EVA
Berkeley, Kalifornien
Januar
Sieben Wochen vor dem Absturz
Ein kalter Januarwind und ein Entschluss – so oder so, es stand fest. Entweder würde Agent Castro ihr bei der Flucht helfen, oder sie würde es auf eigene Faust versuchen. Sie trafen sich auf einem verlassenen Strandparkplatz in Santa Cruz, eineinhalb Stunden südlich von San Francisco. Eva hoffte, dass Fishs Arm nicht so weit reichte. Sie war langsam gefahren, den Blick ständig auf den Rückspiegel gerichtet, um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Die Straße, die sich durch die niedrigen Hügel schlängelte und den Highway 101 von der Küste trennte, war nur zweispurig. Mehrmals fuhr sie an die Seite und ließ die Autos hinter ihr vorbeifahren. Niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Kein Wagen machte kehrt. Als sie neben Agent Castros Auto hielt, war sie überzeugt, dass sie allein waren.
Wortlos gingen sie die Treppe zum Strand hinunter. Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht, und das Schlagen der Wellen ließ sie erzittern. Sie fragte sich, wie sie beide wohl auf Außenstehende wirkten, während sie nun mitten im Winter am Strand entlangliefen. Würden die Leute sie für ein Paar halten, das einen Streit ausdiskutierte? Oder für Geschwister, die hergekommen waren, um die sterblichen Überreste eines geliebten Menschen zu verstreuen? Sie war sich fast sicher, dass sie in ihnen niemals eine Drogendealerin und einen DEA
-Ermittler vermuten würden.
»Sie haben die richtige Entscheidung getroffen«, sagte Castro.
Eva starrte aufs Meer hinaus. Die salzige Gischt benetzte ihr Gesicht. Das Wort Entscheidung
störte sie. Es klang, als müsste sie zwischen einem Sofa
und einem Stuhl wählen, über verschiedene Möglichkeiten nachdenken und das Für und Wider abwägen.
Sie hatte das Gefühl, dass die Zeit langsamer verging und sie dazu zwang, den Moment zu erkennen, der das Vorher vom Nachher trennte. Die Folgen des letzten sauberen Bruchs, den sie erlebt hatte, reichten bis weit in die Zukunft hinein und hinterließen überall ihre Spuren. »Ich habe noch gar nichts entschieden. Aber ich will mir gerne anhören, was Sie zu sagen haben«, erklärte sie schließlich.
Castro schob seine Hände in die Taschen und blinzelte in den Wind. »Wir verfolgen Felix Argyros schon lange. Wie Sie sicher wissen, ist er in der Gegend um San Francisco sehr einflussreich. Und er ist gefährlich. Wir glauben, dass er in mindestens drei Mordfälle verwickelt ist.«
Eva sah ihn scharf an. »Wenn Sie mir Angst machen wollen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Ich weiß, was er mir antun kann, deshalb werde ich mich auf nichts einlassen, bis Sie mir Schutz bieten können.«
Castros braune Augen sahen sie forschend an. Eva hielt seinem Blick stand, um ihm zu zeigen, dass sie entschlossen war, es auf ihre Weise zu machen. Sie hatte etwas, das er wollte. Und wenn er es unbedingt wollte, würde er auf ihre Bedingungen eingehen.
