EVA
Berkeley, Kalifornien
Februar
Eine Woche vor dem Absturz
Jeremys SMS kam fünfzehn Minuten bevor Eva losgehen wollte, um sich bei einem Basketballspiel mit Dex zu treffen.
Ich schaffe meine Seminare nicht. Am Dienstag ist ein Referat fällig, und ich brauche was, damit ich eine Eins bekomme. Bitte.
Von all ihren Kunden war Jeremy der hartnäckigste. Er bedrängte sie bereits seit Wochen, ihm etwas zu verkaufen. Sie hatte es geschafft, ihn hinzuhalten, indem sie ihm anbot, den Kontakt mit jemand anderem herzustellen. Aber er hatte abgelehnt. Er wollte nur sie. Er vertraute ihr. Früher hätte sie wegen seiner Anhänglichkeit die Augen verdreht, aber heute wusste sie, dass es klug von ihm war, vorsichtig zu sein.
Sie schrieb zurück.
Ich besuche das Basketballspiel im Haas Pavillion. Wir treffen uns zum Ende der Halbzeit am Eingang von Abschnitt zehn.
Damit blieb ihr genügend Zeit, Dex im Clubraum die Pillen zu übergeben und anschließend Jeremy zu suchen. Sie nahm zwei Pillen, die sie aussortiert hatte – weil sie eine seltsame Form hatten oder zerbrochen waren –, und steckte sie in einen weißen Umschlag. Sie waren zwar nicht schön, aber sie würden ihren Zweck erfüllen.
Zwei Tage zuvor war Castro kurz in der Tiefkühlabteilung des Supermarkts aufgetaucht, hatte ihr Zeit und Ort für ein Treffen genannt und erklärt, dass sie in Kürze eine Antwort bekommen würde. Die Stunden und Minuten vergingen und trugen sie einem ungewissen Ausgang entgegen. Sie sah sich im Haus um und fragte sich, ob sie es wohl vermissen würde. Ihr Blick schweifte über die vertrauten Wände des Wohnzimmers. Da war ihr Lieblingssessel, in dem sie millionenmal gesessen hatte, um Fernsehen zu schauen oder zu lesen. Die Kunstdrucke an der Wand, die sie ausgesucht hatte, um ein wenig Farbe in ihr düsteres, einsames Leben zu bringen. Ihre alten Lehrbücher, die einzige Erinnerung an das, was sie einmal hatte werden wollen. Und dennoch ergaben diese Stücke nichts Zusammenhängendes. Während sie so dastand, empfand Eva eine gewisse Klarheit, als ob sie gar nicht mehr hier wäre, und sie erkannte, dass nichts davon wichtig war. Sie würde nichts vermissen. Die einzige Person, die sie gerngehabt hatte, war schon fort.
Sie schnappte sich ihren Mantel, steckte das Päckchen mit den Pillen für Dex in die eine und den Umschlag für Jeremy in die andere Innentasche. Dann verstaute sie das Aufnahmegerät, auf dem nach heute Abend vermutlich wieder nur sinnloses Geschwätz zu hören sein würde, in ihrer Handtasche. Dann schlüpfte sie aus der Tür und versuchte, Liz’ leere Fenster zu ignorieren. Ihre Schritte auf der Veranda waren lauter als sonst. In ihnen hallte die Leere wider.
Sie ging die paar Blocks zum Campus zu Fuß, überquerte die große Rasenfläche, die zur Bibliothek führte, und folgte einem dunklen, gewundenen Weg, der beim Sather Gate endete. Studenten und Fans strömten zum Haas Pavillion. Eva schob sich durch die Menge, betrat die Arena und ging direkt zu ihrem Platz. Sie schenkte den Leuten ringsherum ein kurzes Lächeln. Die Gesichter waren ihr vertraut, weil sie mittlerweile sämtliche Heimspiele besuchte. Aber sie sprach mit niemandem. Stattdessen starrte sie hinunter auf das Spielfeld, wo das Team sich gerade aufwärmte, und ließ sich vom Lärm der Arena einhüllen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie weit sie schon vom Kurs abgekommen war, wie ein Boot, das von der Strömung mitgerissen wurde. Sie war weit von ihrem Ausgangspunkt entfernt. Verloren auf See, ohne Hoffnung, jemals wieder vertrautes Festland zu betreten.
Dex tauchte erst in der Mitte der ersten Halbzeit auf. »Sorry, ich bin zu spät«, sagte er und glitt auf seinen Sitz. »Hab ich was verpasst?«
Eva ignorierte seinen Scherz und blickte hinunter zum Studentenbereich, wo es nur Stehplätze gab und wo die Zuschauer auf und ab hüpften und das gegnerische Team verspotteten. »Als Studentin war ich bei keinem einzigen Basketballspiel«, erklärte Eva. »Ich habe nur gelernt und Seminare besucht. Außer am Ende. Mit Wade.«
Dex nickte nur und sagte nichts.
