EVA
Berkeley, Kalifornien
Oktober
Vier Monate vor dem Absturz
Es dauerte nicht lange, bis Liz anfing, Fragen zu stellen. Zunächst war es eine Bemerkung über den seltsamen Geruch im Garten hinter dem Haus, den sie nicht einordnen konnte. Daher war Eva gezwungen, nachts zu arbeiten, wenn Liz schlief.
»Bist du krank?«, fragte Liz ein andermal, nachdem Eva drei Nächte hintereinander nicht geschlafen und infolgedessen dunkle Ringe unter den Augen hatte. Eva hatte versucht, den Fragen auszuweichen, indem sie den Nachbarn von gegenüber die Schuld an dem Gestank zugeschoben und eine Nebenhöhlenentzündung für ihr abgespanntes Aussehen verantwortlich machte.
In den wenigen Wochen ihrer Auszeit hatte sich Evas Leben verändert, und sie tat sich schwer, in die Normalität zurückzukehren. Sie begann, ihr Dasein als zwei parallel verlaufende Bahnen zu betrachten: das Leben, das sie gerade führte, mit der nächtlichen Laborarbeit und den Forderungen von Dex und Fish, und das Leben, das sie noch vor ein paar Wochen geführt hatte. In dem sie oft mit Liz zu Abend gegessen hatte. Eine unkomplizierte Zeit, zwangloser und schöner, als sie es sich jemals vorgestellt hätte.
Und als sie sich jetzt ihren Weg durch die in Vereinsfarben gekleidete Menschenmenge zum Memorial Stadium bahnte, fühlte sie sich wie benommen, und ihr Blick war düster. Sie wartete in der Schlange vor dem Eingang und hielt ihren Blick auf die Sicherheitsleute gerichtet, die jeden aufforderten, Taschen und Rucksäcke zur Kontrolle zu öffnen. Sie presste ihren Arm gegen ihren Oberkörper und spürte den Umriss des Päckchens mit Pillen, das sie sicher in einer Innentasche ihres Mantels verstaut hatte.
Eva hatte zu keinem ihrer Kunden Kontakt aufgenommen, um Bescheid zu geben, dass sie wieder im Geschäft war. Sie würde zwar Drogen für Fish herstellen, aber soweit es ihre Kunden betraf, machte sie immer noch eine Auszeit. Und das würde auch auf unbestimmte Zeit so bleiben. Ihr einziges Ziel war, möglichst viele Informationen über Fish und seine Organisation zu sammeln.
Als sie an der Reihe war, öffnete sie ihre Handtasche und sah zu, wie der Sicherheitsbeamte den Inhalt kontrollierte – einen Geldbeutel, eine Sonnenbrille und ein kleines Aufzeichnungsgerät. Sie hielt wie immer den Atem an und wartete darauf, dass jemand sie durchschaute und endlich erkannte, was sie wirklich war.
Aber das würde heute nicht passieren.
Sie betrat das Stadion, und unter ihr breitete sich das Spielfeld aus, jede Endzone mit dem gelben Schriftzug California auf dunkelblauem Grund und dem markanten Cal- Logo mitten auf der Fünfzig-Yard-Linie versehen. Eva ignorierte die Menschen auf den anderen Plätzen und starrte auf das Feld, wo die Blaskapelle spielte und der Bereich daneben sich mit Studenten füllte. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so isoliert und allein gefühlt.
Als Studentin war Eva nur bei einem einzigen Spiel gewesen, und die Erinnerung daran verfolgte sie jedes Mal, wenn sie an diesen Ort zurückkehrte. Wir treffen uns anschließend im Nordtunnel, hatte Wade gesagt. Die vielen Menschen, die sich dort aufhielten und auf die Spieler warteten, hatten sie verwirrt. Anhänger, Fans, Studentinnen, die ihre Haare zurückwarfen und ihren Lipgloss checkten. Sie hatte sich zurückgehalten und das Treiben wie üblich aus einiger Entfernung beobachtet. Als Wade erschien, wanderte sein Blick über die Menge und landete schließlich auf ihr. Als ob sie leuchten würde. Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, legte den Arm um sie und führte sie weg. Der Duft seiner Seife vermischte sich mit dem Geruch der Mammutbäume rings um das Stadion. Damals wurde ihr klar, dass sie verloren war, dass Wade Roberts sie ausgewählt hatte, und sie war verpflichtet, ihm zu folgen, ob sie wollte oder nicht.
