EVA
Berkeley, Kalifornien
Dezember
Zwei Monate vor dem Absturz
Eva spulte das Band zurück und lauschte wieder Dex’ Stimme. Er weigerte sich, das zu tun, was er sollte. Ich will nicht, dass dir dasselbe passiert.
Das reichte nicht, deshalb begann sie, Buch zu führen. Sie notierte die Anzahl der produzierten Pillen sowie die Daten der Tage, an denen sie sie Dex übergab. Sie konnte es nicht ständig riskieren, Tonaufnahmen zu machen, und außerdem wusste sie nicht einmal, ob Castro diese überhaupt verwerten konnte. Es war, als würde sie versuchen, blind Auto zu fahren. Sie musste mithilfe von Instinkt und Mutmaßungen ihren Weg intuitiv erahnen, um an die nötigen Informationen zu gelangen.
Und während der ganzen Zeit bemühte sie sich, nicht darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn sie aufflog. Trotz aller Bemühungen, konzentriert zu bleiben, tauchten vor ihrem inneren Auge immer wieder Bilder auf, die sie nachts aus dem Schlaf rissen. Dann wachte sie schweißgebadet und panisch auf und war sicher, dass es niemals funktionieren würde. Dass sie bereits Bescheid wussten. Aber sie machte sich diese Angst zunutze, um noch mehr zu arbeiten. Sie hatte immer häufiger schlaflose Nächte, während sie abwartete, ob Castro zurückkam. Sie konnte ihn da draußen spüren, eine Präsenz, die sich in dunklen Ecken versteckt hielt und abwartete. Sie hoffte nur, dass sie bereit wäre, wenn er wieder auftauchte.
Unten klopfte jemand an die Tür. Sie und Liz hatten vor, bei einem besonderen Gärtnerbetrieb, den Liz im Internet gefunden hatte, einen Weihnachtsbaum zu besorgen. Eva hatte zunächst abgelehnt – nicht
einmal, sondern zweimal – und Gründe angeführt, die Liz jedoch einfach überging. Sie hatte Eva so lange bearbeitet, bis diese schließlich kapitulierte. Eva sagte sich, dass es leichter war, Liz einen Gefallen zu tun, als ihr aus dem Weg zu gehen. Liz würde nur noch einen Monat lang dort wohnen, und dann wäre sie fort, zurück in Princeton, rechtzeitig zum Sommersemester. Eva bemühte sich, das Gefühl von Trauer zu ignorieren, das sie jedes Mal überfiel, wenn sie sich Liz’ leere Wohnung vorstellte. Doch wenn alles gut ging, würde Eva kurz danach ebenfalls weg sein.
Sie eilte die Treppe hinunter, schnappte sich ihren Mantel und riss die Tür auf. Aber es war nicht Liz. Es war Dex.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie.
Er verschwendete keine Zeit damit, sie zu begrüßen, sondern kam sofort ins Haus und stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. »Was treibst du für ein Spiel?«, sagte er mit finsterer Miene.
Ein panischer Schreck durchfuhr sie bei dem Gedanken, dass irgendjemand herausgefunden hatte, was sie machte. »Ich verstehe nicht«, flüsterte sie.
»In dem Päckchen von letzter Woche fehlten hundert Pillen.«
»Was? Nein. Das muss ein Irrtum sein.«
»Verdammt noch mal, das ist kein Irrtum«, sagte Dex. »Was zum Teufel ist mit dir los, Eva? Bist du lebensmüde?«
Eva schüttelte den Kopf. Sie musste Dex aus dem Haus kriegen, bevor Liz auftauchte. »Ich bin müde«, sagte sie. »Ich kann nachts nicht schlafen. Ich muss mich verzählt haben.« Sie konnte ihm die tiefe Erschöpfung nicht erklären, die der Versuch mit sich brachte, gleichzeitig zwei völlig verschiedene Leben zu führen.
»Du musst das wieder in Ordnung bringen.«
»Das werde ich.«
»Heute noch«, verlangte er.
