorschlag nachgedacht, das Wochenende auf dem Land zu verbringen, um die Dinge zu klären. Ich halte das für keine gute Idee. Ich brauche Zeit, um mir darüber klar zu werden, ob ich dich weiterhin sehen möchte. Unser letzter Streit hat mir Angst gemacht. Das war alles zu viel, und im Moment weiß ich nicht, ob es möglich ist, wie bisher weiterzumachen. Bitte, respektiere meinen Wunsch. Ich werde dich in Kürze anrufen. Aber egal, was kommt, ich werde dich immer lieben.
Maggie
Ich lese den Brief noch einmal und komme mir vor wie ein Rad, das aus der Spur geraten ist, wenn ich an jenes Abendessen vor langer Zeit denke. Maggie wollte, dass wir übers Wochenende wegfahren. Um es noch einmal zu versuchen und richtig miteinander zu reden, ohne die Ablenkungen der Stadt.
Aber Maggie wollte gar nicht übers Wochenende wegfahren. Sie wollte die Beziehung beenden. Und ich habe selbst erlebt, wie Rory reagiert, wenn eine Frau ihn verlassen will.
Es ist eine grausame Ironie des Schicksals, dass sowohl Maggie Moretti als auch ich erst sterben mussten, um endlich von ihm freizukommen.