Eva hatte ihn in dem Chemielabor kennengelernt, wo sie als Lehrassistentin arbeitete. Zunächst hatte sie ihn für einen Sportfreak gehalten, der versuchte, mit Flirten eine bessere Note zu bekommen. Aber jedes Mal, wenn Wade sie angesehen hatte, war sie wie elektrisiert gewesen.
Als sie zu Beginn des Semesters einige grundlegende chemische Reaktionen durchgenommen hatten, hatte Wade gefragt: »Warum machen wir das? Wann werden wir jemals wissen müssen, welche Substanzen mit Kalziumchlorid reagieren?«
Eigentlich hätte sie ihn wieder an die Aufgabe erinnern müssen. Aber Eva war klar, dass sie sich völlig unerwartet verhalten musste, wenn sie seine Aufmerksamkeit behalten wollte. »Magst du Süßigkeiten?«, hatte sie ihn gefragt. Und dann hatte sie allen Kursteilnehmern gezeigt, wie man Kristalle mit Erdbeergeschmack herstellte, eine simple Prozedur, die man auch im Internet finden konnte.
So hatte alles angefangen. Ein Kreuz auf der Landkarte, das den Beginn einer Reise markierte, die sie nie unternehmen wollte. Schon kurz nach ihrem ersten Date hatte Wade sie gedrängt, Drogen herzustellen. Zuerst weigerte sie sich. Aber das, worum er sie bat, war so einfach, dass sie überlegte, es einmal zu tun und ihn sich anschließend vom Hals zu schaffen. In der Wissenschaft hatte sie sich immer sicher gefühlt – zwischen all den Gesetzen von Physik und Chemie. Im Gegensatz zum wahren Leben, wo man im Alter von zwei Jahren plötzlich im Heim landen konnte, war Chemie berechenbar. Jeder wollte mit Wade befreundet sein, und er wollte ihr nahe sein. Und als er sie bat, es noch einmal zu tun, tat sie es. Und danach wieder.
Das Stadion füllte sich. Eva sah auf die Uhr, griff in ihre Handtasche und schaltete das Aufnahmegerät ein. Jenseits des Spielfelds spielte die Blaskapelle denselben Rhythmus wie damals, vor so vielen Jahren. Um Eva herum drängten sich die Leute, und sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Sie versuchte, sich in sich selbst zurückzuziehen, um durchzuhalten. Zu warten. Ihren Job zu machen und bereit zu sein.
»Bist du schon lange hier?«, fragte Dex und ließ sich auf den Sitz neben ihr gleiten.
»Vielleicht fünf Minuten.« Ihr Blick wanderte den Hügel hinauf, wo die Kanone, die nach jedem Touchdown abgefeuert wurde, auf ihrer Plattform zwischen den Bäumen hervorlugte. Eine weiße Kalifornien-Fahne flatterte im Wind. Tightwad Hill, offen für jeden, der bereit war, dort hinaufzulaufen und sich in den Dreck zu setzen. Scheiß Berkeley. »Gott, wie ich diesen Ort hasse«, sagte sie.
»Dann gib mir, was du hast, und lass uns von hier verschwinden.« Dex drehte sich um, blickte in die Menge hinter ihnen und schaute dann wieder nach vorn. Dabei wippte er nervös mit dem Knie.
Eva schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Wir machen es auf meine Weise.« Nur weil Dex behauptete, Castro sei fort, hieß das nicht, dass er nicht noch irgendwo da draußen war, sie beobachtete und nur darauf wartete, dass sie einen Fehler machte.
»Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.«
»Deine ungenauen Angaben sind nicht gerade vertrauenerweckend«, meinte Eva. Sie zog die Handtasche unter ihrem Sitz hervor und wischte welkes Laub und altes Kaugummipapier ab, bevor sie sie neben ihre Armlehne stellte. »Du musst mir Einzelheiten nennen. Wer hat mich verfolgt? Warum? Und wieso sind sie jetzt verschwunden?«
Dex lümmelte sich in seinen Sitz. Sein Blick wanderte unentwegt hin und her. »Okay«, sagte er schließlich. »Es war eine gemeinsame Einsatzgruppe von Beamten der Drogenvollzugsbehörde und hiesigen Drogenfahndern, die Fish schnappen wollten. Das versuchen sie schon seit Jahren. Vor zwei Wochen wurde die Gruppe aufgelöst.«
»Wieso kann Fish eine ganze Einsatzgruppe zurückpfeifen?«, drängte sie.
Dex spähte über das Feld, wo die Kapelle jetzt eine Version von »Funky Cold Medina« anstimmte. Schließlich sagte er: »Eine Überwachung kostet viel Geld, und du hast ihnen nichts geliefert. Sie können dich nicht ewig beschatten. Ein paar hohe Tiere haben die Mittel gestrichen, und da es keine stichhaltigen Beweise gab, fingen Fishs Freunde in der Behörde an, sich über den sinnvolleren Einsatz von Ressourcen auszulassen und über das Budget zu meckern. Ihnen blieb keine andere Wahl, als die Sache abzublasen.«
»Hörst du dir eigentlich selbst zu?«, fragte sie. »Bundesbeamte. Gemeinsame Einsatzgruppe. Und du willst mir erzählen, dass ich mir keine Sorgen machen muss?«
»Wie gesagt, dieses Thema ist abgeschlossen. Du musst es vergessen.«
Sie betrachtete sein Profil, die sanften Konturen seines Kinns, die Lachfältchen um Augen und Mund. Sie kannte Dex nun seit zwölf Jahren. Aber etwas an ihm war heute anders.
In diesem Moment wurde die Kanone abgefeuert, und das Cal-Team stürmte aus dem Nordtunnel. Neben ihr sprang Dex fast von seinem Sitz. Dann erhob er sich zusammen mit den übrigen Zuschauern, als die Kapelle das Kampflied anstimmte. Aber Eva ließ sich nicht täuschen. »Alles okay?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Dex und schob die Hände in die Taschen. »Nur ein bisschen durch den Wind.« Die Zuschauer setzten sich wieder, und das erste Viertel des Spiels begann.
»Du hast grade behauptet, alles sei in Ordnung. Was soll die Scheiße, Dex?«
Er schüttelte den Kopf. »»Es ist alles okay. Fish überprüft nur gerade diesen Typen, von dem ich dir erzählt habe. Mein Freund, der Brittany empfohlen hat.«
»Bist du in Gefahr?«
Dex lachte dumpf und sah sie mit traurigen Augen an. »Wann bin ich das nicht?«
In der Halbzeit begaben sie sich zum ersten Rang. Während die meisten Leute zu den Toiletten oder den Imbissständen strömten, führte Eva Dex zu der Tür mit der Aufschrift Stadionclub. Sie reichte dem Wachmann vor der Tür ihre Handtasche. Der Mann kontrollierte sie und winkte beide dann durch. Sie ließen den Lärm des Stadions hinter sich, stiegen eine Treppe hinauf und betraten einen großen Raum mit Blick auf den Campus, die Bucht von San Francisco und die Golden Gate Bridge.
»Ich besorge uns was zu trinken«, sagte Dex. Eva starrte aus dem Fenster und dachte an eine andere Zeit, an ein Büro mit fast identischem Ausblick. Der Geist von Wade Roberts verfolgte sie noch immer.
Es war das schönste Büro gewesen, das Eva in all den Jahren in Berkeley gesehen hatte. Es lag hoch oben auf dem Hügel über dem Campus, und vom Fenster aus hatte man einen beeindruckenden Ausblick auf die Golden Gate Bridge und darüber hinaus. In einer Ecke tickte eine Uhr und maß Evas Schicksal in Sekunden. Während der Dekan ihre Akte durchblätterte, wanderte ihr Blick immer wieder zur Tür. Sie fragte sich, wann Wade wohl auftauchen und, wie versprochen, seine Entschuldigung vorbringen würde.