Nebenan hörte sie Liz’ Schritte auf der Treppe, und für einen kurzen Moment schloss Eva die Augen. »Heute geht es nicht.«
Dex sah sie ungläubig an. »Hast du etwa was Wichtigeres zu tun?«
Sie blickte auf den Mantel hinab, den sie immer noch in der Hand hielt. »Meine Nachbarin und ich wollen einen Weihnachtsbaum besorgen.«
Dex blickte an die Decke, als könne er nicht glauben, was sie da sagte, und strich sich über das Kinn. »Jesus Christus«, entfuhr es ihm. Dann sah er sie an, und seine grauen Augen durchbohrten sie regelrecht. »Ist dir eigentlich
klar, wie viel Mühe es mich gekostet hat, Fish dazu zu bringen, mich das erledigen zu lassen? Wie nahe er daran war, jemand anders loszuschicken, der keine Fragen stellen oder sich einen Dreck um einen verdammten Weihnachtsbaum scheren würde?« Seine Stimme wurde lauter, und Eva hatte Angst, dass man ihn durch die Wand hören konnte. Oder draußen auf der Veranda, wo Liz jeden Moment auftauchen konnte.
Wie aufs Stichwort hörte sie, wie Liz ihre Haustür zuschlug und abschloss.
»Du musst gehen, Dex. Ich werde mich darum kümmern. Versprochen.«
Er sah sie durchdringend an, als wollte er herausfinden, ob da vielleicht etwas Größeres im Gange war. »Dann bis morgen«, meinte er.
»Bis morgen.«
Dex riss die Tür auf und stand plötzlich Liz gegenüber, die gerade anklopfen wollte.
»Hallo«, sagte sie, und ihr Blick wanderte neugierig zwischen Dex und Eva hin und her.
Dex’ Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich hörte, ihr beide wollt einen Baum besorgen. Dann viel Spaß.« Er zwinkerte ihnen zu – wie immer spielte er seine Rolle perfekt –, sprang die Treppe hinunter und ging mit großen Schritten davon.
»Wer war das?«, fragte Liz. »Er sieht gut aus.«
Eva nahm ihre fünf Sinne zusammen und setzte ein fröhliches Gesicht auf, das zu Dex’ freundlichem Ton passte. Das Letzte, worum sie sich im Moment kümmern wollte, war ein Weihnachtsbaum. Aber wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, würde Liz jede Menge Fragen stellen. »Das war Dex«, erklärte sie.
»Seid ihr beide …?« setzte Liz an und verstummte wieder.
Eva zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. »Es ist kompliziert. Gehen wir.«
Auf der Fahrt in Richtung Norden nach Santa Rosa dachte Eva an das, was gerade vorgefallen war. Es ließ ihr keine Ruhe, wie ein nerviger kleiner Kieselstein in ihrem Schuh. Sie war wütend auf sich, weil sie so nachlässig gewesen war. Wenn sie sich um zu viele Dinge gleichzeitig kümmerte, passierten solche Fehler. Obwohl sie es nicht riskieren konnte, in irgendeiner Weise Aufmerksamkeit zu erregen, hatte sie es regelrecht herausgefordert.
Als sie die Gärtnerei erreichten, hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Nach ihrer Rückkehr nach Berkeley wollte sie die Nacht durcharbeiten.
Wieder mal. Jetzt versuchte sie, sich auf Liz zu konzentrieren, die gerade den Baum beschrieb, den sie kaufen wollten. Einen ganz speziellen Baum, den sie vor dem Haus einpflanzen wollten, anstatt ihn für ein paar Wochen in einen Ständer mit Wasser zu stellen.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön das aussehen wird«, meinte Liz, als sie zwischen den hohen majestätischen Kiefern hindurch liefen. Liz begutachtete jeden Baum, um zu sehen, ob er einen dichten Wuchs hatte, bevor sie zum nächsten ging. Sie sprach leise und schwelgte in Erinnerungen. »Mein Dad und ich haben das immer gemacht, als ich noch ein kleines Mädchen war. An jedem Ort, wo wir wohnten – und davon gab es viele –, suchten wir nach einem neuen Baum für unsere Familie.« Sie streckte die Hand aus und strich im Vorbeigehen mit den Fingerspitzen über die Kiefernnadeln. »Dad machte Weihnachten zu einem magischen Fest.«
Als Eva klein war und immer noch an die Chance glaubte, dass man sie wieder zurückholte, stellte sie sich immer vor, wie Weihnachten wohl sein würde, wenn sie bei ihrer richtigen Familie aufgewachsen wäre. Wenn ihre Mutter nicht drogenabhängig, sondern die Art von Mutter gewesen wäre, die darauf bestand, dass der Weihnachtsmann tatsächlich existierte, und die bis spät in die Nacht Spielzeug einpackte und Strümpfe füllte. Und wenn Eva dann aufwachte, würde sie zum Baum rennen und das Geschenkpapier aufreißen. Jedes Geschenk wäre größer und schöner als das vorherige, und sie bekäme immer genau das, was sie sich wünschte. Vielleicht würden ihre Großeltern und die Verwandten vorbeikommen. Vielleicht gäbe es Cousinen, andere Kinder, die das Bild von der perfekten Familie abrundeten. Aber mittlerweile hatte sich dieses Bild verändert und zu der Erkenntnis geführt, dass solche Weihnachtsfeste ohne ihre Mutter schwierig gewesen wären.
