CLAIRE
Samstag, 26. Februar
Dass Rory bezüglich seines letzten Wochenendes mit Maggie gelogen hat, ist zwar interessant, aber in rechtlichem Sinne nicht belastend. Natürlich wollte er mitfühlend erscheinen, als er mir, seiner neuen Freundin, die Geschichte erzählte. Aber ich kann nicht recht glauben, dass Maggie ihre Meinung geändert hat und trotz allem zu dem Treffen gegangen ist. Maggies Hinweis auf einen beängstigenden Streit beunruhigt mich, denn ich kenne Rorys Wutausbrüche und weiß, wie leicht so einer am Fuß dieser Treppe enden konnte.
Der Brief beweist jedoch nur, dass sie gestritten haben, worüber damals ausführlich berichtet wurde. Was allerdings an mir nagt, ist die Frage, inwiefern Charlie Flanagan mit jenem Wochenende im Jahr 1992 zu tun hat. Das ist der Schlüssel zu allem. Vielleicht war er derjenige, der die Schmiergelder gezahlt hat, von denen Tante Mary erzählte, nachdem er diese illegal vom Konto der Stiftung abgezweigt hatte.
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich nur noch eine halbe Stunde Zeit habe, bis ich mich mit Kelly treffe. Ich gehe in die Küche, hole eine Cola-Light aus dem Kühlschrank, trinke einen Schluck und starre aus dem Fenster. Während ich darauf warte, dass das Koffein meinen Kreislauf ankurbelt, male ich mir aus, wie Charlie alle Informationen, die er besitzt, an die Presse weitergibt. Große Enthüllungsberichte im New Yorker , in der Vanity Fair und in der New York Times , die Rorys Ansehen völlig demontieren. Ich weiß, das ist weit hergeholt, aber die Fantasie verleiht mir immer noch Energie.
Ich stelle die Cola-Dose auf die Ablage und eile die Treppe hinauf, um nach einer schwarzen Hose und einem weißen Oberteil zu suchen.
Als ich vor dem Coffeshop ankomme, ist Kelly schon da. Sie wartet in ihrem Wagen. Ich öffne die Tür und steige ein.
»Bereit?«, fragt Kelly.
»Los geht’s.«
Als wir das Ende des Häuserblocks erreichen, klingelt Kellys Handy. »Jacinta«, sagt sie. »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit.« Sie hört einen Moment zu, dann flucht sie leise. »Okay, ich bin in fünf Minuten da.«
Sie legt auf und wendet den Wagen. »Sorry, meine Tochter Jacinta arbeitet gerade an diesem Projekt für ihren Kunstgeschichte-Unterricht und hat das Material für das Plakat in meinem Kofferraum liegen lassen.«
»Kein Problem«, sage ich.
»Normalerweise würde ich sie schmoren lassen, aber sie arbeitet mit einer Klassenkameradin zusammen, und die möchte ich nicht für Jacintas Nachlässigkeit bestrafen.« Sie seufzt. »Dieses Projekt hat von Anfang an genervt.«
»Worum geht es denn?«
»Um den Vergleich und die Gegenüberstellung zweier Künstler aus dem 20. Jahrhundert. Sie müssen einen Vortrag darüber halten, mit Anschauungsmaterial.« Sie verdreht die Augen. »In Berkeley wird Kunsterziehung sehr ernst genommen.«
»Wie alt ist deine Tochter?« Kelly kann nicht viel älter als Ende zwanzig sein.
»Zwölf.«
Sie sieht mich an und bemerkt mein erstauntes Gesicht. »Als ich sie bekam, war ich erst siebzehn.«
»Das muss hart gewesen sein.«
Kelly zuckt mit den Schultern. »Meine Mutter hat mich fast umgebracht, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. Aber dann hat sie sich mächtig ins Zeug gelegt.« Wir halten an einer roten Ampel, und sie sieht mich an. »Meine Mom ist mein Fels. Ohne sie könnte ich nicht arbeiten oder zur Schule gehen. Und sie und Jacinta stehen sich sehr nah. Mich schreit meine Tochter an und verdreht die Augen, wenn ich was sage, aber meiner Mutter vertraut sie sogar Geheimnisse an.«
»Mit zwei Jobs und der Schule hast du bestimmt viel um die Ohren«, sage ich.