»Wie ich sehe, sind Sie Stipendiatin.« Der Dekan blickte auf und wartete auf ihre Bestätigung. Eva starrte auf seine markante Hakennase mit der Zweistärkenbrille und schwieg. Er las weiter. »Sie kommen aus St. Joe?«
Der erste Anflug von Sympathie. Sobald die Leute herausfanden, dass sie im Heim aufgewachsen war, machten sie entweder einen Schritt zurück oder einen Schritt nach vorn. Aber fast immer veränderte sich dabei ihre Sichtweise. Eva zuckte mit den Schultern und sah erneut zur Tür. »Das steht doch alles in der Akte.« Ihr Ton war schroffer als beabsichtigt, und sie wünschte, sie könnte ihre Worte zurücknehmen und noch einmal von vorn anfangen. Sie würde ihm sagen, wie sehr sie mittlerweile ihr Leben als Studentin genoss und dass Berkeley ein Ort war, an dem sich ihr jede Menge Möglichkeiten boten. Aber Eva hatte noch nie so viel Ehrlichkeit ausdrücken können, deshalb sagte sie nichts und wartete ab, was als Nächstes passierte.
»Es ist töricht, das alles wegzuwerfen, um im Chemielabor Drogen herzustellen«, meinte er.
Eva blieb es erspart, zu antworten, denn in diesem Moment ging die Tür auf, und der Assistent des Dekans führte Wade herein. Evas Anspannung löste sich. Wade hatte ihr versprochen, dem Dekan zu beichten, dass die Herstellung der Drogen seine Idee gewesen war, und die ganze Schuld auf sich zu nehmen. Als Quarterback des Footballteams würde er mit einem blauen Auge davonkommen und vielleicht ein Spiel aussetzen müssen. Nichts, was seiner Karriere schaden konnte.
Aber ihre Erleichterung verflog rasch, als Coach Garrison hinter Wade auftauchte. Eva kannte ihn bislang nur aus der Zeitung, und sie hatte ihn einmal bei dem einzigen Footballspiel, das sie je besucht hatte, als winzigen Punkt an der Seitenlinie auf und ab gehen sehen. Sie war nur Wade zuliebe hingegangen. Meine Freundin soll mich spielen sehen. Das Wort Freundin hatte den Ausschlag gegeben. Eva war noch nie Tochter, Bekannte oder gar Freundin für irgendjemanden gewesen. Sie kam sich albern vor, weil der Vertrauensbruch sie so tief traf und weil sie tatsächlich angenommen hatte, Wade wäre anders.
»Sie hatten nur weißen«, sagte Dex und reichte ihr einen kleinen Plastikbecher mit Wein. Eva riss sich von ihren Erinnerungen los und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Sie hatte geglaubt, sich wie Phönix aus der Asche erhoben zu haben, um ein eigenständiges Leben zu führen. Aber es war alles eine Illusion gewesen. Selbsttäuschung. Nichts hatte sich geändert. Dex hatte Wades Platz eingenommen, und alles ging so weiter, wie es begonnen hatte, nur in größerem Umfang.
Dex nahm einen Schluck aus seinem Becher und verzog das Gesicht. »Wie viel zahlst du jedes Jahr für das Privileg, beschissenen Wein zu trinken?«, fragte er.