»Kommt deine Tochter in den Ferien?«, wollte Eva wissen, denn sie war sich unsicher, wie es sich anfühlen würde, Ellie kennenzulernen.
»Sie muss arbeiten«, sagte Liz. Ihr bestimmter Ton machte deutlich, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte.
Liz schlüpfte zwischen zwei Bäumen hindurch in eine andere Reihe. »Der da«, rief sie, aber ihre Worte wurden durch die dichten Kiefernnadeln ringsherum und auf dem Boden gedämpft.
Eva folgte dem Klang ihrer Stimme und entdeckte sie vor einem fast zweieinhalb Meter hohen, perfekt gewachsenen Baum. »Wie sollen wir den
nach Hause bekommen?« Eva stellte sich vor, wie sie beide mit diesem gewaltigen Gewächs auf dem Autodach den Highway entlangfuhren.
»Sie werden ihn liefern«, meinte Liz, während sie langsam um den Baum herumging und ihn von allen Seiten betrachtete. »Wir behängen ihn mit Lichterketten, damit er schön funkelt. Dann packen wir uns warm ein, setzen uns mit einer Tasse heißer Schokolade auf die Veranda und bewundern ihn. Das Beste daran ist, dass der Baum jahrelang da sein wird. Dann liegen an Neujahr keine toten Bäume mehr am Straßenrand.«
Als ob Eva jemals einen ausgedienten Weihnachtsbaum an den Straßenrand geschleift hätte. »Und was ist, wenn es regnet?«
Liz zuckte mit den Schultern. »Wetterfeste Lichterketten. Baumschmuck aus Glas und Keramik. Zu Hause in New Jersey habe ich einige Schachteln davon. Aber weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, Weihnachten ohne Baum zu feiern, habe ich ein paar Lieblingsstücke eingepackt und mitgebracht.«
Liz nahm das Schildchen, das man ihnen beim Betreten der Baumschule überreicht hatte, und hängte es an den Baum, um damit anzuzeigen, dass er ihnen gehörte. Sie entfernte ein anderes Schild, um es mitzunehmen und zum Bezahlen an der Kasse vorzulegen.
Es dämmerte schon, als sie den Parkplatz verließen und Richtung Süden nach Hause fuhren. Eva lehnte sich auf dem Sitz zurück und starrte aus dem Fenster. Der warme Schein der Nachmittagssonne verblasste, und sie dachte an die lange Nacht, die noch vor ihr lag.
Zwei Tage später wurde der Baum geliefert, die Wurzeln waren von einem Leinensack umhüllt. Er wurde mit einem großen Truck transportiert, zusammen mit der nötigen Ausrüstung, um ein Loch zu graben, das tief genug war, um ihn einzupflanzen. Liz überwachte die ganze Aktion und wählte einen Platz links neben der Veranda aus. Nachdem der Baum eingepflanzt, die Arbeiter bezahlt und mit einem Trinkgeld belohnt worden waren, öffnete Liz ihre Haustür und trug eine Schachtel mit der Aufschrift Weihnachten
heraus.