Kelly lächelt, während die Ampel auf Grün schaltet. »Kann man wohl so sagen. Aber ich habe schon immer gearbeitet, deshalb bin ich daran gewöhnt. Im Coffeeshop habe ich die Frühschicht übernommen, tagsüber bin ich in der Schule, und nachts und an den Wochenenden arbeite ich für Tom im Catering-Service. Ich spare auf eine eigene Wohnung für Jacinta und mich. Im Moment wohnen wir bei meiner Mutter, aber das ist etwas beengt.«
Ich beiße mir auf die Lippe, denn ich möchte ihr nur zu gern sagen, dass sie sich mit dem Auszug Zeit lassen soll.
Kellys Zuhause liegt in einer Wohngegend mit kleinen, eingeschossigen Häusern, die der meiner Mutter in Pennsylvania sehr ähnelt. Wenn ich die Augen zumache, sieht es fast so aus, ich sei wieder daheim. Als wir in die Auffahrt einbiegen, sagt Kelly zu mir: »Komm mit rein und lern meine Familie kennen.«
Ich zögere, weil mir klar ist, dass ich besser im Wagen bleiben sollte. Es ist ein Unterschied, ob man eine von mindestens zwanzig schwarz-weiß gekleideten Kellnerinnen bei einem Event ist, oder ob man sich mit Namen und einem Händeschütteln bei Kellys Familie vorstellt. Aber es wäre seltsam, wenn ich mich weigern würde.
Ich bin überwältigt davon, wie sehr ich mir wünsche, hineinzugehen. Nach so vielen Tagen des Alleinseins möchte ich mit jemandem in der Küche sitzen und über Kunst reden. »Ich kenne mich ein wenig in Kunstgeschichte aus«, sage ich schließlich. »Vielleicht kann ich helfen.«
»Wir können jede Unterstützung gebrauchen«, meint Kelly.
Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Das Wohnzimmer ist nur spärlich eingerichtet, mit einer Couch, einem Liegesessel und einem Fernseher. Durch eine offene Tür ist eine kleine Küche mit Essbereich zu sehen, wo zwei Mädchen über einen Tisch gebeugt sitzen. Der schmale Flur führt vermutlich zu ein paar kleinen Schlafräumen und einem Badezimmer. Im Haus meiner Mutter herrschte dieselbe Atmosphäre, bröcklige Ecken und Kanten, aber blitzblank. Ich kann mir vorstellen, wie die drei hier abends zusammensitzen, jede auf ihrem Lieblingsplatz. Kellys Mutter im Sessel und Kelly und Jacinta mit ineinander verschränkten Beinen auf der Couch, so wie Violet und ich früher immer vor dem Fernseher saßen.
Eine ältere Frau steht an der Küchentheke und schneidet Gemüse, während auf dem Herd ein paar Töpfe dampfen. Der Duft von Rosmarin und Salbei liegt in der Luft.
Als wir eintreten, blickt eines der Mädchen auf. »Sorry, Mom.«
Kelly führt mich in die Küche und sagt: »Üben wir mal gutes Benehmen, Jacinta. Das ist Eva.«
»Schön, dich kennenzulernen«, sage ich.
Jacinta lächelt, und in ihren braunen Augen und den scharfen Konturen ihrer Wangenknochen erkenne ich Kelly wieder. »Freut mich auch, Sie kennenzulernen.«
»Und das ist ihre Freundin Mel.«
Das andere Mädchen hebt die Hand zum Gruß, wendet sich dann Kelly zu und sagt: »Danke, dass Sie zurückgekommen sind.«
Kelly drückt ihre Schulter und meint: »Nur dir zuliebe, Mel.«
Die ältere Frau an der Küchentheke schaltet sich ein. »Tut mir leid, dass ich nicht bei ihr nachgefragt habe, bevor du gegangen bist«, sagt sie mit Blick auf Jacinta. »Sie hat behauptet, sie habe alles, was sie braucht.«
Kelly wendet sich an mich. »Eva, das ist meine Mutter Marilyn.«
Ich mache mich auf alles gefasst und warte auf ein Flackern in ihren Augen, einen fragenden Blick. So wird es immer sein, wenn ich einen Fremden treffe. Aber sie lächelt und wischt sich die Hände an einem Handtuch ab, bevor sie mir die Hand schüttelt. »Schön, Sie kennenzulernen.«
Ich bin erstaunt über die Kraft des Glaubens. Wie leicht er sich von einer Person auf die andere überträgt. Kelly glaubt, ich sei Eva, und jetzt glaubt ihre Mutter es auch. Mein Blick wandert von einer zur anderen, ihre Verbundenheit ist mir so vertraut wie ein alter Lieblingsmantel, der mich umhüllt, und ich habe das Bedürfnis, mich an den Tisch zu setzen und nie wieder fortzugehen. »Erzählt mir, was ihr euch für euer Projekt ausgesucht habt«, sage ich zu den Mädchen.