Das Letzte, was Eva jetzt brauchte, war eine Tonaufnahme mit Aussagen über schlechten Wein. »Manchmal frage ich mich, ob ich Fish schon mal begegnet bin, ohne es zu wissen. Vielleicht ist er ja einer von diesen edlen Spendern da drüben.« Sie deutete auf eine Gruppe älterer, in Dunkelblau und Gold gekleideter Herren, die sich neben einem Trophäenschrank versammelt hatten. »Es ergibt sogar Sinn, dass er sich auf diese Weise unsichtbar machen würde.« Dex starrte sie über den Rand seines Plastikbechers hinweg an, und sie fuhr fort: »Du kennst ihn. Wie ist er so?«
Dex zuckte mit den Schultern. »Ein ganz normaler Typ, schätze ich. Nichts Besonderes. Ziemlich Furcht einflößend, wenn man ihn wütend macht.« Ein Schauder durchfuhr ihn, und er sah Eva mit trauriger Miene an. »Fang jetzt nicht an, Fragen zu stellen.«
Eva trank einen Schluck Wein, und der scharfe Geschmack brannte ihr in der Kehle. »Keine Angst. Ich weiß, dass du mir nicht alles sagen darfst. Aber ich habe darüber nachgedacht, was eigentlich mit den Pillen passiert, nachdem ich sie dir gebe. Bisher habe ich nie überlegt, ob davon irgendwas bis zu mir zurückverfolgt werden kann. Mit Forensik kann man schon verrückte Sachen machen.«
»Sie bleiben nicht vor Ort, wenn es das ist, worüber du dir Gedanken machst.«
»Das hängt davon ab, was du unter ›vor Ort‹ verstehst. Sacramento? Los Angeles? Noch weiter weg?«
Dex trank noch einen Schluck Wein, bevor er den Becher in einen Abfalleimer warf. »Lass uns damit Schluss machen und von hier verschwinden.«
Sie gingen einen schmalen Gang entlang zu einer Toilette mit einem geschlechtsneutralen Symbol auf der Tür und stellten sich hinter einer Mutter mit einem Kleinkind an. Als ein älterer Mann aus der Tür kam, betraten Mutter und Kind die Toilette und verriegelten die Tür hinter sich. Eine Kellnerin sagte im Vorbeigehen: »Um die Ecke gibt es größere Toiletten. Da müsst ihr nicht warten.«
Dex und Eva lächelten und versicherten ihr, dass alles okay sei. Nach weiteren fünf Minuten und dumpfem Geschrei hinter der verschlossenen Tür war Eva endlich an der Reihe. Sie verriegelte die Tür und überprüfte das Aufnahmegerät in ihrer Handtasche. Sie war frustriert, weil Dex ihr nicht noch mehr verraten hatte. Sie lehnte sich an die Wand und spürte durch den Stoff ihrer Ärmel die kalten Fliesen. Eva überlegte, was sie fragen oder tun konnte, um Dex dazu zu bringen, ihr mehr Details zu geben. Wohin die Drogen geschickt wurden und wer sie bezahlte. Informationen über Fish, die sie weitergeben konnte. Schließlich betätigte sie die Toilettenspülung. Das hell eingewickelte Päckchen mit den Pillen holte sie erst hervor, nachdem sie sich die Hände gewaschen und abgetrocknet hatte.
Sie legte das Päckchen oben auf den Handtuchspender, verließ die Toilette und ließ Dex nach ihr durch die Tür schlüpfen. Als er wieder herauskam, tätschelte er seinen Mantel und sagte: »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, aber ich möchte lieber nicht zur zweiten Halbzeit bleiben.«
»Verstehe«, erwiderte sie. Sie verließen den Club, gingen die Treppe hinunter und dann aus dem Stadion.
Draußen blieben sie stehen. »Hör mal«, meinte Dex. »Wir sind beide ein wenig überdreht, und du hast recht damit, vorsichtig zu sein.« Er deutete auf das Stadion hinter ihnen, wo das Spiel wieder begonnen hatte. »Wir machen es auf deine Weise, bis wir beide wieder entspannter sind.«
Sie sah ihn an. Nun, da er bekommen hatte, was er wollte, wirkte sein Gesichtsausdruck weicher. Er war gleichzeitig Beschützer und Gefängniswärter. Egal, wie er sich ihr gegenüber verhielt, Dex war nicht ihr Freund. Sie durfte nicht vergessen, dass er nicht um ihr Wohlergehen besorgt war, sondern um sein eigenes.
Eva schenkte ihm ein dankbares Lächeln und sagte: »Danke, Dex.« Solange er glaubte, mit ihr klarzukommen, würde er nicht bemerken, wie sie ihn manipulierte.