Während aus Liz’ Stereoanlage Weihnachtslieder dröhnten, machten sich die beiden an die Arbeit. Zuerst brachten sie die weiß funkelnden Lichter an, danach war der Baumschmuck an der Reihe. Liz hatte zu fast jedem Stück eine Geschichte parat. Zum Teil handelte es sich um Geschenke von Kollegen und ehemaligen Studenten, an die sie sich noch recht lebhaft und
mit Freude erinnerte. Es waren auch selbst gemachte Dinge darunter, die aus der Zeit stammten, als ihre Tochter Ellie noch ein kleines Mädchen war. »Wahrscheinlich bin ich die einzige Gastprofessorin, die jemals für einen Sechs-Monate-Job eine Schachtel mit Weihnachtsschmuck eingepackt hat«, meinte sie. »Aber ich habe noch nie Weihnachten ohne Baum gefeiert.« Mit traurigem Gesicht legte sie einen Kranz aus klumpigem Teig beiseite, auf dessen Rückseite Ellie
stand, und Eva tat so, als habe sie es nicht bemerkt.
Während sie den Baum schmückten, ertappte sich Eva bei dem Wunsch, die Zeit möge langsamer vergehen, um den Abend in die Länge zu ziehen. Sie dachte daran, wie es wohl nächstes Jahr um diese Zeit sein würde, wenn alles auf die eine oder andere Art geklärt wäre. Entweder würde sie an einem weit entfernten Ort oder tot sein. Und Liz wäre schon lange fort, ihr kurzer Aufenthalt in Berkeley nur noch eine schöne Erinnerung und Eva für sie ein weiterer Name auf einer Grußkarte.
Als das letzte Dekorationsstück aufgehängt war, verschwand Liz im Haus und kehrte kurz darauf mit einem in Seidenpapier eingewickelten Gegenstand zurück. Sie überreichte ihn Eva mit den Worten: »Ich wollte diejenige sein, die dir deinen ersten Weihnachtsschmuck schenkt. Ich hoffe, du wirst von jetzt an, egal wo du bist oder hingehst, immer an mich denken, wenn du ihn anschaust.«
Eva wickelte das Geschenk aus, und ein Singvogel aus mundgeblasenem Glas kam zum Vorschein.
»Der Hüttensänger ist der Vogel des Glücks«, erklärte Liz. »Das ist mein Weihnachtswunsch für dich.«
Eva strich mit dem Finger über die glatte Oberfläche. Der Vogel war erstaunlich detailgetreu gearbeitet, in wirbelndem Dunkelblau und Violett, das an manchen Stellen fast in Schneeweiß überging. »Liz«, flüsterte sie. »Das ist unglaublich. Vielen Dank.« Sie beugte sich hinab und umarmte Liz.
Liz zog Eva an sich und drückte sie so fest, wie Eva es sich von ihrer Mutter gewünscht hätte. Sie brach fast zusammen, so stark war ihre Sehnsucht, gesehen zu werden. Sich öffentlich zu zeigen, anstatt sich dauernd verstecken und alle Worte und Handlungen abwägen zu müssen, um nicht entdeckt zu werden. Das war alles zu viel, um es alleine durchzustehen, und Liz gehörte zu der Sorte Mensch, die Eva aus dieser Situation heraushelfen konnte. Die Worte lagen ihr auf der Zunge, bereit, jeden Moment hervorzubrechen, aber Eva schluckte sie hinunter. »Ich habe
gar nichts für dich.«
»Deine Freundschaft ist mir Geschenk genug«, meinte Liz. »Lass uns die Lichter anmachen und eine Tasse heiße Schokolade trinken.«
Sie trugen Stühle aus Liz’ Esszimmer auf die Veranda, setzten sich und legten die Füße auf das Geländer. Die Lichter am Baum erhellten die dunkle Nacht und hüllten mit ihrem Schein alles andere in dunkle Schatten.