Jacinta schiebt ihren Laptop zu mir rüber, und ich sehe auf dem Monitor zwei Gemälde. Jasper Johns’ False Start und Jean-Michel Basquiats Boy and Dog in a Johnnypump .
»Gute Wahl«, sage ich. »Basquiat hat in den Straßen von New York als Graffiti-Künstler angefangen und sich zu der sozialen Ungerechtigkeit geäußert, die er gesehen und am eigenen Leib erfahren hat. Er ist dafür verantwortlich, dass Graffiti zu der legitimen Kunstform geworden sind, die wir heute kennen.«
»Ich glaube, wir haben etwas darüber gelesen. Aber es vermischt sich alles irgendwie«, meint Jacinta. »Dieses Projekt ist absolut katastrophal.«
»Jacinta«, warnt Marilyn.
»Sorry, Grandma. Es ist nur … Sieh mal, wie verschieden sie sind. Es ist einfach, die Unterschiede zu erkennen. Aber inwieweit ähneln sie einander? Sie sind sich überhaupt nicht ähnlich.«
Ich setze mich auf den Stuhl neben ihnen und stütze die Ellbogen auf den Tisch. Er wackelt genauso wie der meiner Mutter früher. »Ich gebe euch einen Tipp. Beißt euch nicht an den Bildern fest. In der Kunst geht es um Emotionen. Die Lehrer interessiert, was euch das Werk sagt und wie ihr es auf euer eigenes Leben anwendet. Es ist total subjektiv, also habt Spaß damit.« Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fällt, der Duft einer gekochten Mahlzeit, der den Raum erfüllt, und das beruhigende Geräusch, wenn Marilyn hinter uns den Kühlschrank öffnet und zwischen Spüle und Herd hin- und herläuft – all das fühlt sich für mich an wie eine Reise in die Vergangenheit. Ich werde eins mit dem Raum um mich herum.
Ich verbringe weitere fünf Minuten damit, die Wissenslücken der Mädchen zu füllen, indem ich ihnen etwas über den Hintergrund der beiden Künstler, über ihre Kindheit und über die frühen Einflüsse erzähle. Schließlich erinnert Kelly mich daran, dass wir gehen müssen.
»Ich mag deine Familie«, sage ich, als wir aus der Auffahrt fahren.
Kelly lächelt. »Danke. Es ist nicht immer leicht, unter der strengen Aufsicht meiner Mutter ein Kind großzuziehen. Weil ich Jacinta so früh bekommen habe, vergisst meine Mom manchmal, dass ich Jacintas Mutter bin und nicht sie. Ich weiß ihre Hilfe zu schätzen, aber für drei ist dieses Haus einfach zu klein.«
Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ihr beengtes Leben eigentlich ein Trost und keine Last sein sollte. Ich hatte es so eilig gehabt, mich neu zu definieren, dass mir nicht bewusst war, dass ich mir damit ein Stück meines Herzens aus dem Leib schnitt. Ich ging davon aus, dass meine Familie immer da sein und auf mich warten würde. Manchmal rede ich mir ein, dass meine Mutter und Violet immer noch in unserem Haus sind und darauf warten, dass ich endlich nach Hause komme.
»Woher weißt du das alles?«, fragt mich Kelly, als wir auf die Auffahrt zur Schnellstraße einbiegen.
Ich habe fast während der ganzen Fahrt geschwiegen, weil ich immer noch an Kellys Zuhause denken muss. Wir entfernen uns immer weiter davon, und es fühlt sich an, als würde ich mich auch von mir selbst entfernen. Von der Person, die ich sein soll.
»Auf dem College war Kunstgeschichte mein Hauptfach.« Ich denke, ich riskiere nicht zu viel, wenn ich ihr das erzähle, und es fühlt sich gut an, die Wahrheit zu sagen.
Kelly scheint beeindruckt. »Du solltest dir einen Job im Museum oder im Auktionshaus suchen.«
»Es ist kompliziert.« Auf einmal habe ich Angst, ich könnte ihr alles erzählen, wenn ich weiterrede.