»Natürlich werden wir Ihnen Schutz bieten. Wir werden Sie rund um die Uhr bewachen, bis Sie ausgesagt haben, und ich wurde angewiesen, Ihnen volle Immunität anzubieten.«
Eva lachte und blickte den Strand entlang, wo in der Ferne eine einzelne Frau für einen Golden Retriever einen Stock ins Meer warf. »›Immunität‹ ist ein nichtssagendes Wort. Ich rede von Zeugenschutz. Geben Sie mir eine neue Identität, damit ich mir woanders ein neues Leben aufbauen kann.«
Castro atmete tief aus und überlegte. »Ich kann nachfragen«, sagte er schließlich. »Aber ich kann nichts versprechen. Es ist nicht so üblich, wie Sie glauben, und wegen Leuten von Fishs Kaliber machen wir das normalerweise nicht.«
Eva war klar, dass er das sagen musste, um die Sache für seine Chefs einfacher und kostengünstiger zu machen. Aber davon wollte sie sich nicht abschrecken lassen. »Ich weiß, wie schwer es ist, einen Typen wie Fish zu überführen. Ich weiß, wie wahrscheinlich es ist, dass er aufgrund eines Formfehlers wieder freikommt. Und wenn das geschieht – was glauben Sie wohl, passiert dann mit mir? Ihre Immunität hilft mir dann auch nicht.«
»Verstehe«, sagte Castro. »Ich kann Ihnen lediglich versichern, dass wir
wissen, was wir tun.«
»So wie Sie wussten, was Sie taten, als sie Brittany ins Spiel brachten?«
»Das mit Brittany war ein Fehler«, gestand er. »Aber es war kein komplettes Desaster, weil sie uns zu Ihnen geführt hat.« Er kehrte dem Meer den Rücken zu und sah Eva an. Sein Mantel blähte sich auf wie ein Fallschirm. »Sie müssen uns vertrauen.«
Eva hätte beinahe laut losgelacht. Anderen Menschen zu vertrauen hatte sich für sie noch nie ausgezahlt, und diesmal wäre es nicht anders. »Wenn Sie mir keinen Zeugenschutz bieten können, kann ich Ihnen nicht helfen.«
Castros Blick wurde sanfter, und sie bemerkte die Lachfältchen um seine Augen. Irgendwo musste irgendjemand wissen, wie er aussah, wenn er glücklich war. Sie fragte sich, wer das wohl war und wie es sich anfühlte, einen Mann zu lieben, der seine Zeit damit verbrachte, Schatten nachzujagen.
»Sehen Sie«, sagte er, »ich mache diesen Job schon ziemlich lange, und ich habe viel erlebt. Von all den Leuten, die ich in diesem Geschäft kenne, sind Sie die Einzige, die da nicht reinpasst.«
Evas Blick wanderte an ihm vorbei über die wogenden, schaumgekrönten Wellen zum Horizont, wohl wissend, dass es nur eine Illusion war, dass er immer außer Reichweite bleiben würde, egal wie weit man reiste und wie sehr man sich auch bemühte, dorthin zu gelangen. »Sie wissen gar nichts von mir«, sagte sie.
»Ich weiß, dass Sie im Heim aufgewachsen sind und was in Berkeley passiert ist. Und ich weiß, dass Sie nicht als Einzige hätten bestraft werden sollen.«
Sie verkniff sich eine Bemerkung, denn sie war wütend auf ihn, weil er ihre Geheimnisse kannte. Vor Jahren, als es ihr noch hätte helfen können, hatte sie jemanden gebraucht, der das aussprach. Aber jetzt waren es nur leere Worte.
»Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch, der lediglich gezwungen war, eine unmögliche Entscheidung zu treffen«, fuhr er fort. »Helfen Sie mir, dann helfe ich Ihnen.«
Eva starrte ihn an und versuchte, ihm weiszumachen, dass sie immer noch überlegte. Sie kannte das Leben gut genug, um zu wissen, dass Menschen sich nicht mehr um einen kümmerten, sobald man ihrem Anliegen zugestimmt hatte – egal, ob es um die Herstellung von Drogen oder die Weitergabe von Beweismaterial ging.
»Wenn Sie nicht kooperieren«, fuhr Castro fort, »werden wir Sie strafrechtlich verfolgen. Ihre Immunität wird aufgehoben, und wenn das geschieht, kann ich nichts mehr für Sie tun. Dann werden Sie für sehr lange Zeit im Gefängnis landen.«
Nach Evas Ansicht hatte sie genug Informationen für Castro, aber sobald sie ihm diese aushändigte, müsste er ihr nichts mehr versprechen. »Wenn Sie mir geben, was ich verlange, können wir uns vielleicht einigen«, sagte sie.