»Ich habe herausgefunden, dass meine Mutter tot ist«, sagte Eva. Ihre Stimme war nur ein Flüstern in der Dunkelheit. Sie konnte Liz zwar nicht die ganze Wahrheit über ihr Leben verraten, aber dieses Detail durfte sie ruhig wissen. »Sie starb, als ich acht war.«
Liz drehte sich auf ihrem Stuhl zur Seite und sah Eva an. »Das tut mir so leid.«
Eva zuckte mit den Schultern und versuchte, sich gegen den Schmerz zu wappnen, den sie angesichts dieser Erkenntnis immer noch spürte. »Ich versuche mir einzureden, dass es besser ist. Einfacher. Wenigstens hatte sie einen guten Grund, warum sie mich nicht gefunden hat.«
»So kann man es auch sehen«, meinte Liz und wandte sich wieder dem Baum zu. »Wirst du versuchen, deine Großeltern zu finden?«
Eva dachte daran, wie sehr sie die Entdeckung, dass ihre Mutter tot war, mitgenommen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Kraft hatte, noch einmal enttäuscht zu werden. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Es ist leichter, nicht zu wissen, wo sie sind.«
»Es ist so lange leichter, bis du deine Meinung änderst«, meinte Liz. »So ist das Leben. Wenn du dazu bereit bist, machst du dich vielleicht wieder auf die Suche.«
Mit jedem Gespräch, mit jeder Vertraulichkeit verkürzte Eva die Distanz zwischen sich und Liz, gewährte ihr immer mehr Einblicke in ihr wahres Ich. Es war irgendwie beruhigend, einige ihrer Geheimnisse zu lüften. Zu wissen, dass jemand die Bruchstücke ihres alten Lebens aufbewahren und sie als diejenige in Erinnerung behalten würde, die sie gewesen war – selbst wenn sie schon längst ein neues Leben begonnen hatte.
In der Ferne läuteten die Glocken des Campanile zur vollen Stunde. Als das Läuten aufgehört hatte, sagte Liz: »Dieser Mann neulich. Erzähl mir mehr über ihn.«
Eva zögerte, denn sie war es so leid, zu lügen. »Da gibt es nichts zu erzählen. Er ist nur ein Freund.«
Liz ließ Evas Erklärung kurz sacken und fragte dann: »Bist du bei ihm in
Sicherheit?«
Eva warf ihr einen kurzen Blick zu. »Natürlich. Warum?«
Liz zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, ich hätte Geschrei gehört. Und sein Gesicht, für einen kurzen Moment …« Sie führte den Satz nicht zu Ende. »Mein Ex-Mann war auch so. Er konnte manchmal regelrecht ausrasten, und im nächsten Moment hatte es wieder den Anschein, als würde er sein wahres Ich hinter einer Maske verbergen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dein Freund hat etwas in mir ausgelöst, das ist alles.«
Eva überlegte, ob sie Liz eine Version der Wahrheit erzählen sollte. Dass Dex ein Kollege war. Dass sie bei der Arbeit einen Fehler gemacht und ihn dadurch gegenüber ihrem Chef in eine üble Lage gebracht hatte. Aber mit Halbwahrheiten war das so eine Sache. Sie führten rasch zu weiteren Enthüllungen und entwickelten bald eine Eigendynamik.
Liz wandte sich wieder Eva zu, sah sie an und wartete auf eine Erklärung.
»Wir hatten uns zum Mittagessen verabredet, und ich habe es vergessen«, sagte Eva schließlich. »Er war sauer. Aber jetzt ist alles wieder okay. Mir geht’s gut.«
Liz hielt kurz inne, so als würde sie Evas Geschichte abwägen und auf die restliche Erklärung warten. Aber Eva schwieg, und sie spürte, wie sich Liz’ Neugier und Sorge allmählich in Schmerz und Enttäuschung verwandelten, weil Eva ihr nicht die Wahrheit anvertraute. »Ich bin froh, das zu hören«, sagte Liz schließlich.
Während Eva auf den Baum starrte, ging eine Veränderung in ihr vor. Etwas Leuchtendes, Verletzliches und Gefährliches stieg an die Oberfläche und durchbrach ihre harte Schale. Und ihr wurde bewusst, dass Liz’ Zuneigung erschreckender war als alles, was sie je erlebt hatte. Denn sie wusste, dass sie Liz nicht für immer an ihrer Seite haben würde.
Noch lange nachdem Liz zu Bett gegangen war, saß Eva auf der Veranda und sah zu, wie nach und nach die Beleuchtung in den Häusern entlang der Straße verlosch. Sie wollte die Lichter am Baum noch nicht ausmachen und ins Haus gehen. Noch nicht
, flüsterte eine innere Stimme ihr zu. Sie fühlte sich unsichtbar, wie der Geist ihres früheren Ichs, der sie in ihrem jetzigen Leben aufsuchte, um sie an einen besseren Ort zu führen.