Kelly lacht. »Zeig mir jemanden, dessen Leben nicht kompliziert ist.« Als ich nicht reagiere, meint sie: »Kein Druck. Ich versteh schon.«
»Ich habe gerade eine schlimme Ehe hinter mir«, gebe ich schließlich zu. »Ich kann es mir nicht leisten, dass mein Mann mich findet, darum muss ich noch mal ganz von vorn anfangen, in einem Job, wo er mich niemals suchen wird.«
Das Auto fühlt sich an wie eine Schutzschicht, sicher und warm. Während wir auf der Schnellstraße nach Oakland dahinrasen, blicke ich aus dem Fenster und beobachte die Leute in den Wagen um uns herum. So viele Geheimnisse spielen sich in ihren Köpfen ab. Keiner von ihnen wird sich für meine interessieren. Und in Kellys Kopf habe ich eine Geschichte wie viele andere auch.
»Es gehört eine Menge Mut dazu, ganz von vorn anzufangen«, meint sie.
Ich antworte nicht. Nichts von dem, was ich getan habe, war heldenhaft oder mutig. Kelly greift über die Mittelkonsole und drückt meine Hand. »Ich bin froh, dass du da bist.«
Es war kein Scherz gewesen, als Kelly sagte, die Party heute Abend würde ein Riesen-Event. Sie findet in einer gigantischen Lagerhalle im Zentrum von Oakland statt, und zwölf von uns müssen alles aufbauen und servieren. In dem riesigen Raum stehen fast vierzig Tische für jeweils acht Personen. Als sie mich ihrem Chef Tom vorstellt, widmet er mir seine Aufmerksamkeit nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann ruft jemand aus der Küche nach ihm. »Danke für den Job«, sage ich, während er schon davoneilt.
»Danke, dass Sie uns aus der Klemme helfen«, ruft er noch, bevor er hinten in der Küche verschwindet. »Kelly wird Ihnen zeigen, was zu tun ist.«
Kurz darauf sind wir mit Tischdecken, Besteck und Blumenschmuck beschäftigt. »Ich warte schon seit Monaten auf dieses Event«, sagt Kelly.
»Warum?«
Ihre Augen funkeln. »Es handelt sich um ein Bankett für die Oakland A’s.« Sie sieht sich in der Halle um. »In ein paar Stunden wird es hier nur so von Profisportlern wimmeln. Hoffentlich kriege ich wenigstens ein Autogramm.« Sie zwinkert mir zu. »Oder vielleicht sogar eine Telefonnummer.«
Sie macht sich wieder an die Arbeit und lässt mich meine Servietten falten. Aber plötzlich versagen meine Finger mir den Dienst. Mein Blick wandert zum Ausgang und wieder zurück zu meinem Stapel mit Tischwäsche. Ich habe schon früher Events wie dieses organisiert, mit großen Namen an imposanten Orten. Und einer meiner ersten Anrufe galt immer der Presse. Je mehr Fotografen, desto besser.
Mit zitternden Händen falte ich die Servietten zu Ende und beginne mit dem Eindecken. Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass ich jetzt anders aussehe. Und mit der schwarzen Hose und der weißen Bluse werde ich nur eine von vielen gesichtslosen Angestellten sein, die sich durch die Menge schieben und dafür bezahlt werden, unsichtbar zu bleiben.
Nach einer Stunde auf der Party bin ich schon entspannter. Am Eingang drängeln sich die Fotografen und machen Bilder von den ankommenden Gästen. Drinnen in der Halle befinden sich nur zwei, und man kann ihnen leicht aus dem Weg gehen. Die Verkrampfung in meiner Brust löst sich wieder, und ich bahne mir einen Weg durch den riesigen Raum, biete Appetithäppchen und Servietten an. Manche Leute lächeln mich an und bedanken sich, während andere sich etwas nehmen, ohne mich dabei auch nur eines Blickes zu würdigen oder ihr Gespräch zu unterbrechen.
Ich bin erstaunt, wie körperlich anstrengend die Arbeit ist.
»Du bist ein Naturtalent«, meint Kelly, als sie mit einem Tablett voller schmutziger Gläser an mir vorbei zur Küche geht.
Ich massiere meine verspannte Schulter. »Es scheint so einfach zu sein. Die Gäste versorgen und im Hintergrund bleiben.« Ich muss an Marcy denken, die Frau vom Partyservice, den ich in New York immer gebucht habe. Ein winziges Persönchen mit der Grazie einer Jackie Kennedy und der Gemütsruhe einer Bulldogge. Sie verlangte allen, die für sie arbeiteten, Respekt ab, und sie besaß die Gabe, jedem Event Glanz zu verleihen. Ihre Mitarbeiter benahmen sich immer tadellos, aber bis heute Abend hatte ich keine Ahnung, wie schwer ihre Arbeit war. Ich frage mich, was Marcy wohl zu meinem Tod sagt und ob sie auf meiner Beerdigung für Speisen und Getränke sorgen wird.