Anstatt zu arbeiten, setzte sich Eva später am Abend vor den Computer und starrte auf ein leeres Suchfeld. Im Stadion hatte sie sich heute daran erinnert, wie es damals gewesen war, ganz allein in diesem Büro zu sitzen, ohne jemanden, der sich für sie einsetzte und sagte: Eva ist ein guter Mensch. Sie hat eine zweite Chance verdient. Und sie fragte sich, ob eine zweite Chance überhaupt möglich gewesen wäre. Liz’ Worte fielen ihr wieder ein. Wissen ist Macht. Liz hatte die Mauern durchbrochen, die sie selbst errichtet hatte. Und sie war sich nicht sicher, ob sie jetzt dabei war, sie wieder aufzurichten oder sie komplett zu zerstören.
Eva versuchte, sich auf das schmerzlichste Ergebnis vorzubereiten – dass ihre Mutter, mittlerweile genesen, mit Familie und Freunden ein glückliches Leben führte –, und trug den vollständigen Namen ihrer Mutter in das Suchfeld ein. Lediglich der helle Bildschirm erleuchtete den Raum und ihr Gesicht. Draußen fuhr ein Auto vorbei. Die Reifen summten auf dem Pflaster. Dann herrschte wieder Stille, die nur vom Zirpen der Grillen unterbrochen wurde.
Eva drückte die Return-Taste.
Eine lange Liste mit Treffern poppte auf. Rachel Ann James auf Facebook. Bilder. Twitter. Eine Rachel Ann James auf einem College in Nebraska. Sie scrollte nach unten und klickte auf einen kostenlosen People-Finder-Link, der achtzehn mögliche Übereinstimmungen fand. Aber in keinem der Fälle passte das Alter. Ihre Mutter wäre jetzt Anfang fünfzig, und diese Personen waren entweder zu jung oder zu alt.
Ihr Körper vibrierte vor Angst, noch mehr als bei den stressigsten Drogendeals, und sie war nahe dran aufzugeben. Den Computer auszuschalten und alles zu vergessen. Aber stattdessen startete sie eine neue Suche und gab Rachel Ann James Todesanzeige, Kalifornien, ein.
Diesmal war es gleich der erste Link auf ihrer Ergebnisliste. Es handelte sich um einen kurzen Abschnitt aus einer Lokalzeitung in Richmond, nur ein paar Meilen nördlich von Berkeley. Keine Details darüber, wie sie gestorben war, nur das Jahr und ihr Alter (27). Rachel hinterlässt ihre Eltern, Nancy und Ervin James aus Richmond, Kalifornien, und ihren Bruder Maxwell (35). Keine Rede von der Enkelin, die sie nicht haben wollten.
Eva starrte auf den Bildschirm und hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Eva war damals acht gewesen. Sie versuchte, die Erinnerungen an ihre Kindheit und diese neue Information unter einen Hut zu bringen. Ihre Zeit mit Carmen und Mark. Die Rückkehr ins Kloster, wo die Nonnen wiederholt versucht hatten, mit ihrer Familie in Kontakt zu treten. Irgendwann in dieser Zeit war ihre Mutter gestorben. Und trotzdem hatten ihre Großeltern, Nancy und Ervin, die endlich von dem Albtraum, eine drogenabhängige Tochter zu haben, befreit waren, sie nicht haben wollen.
Sie dachte daran, die Todesanzeige auszudrucken, nach unten zu gehen und an Liz’ Tür zu klopfen, um sie zu fragen, wie dieses Wissen ihr Macht verleihen sollte. Für Eva fühlte es sich wie tausend Nadelstiche auf der Haut an, ein Schmerz ohne Zentrum, einfach ein Flächenbrand, der sie verzehrte.
Stattdessen beendete sie ihre Suche, schaltete den Computer aus und gewöhnte sich allmählich an die Dunkelheit. Sie musste diese erneute Zurückweisung, diesen neuen Kummer neben all dem anderen erst einmal verarbeiten.