Hinter dem beleuchteten Baum vernahm Eva leise Schritte. Sie setzte sich aufrecht hin, schärfte ihre Sinne und dachte sofort an Dex. An Fish. Daran, dass sie es erst wissen würde, wenn es schon zu spät war.
Auf dem Weg zum Haus tauchte ein Mann auf. Die hellen Lichter des Baums warfen einen dunklen Schatten auf ihn, und Eva spähte in die Dunkelheit, als er auf sie zukam. Agent Castro trat in den Lichtkegel des Baums und lehnte sich an das Geländer der Veranda.
Eva blieb sitzen und wartete. All die Wochen der Vorbereitung, der Organisation, der Planung. Und nun war der Moment gekommen.
Sie warf einen Blick auf Liz’ dunkle Fenster und sagte: »Wie lange warten Sie schon?«
»Schon lange«, erwiderte er. »Jahrelang.«
Eva betrachtete sein Gesicht, die dunklen Schatten unterhalb der Wangenknochen, und sie erkannte, dass sie gar nicht so verschieden waren. Beide waren sie erschöpft, weil sie versuchten, eine Fassade aufrechtzuerhalten, die schwer in den Griff zu kriegen war.
»Was können Sie mir über einen Mann namens Felix Argyros sagen?«, fragte er mit leiser Stimme.
Evas Blick ruhte auf dem Baum. »Ich habe diesen Namen noch nie gehört.« Das stimmte tatsächlich.
»Sie kennen ihn vermutlich unter dem Namen Fish.«
Sie antwortete nicht. Solange sie nichts sagte, konnte sie in diesem neutralen Raum bleiben, wo sie weder Fish verraten noch einen DEA
-Ermittler anlügen musste.
»Sie sind nicht meine Zielperson, Eva«, fuhr er fort. »Wenn Sie mir helfen, kann ich Sie beschützen.«
Eva stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus. Wenn Fish wüsste, dass Castro gerade bei ihr war, würde Eva das Ende der Woche nicht mehr erleben.
»Sie müssen eine Entscheidung treffen«, sagte er.
»Ich dachte, die Ermittlungsgruppe wurde aufgelöst.« Falls Castro überrascht war, dass sie davon wusste, ließ er sich nichts anmerken.
»Sagen wir mal, wir haben die Ermittlungen zurückgeschraubt. Sie haben sich ja zu einem ziemlichen Sportfan entwickelt.«
Obwohl Eva den Blick nicht von dem Baum abwandte, war ihre ganze Aufmerksamkeit auf Castro gerichtet. Sie achtete genau auf seine Körperhaltung und seine Körpersprache. Sie war überzeugt, dass er nichts gegen sie in der Hand hatte, sonst hätte er sie schon längst verhaftet und würde nicht mitten in der Nacht auf ihrer Veranda auftauchen und Fragen stellen. »Ich bin nur eine Kellnerin, die Football und Basketball mag«, erklärte sie.
»Wollen Sie wissen, was ich glaube?«, fragte er.
»Nicht unbedingt.«
»Ich glaube, Sie wollen aussteigen.« Obwohl er mit leiser Stimme sprach, trafen seine Worte sie bis ins Mark. Wie gut er sie schon kannte!
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und er lächelte, als ob sie seine Aussage damit bestätigt hätte. »Die Zeit wird knapp«, sagte er, stieß sich vom Geländer ab und stellte sich aufrecht hin. »Ich kann diese Unterhaltung entweder geheim halten oder jemandem innerhalb der Abteilung verraten, dass wir miteinander gesprochen haben. Wie, glauben Sie, würde das bei Fish ankommen?« Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Selbst wenn Sie ihm zuerst davon erzählen, wird er Zweifel haben. Und nach meiner Erfahrung schaffen Zweifel immer Probleme.«
Eva starrte ihn an. Ihr blieb nur noch eine Möglichkeit. »Warum ich?«, fragte sie.
Castro sah ihr in die Augen und antwortete: »Weil ich Ihnen helfen möchte.«
Er legte seine Visitenkarte auf das Geländer, ging durch den Vorgarten und verschwand so leise, wie er gekommen war.