Während ich den Gästen Muscheln im Speckmantel reiche, komme ich an einer hübschen Frau in einem engen blauen Kleid vorbei, die sich im Flüsterton mit einem gut gebauten Mann streitet, der einer der Spieler sein muss.
»Hör einfach auf damit, Donny«, zischt die Frau.
»Sag mir verdammt noch mal nicht, was ich tun soll.«
Reflexartig spannen sich meine Muskeln an, obwohl mir bewusst ist, dass er nicht mit mir spricht. Doch die Art und Weise, wie er sie anschnauzt, mit so viel Bosheit in der Stimme, lässt Furcht in mir hochsteigen, und ich bekomme Gänsehaut. Ich eile an ihnen vorbei, denn ich weiß genau, wie es ist, solcher Wut ausgesetzt zu sein. Und ich wünschte, ich könnte kehrtmachen und dieser Frau irgendwie helfen. Ich frage mich, wie viele der Anwesenden hier wissen, dass er sie so mies behandelt. Die anderen Spieler. Deren Ehefrauen und Freundinnen. Sehen sie es und schauen einfach weg, wie so viele es bei mir taten? Tuscheln sie miteinander darüber, aber tun nichts, um zu helfen? Ich fühle mich ohnmächtig vor Zorn, wenn ich sehe, wie sorglos die Leute mit den Problemen anderer umgehen, und weil ich nicht besser bin als sie. Zuschauen und nichts tun.
Mein Blick verfolgt sie, bis sie von der Menge verschluckt werden. Ich sehe seine Hand auf ihrem Rücken und weiß, wie leicht aus einer aufmerksamen Geste ein Stoß werden kann.
Dann tritt vorne im Saal ein Mann ans Mikrofon, und die Menge applaudiert. Ich stelle mich mit meinem Tablett hinten an die Wand und lausche. Die Stimme des Mannes klingt wie die eines Radiosprechers. Er berichtet über seine jahrelange Arbeit in der Stadionkabine. Aber meine Aufmerksamkeit richtet sich bald wieder auf jenes Paar, das jetzt direkt vor mir steht. Zunächst versucht er offenbar, sie mit hohlen Phrasen und Versprechungen zum Schweigen zu bringen, aber sie will nichts davon hören. Ihre Wut steigert sich, und ich spanne meine Muskeln an und warte, wie er reagiert. Mach ihn nicht wütend, flehe ich stumm. Du hast noch Zeit, das Steuer herumzureißen. Meine Handflächen sind schweißnass, und ich atme stoßweise. Ich versuche, mich zu beruhigen, indem ich mir sage, dass alle Paare mal streiten. Nur weil mein Mann mich regelmäßig geschlagen hat, heißt das nicht, dass dieser Mann sie auch schlagen wird. Trotzdem reagiert mein Körper mit Anspannung und macht sich bereit.
Der Mann am Mikrofon sorgt wieder für Gelächter, das den Streit des Paares für einen Moment überdeckt. Aber als es abebbt, durchbrechen ihre Worte die Stille.
Köpfe drehen sich zu ihnen um. Die Frau will sich entfernen, aber Donny packt sie am Arm und zieht sie zu sich heran. Die Umstehenden schnappen nach Luft.
Ich bin nahe genug, um die Furcht in den Augen der Frau zu erkennen. Nur für einen Sekundenbruchteil, aber lange genug, um zu begreifen, dass das nicht zum ersten Mal passiert. Sie weiß, was als Nächstes kommt.
Ohne zu überlegen, lasse ich mein leeres Tablett zu Boden fallen, stoße mich von der Wand ab, mache zwei große Schritte, dränge mich zwischen die beiden und tue, was niemand je für mich getan hat. Ich presse meine Hand gegen die Schulter des Mannes und sage: »Sie müssen sie loslassen.«
Überrascht lockert er seinen Griff, und die Frau reißt sich von ihm los. Sie reibt sich den Arm, sieht den Mann über meine Schulter hinweg hasserfüllt an und sagt: »Du bist ein verdammter Lügner, Donny.«
Beim Klang ihrer Stimme drehen sich noch mehr Leute um und starren auf uns drei.
»Cressida«, sagt er. »Es tut mir leid. Ich hab es nicht so gemeint.«
»Lauf mir nicht hinterher. Ruf mich nicht an! Ich bin fertig mit dir.« Sie schiebt sich an mir vorbei in Richtung Ausgang, und ich trete einen Schritt zurück.
Und dann sehe ich sie. Drei Smartphones, die auf uns gerichtet sind und Videos von uns machen.