»Ich werde mein Bestes tun.«
Eva drückte die Arme fest an ihren Körper und sagte: »Ich nehme an, Sie werden mich weiter verfolgen. Ich muss Sie bitten, die Sache nicht zu erschweren. Anscheinend halten Sie Fish für einen Mittelklassedealer. Aber wenn er herausfindet, dass wir miteinander gesprochen haben, wird er mich umbringen. Und dann haben Sie gar nichts in der Hand.«
Die Rückfahrt nach Berkeley registrierte Eva kaum, denn in Gedanken ging sie ihre Möglichkeiten und ihre nächsten Schritte durch. Ungeachtet dessen, was Castro möglicherweise für sie tun konnte, musste sie darauf vorbereitet sein, alles hinter sich zu lassen – Berkeley, ihr Haus, ihren Job. Und Liz.
Es war schon dunkel, als Eva nach Hause kam. Die Lichter in Liz’ Wohnung waren warm und einladend. Sie hielt inne und berührte die zarten Zweige ihres Baumes, der nun nicht mehr geschmückt war und auf das nächste Weihnachtsfest wartete, das es nie geben würde. Würde Liz annehmen, dass Eva ihn allein schmückte? Würde sie versuchen, Eva anzurufen, und sich wundern, warum sie nicht ans Telefon ging? Würde sie zurückkommen, um Freunde zu besuchen, und feststellen, dass Evas Wohnung leer war? Eva wusste, wie sich das anfühlte, all die unbeantworteten Fragen, die einem nicht aus dem Kopf gingen und die einen in stillen Momenten quälten. Warum?
Als ob sie ihre Freundin herbeigezaubert hätte, erschien Liz in der Tür und spähte hinaus zu Eva, die immer noch neben dem Baum stand. »Was machst du denn da draußen?«
Eva sah sie an, umrahmt von dem hellen Lichtkegel, und antwortete nicht.
Liz machte einen Schritt hinaus auf die Veranda, und ihr Lächeln verschwand, als sie Evas Gesicht sah. »Bist du okay? Du siehst
mitgenommen aus.«
»Ich bin nur müde.«
Liz schien etwas sagen zu wollen, aber sie zögerte noch. Schließlich fragte sie: »Wann wirst du mir endlich erzählen, was wirklich mit dir los ist? Immer, wenn ich dich etwas frage, bleibst du mir die Antwort schuldig. Oder du erzählst mir, dass du müde bist. Aber das ist es nicht. Warum willst du nicht mit mir sprechen?«
»Ich spreche doch mit dir. Andauernd.«
Liz schüttelte den Kopf. »Nein. Du erzählst mir von Dingen, die bereits passiert sind. Die schon vorbei sind. Aber ich weiß fast nichts über dein alltägliches Leben. Womit du dich herumschlägst. Was dich beunruhigt. Warum du nicht schlafen kannst. Wie aus dem Nichts taucht ein Mann auf und streitet sich mit dir. Danach höre und sehe ich nichts mehr von ihm.« Sie holte tief Luft. »Nein, Eva. Du sprichst nicht mit mir. Du vertraust mir nicht mal.«
»Du interpretierst zu viel in die Dinge hinein«, sagte Eva. Sie hasste ihren Tonfall. Herablassend. Abweisend. Dabei hätte sie nichts lieber getan, als sich Liz vor die Füße zu werfen und sie um Hilfe zu bitten.
Liz’ Stimme klang leise, als sie auf die Veranda hinaustrat und die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich dachte, wir wären Freundinnen. Aber du lügst mich die ganze Zeit an. Wo du hingehst. Was du tust. Mit wem du deine Zeit verbringst. Ich bin nicht dumm. Ich passe auf. Manchmal höre ich dich nachts am Telefon streiten. Mit diesem Typ?« Liz lachte leise. »Keine Sorge, du musst mir nicht antworten. Ich weiß jetzt schon, dass du mir nicht die Wahrheit sagen wirst.«
Am liebsten hätte Eva ihr die Wahrheit entgegengeschleudert wie Gewehrkugeln und Liz’ Überzeugung zunichtegemacht, dass sie ertragen könnte, was Eva verbarg. Sie stellte sich vor, wie sie die Regale in ihrer Küche beiseiteschob und Liz in ihr Kellerlabor führte. Hier stelle ich die Drogen her
, würde sie sagen. Auf dem Campingkocher da drüben braue ich sie zusammen, und die Hälfte davon gebe ich einem unglaublich Furcht einflößenden Mann, der mich töten würde, wenn ich damit aufhöre.
Eva musste an Castros Worte denken. Von all den Leuten, die ich in diesem Geschäft kenne, sind Sie die Einzige, die da nicht reinpasst.
»Ich lebe in einer Welt, in die ich nicht hingehöre«, sagte sie schließlich.
Liz machte einen Schritt auf sie zu, aber Eva wich zurück, um Abstand zu wahren. »Warum sagst du so was?«, fragte Liz. »Sieh doch, was du trotz
aller Schwierigkeiten geschafft hast.«
»Und da haben wir’s«, sagte Eva leise. Wovor sie ihr ganzes Leben lang davongelaufen war. Letztendlich betrachteten alle – sogar Liz – ihre Erfolge und Misserfolge durch die Brille des Mitleids, das sie für sie empfanden.
Ein Druck baute sich in Eva auf, all die Dinge kamen hoch, die sie sagen wollte, aber nicht konnte. Sie presste die Finger an ihre Schläfen und machte einen Schritt auf ihre Tür zu. Sie konnte Liz’ Blick nicht mehr ertragen, sie musste sich ins Haus flüchten, wo sie wieder klar denken konnte, wo sie sich nicht verstecken und die Dinge verschleiern musste. »Ich kann nicht. Tut mir leid.«
Liz streckte die Hand aus, um den Abstand zwischen ihnen zu verkürzen, und legte sie auf Evas Arm. »Du kannst nicht vor dem davonlaufen, was dich verletzt. Du kannst es nicht begraben und hoffen, dass es verschwindet. Du musst dich ihm stellen. Blicke ihm entgegen. Sprich darüber.«
Eva zog ihren Arm weg. »Bitte, hör auf. Das lässt sich nicht mit ein paar aufmunternden Worten über Ehrlichkeit und Selbstreflexion wieder in Ordnung bringen.«
Liz zuckte zurück, aber ihre Augen glühten, und ihre Stimme wurde lauter. »Dann erzähl es mir. Was auch immer es ist. Sag es mir einfach.«
Eva schwieg erneut. Die Worte waren einfach zu schwerwiegend, um sie auszusprechen. Sie blickte durch Liz’ Fenster in deren Wohnzimmer und dachte daran, wie sie das erste Mal dort gesessen hatte voller Angst, dass ihre ganze Welt wegen Castro zusammenbrechen könnte. Sie hatte nicht begriffen, dass Liz diejenige sein könnte, die alles zerpflücken würde. Die Evas Mauern so weit niederriss, dass selbst in die dunkelsten Ecken Licht fiel. Die dafür sorgte, dass Eva sich wieder nach etwas mehr sehnte. Die sie zwang, ein besserer Mensch sein zu wollen.
Als klar war, dass Eva nichts mehr sagen wollte, zog Liz sich zurück. Eva schloss ihre Tür auf und ging ins Haus. Aber als sie die Tür hinter sich zumachte und abschloss, drang Liz’ Stimme von der Veranda zu ihr herein. »Wenn du bereit bist zu reden, werde ich da sein.«
Eva ging zur Couch, kauerte sich zusammen und wünschte, sie wäre schon fort. Dass dieser Teil ihres Lebens schon abgehakt wäre.