»Ich habe immer gedacht, ich würde in Berkeley bleiben. Vielleicht, um zu unterrichten. Oder um in einem der Labors zu arbeiten. Das war der einzige Ort, wo ich mich wie zu Hause fühlte.« Auf dem Feld unter ihnen hatte ein Spieler einen Rebound gefangen und einen schnellen Gegenstoß auf den gegnerischen Korb ausgeführt, und die Menge jubelte. Aber Eva fuhr fort: »Ich führe eine umgedrehte Version des Lebens, das ich eigentlich haben wollte. Ich lebe hier in Berkeley. Ich habe Geld und ein Zuhause. Ich habe alles, was ich mir gewünscht habe, und trotzdem fühlt sich alles falsch an.«
Dex änderte seine Sitzposition, damit er sie ansehen konnte. »Meinst du, alle anderen haben es besser?« Er deutete auf einen älteren Herrn am Ende ihrer Sitzreihe, dessen Sweatshirt an den Bündchen ausgefranst war und der tiefe Ringe unter den Augen hatte. »Sieh dir diesen Typ an. Ich wette, er arbeitet irgendwo in der City als Buchhalter. Bei Tagesanbruch nimmt er die U-Bahn und drängt sich im Zug in die hinterste Ecke. Sein Frühstück isst er am Schreibtisch. Er kriecht seinem Chef in den Arsch und nimmt seine zwei Wochen Sommerurlaub. Er verdient kaum genug Geld, um sich seine Basketball-Dauerkarte leisten zu können. Wäre dir dieses Leben lieber? Da ist unseres doch eindeutig besser.«
Am liebsten hätte sie ihn erwürgt. Besser? Wenn man sich verstecken und ständig auf der Hut sein musste? Wie viele von diesen Leuten hier mussten schon ständig Angst haben, verhaftet oder wegen eines Fehlers umgebracht zu werden?
Sie war nervös, weil sie ein Leben führte, das allmählich ins Leere lief. Aber je länger es dauerte, desto unsicherer wurde sie, ob Castro sie da tatsächlich herausholen konnte. Sie brauchte einen Plan B, eine Möglichkeit, um im Notfall selbst unterzutauchen.
Als der Geräuschpegel in der Arena anstieg, beugte sich Eva näher zu Dex und sprach leiser, damit ihr Rekorder ihre Worte nicht aufnahm. »Eine meiner Kundinnen ist eine Studentin, die einen falschen Ausweis haben möchte«, sagte sie und hoffte, dass Dex das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Sie ist neunzehn und möchte die Clubs in San Francisco besuchen. Kennst du jemanden, der ihr einen machen kann?«
Es gab kein Anzeichen dafür, dass Dex ihr die Geschichte nicht glaubte. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, neigte den Kopf zur Seite und sah sie an. »Früher kannte ich jemanden in Oakland. Aber das ist schon Jahre her. Damals konnte man die Fotos einfach austauschen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber heutzutage? Am besten sucht sie sich ein Mädchen, das so aussieht wie sie und das bereit ist, ihr gegen Bezahlung ihren Führerschein zu überlassen, um ihn dann als gestohlen zu melden. So was passiert ständig.«
Eva blickte aufs Spielfeld und tat so, als würde sie sich für das Geschehen dort interessieren, damit Dex die Niedergeschlagenheit in ihrem Blick nicht sehen konnte. »Das habe ich ihr auch gesagt«, meinte sie. »Aber du weißt ja, wie diese College-Kids sind. Mit neunzehn kommen einem zwei Jahre wie eine Ewigkeit vor.«
Ein Signal ertönte und kündigte ein Time-out an. Aus dem Lautsprecher dröhnte Musik.
Evas Stimme wurde wieder lauter. »Was ist eigentlich mit deinem Freund passiert, der Brittany empfohlen hat?«
Dex starrte auf die Cheerleader, die auf dem Spielfeld unter ihnen tanzten, und sagte: »Man hat sich um ihn gekümmert. Es war nicht meine Entscheidung, aber ich kann nicht sagen, dass es mir leidtut.«
»Bist du dir sicher, dass er an den Ermittlungen beteiligt war?«
Dex schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle.«
»Es kommt mir ziemlich gefährlich vor, den Typen loszuwerden, der Brittanys Kontaktmann war«, meinte sie. »Wird das nicht wieder die Polizei auf den Plan rufen?«
Dex lächelte verkrampft. »Sie werden ihn niemals finden.«
Eva verspürte plötzlich eine innere Leere, und sie wartete darauf, dass er fortfuhr.
»Fish besitzt eine Lagerhalle in Oakland. Irgend so ein Import-Export-Scheiß. Im Keller befindet sich eine Verbrennungsanlage.«
Eva schluckte trocken und bemühte sich, seinem Blick standzuhalten. Sie nickte und hoffte, dass ihr Aufnahmegerät diese Informationen festhielt und nicht nur die aufgeblasene Musik von Daft Punk. Unter ihnen wirbelten und tanzten die Cheerleader mit wehenden Haaren herum und bewegten Arme und Beine immer schneller zum Takt der Musik.
Eva bekam Platzangst. Die Hitze in der Arena, die vielen Menschen, dicht gedrängt auf ihren engen Plätzen, die bis unters Dach reichten – all das gab ihr das Gefühl, als würde sie langsam eingekreist. Eva blickte zu der Uhr auf der Anzeigetafel. »Gehen wir, bevor alle anderen gehen«, meinte sie. »Ich bekomme allmählich Kopfschmerzen und möchte nur noch nach Hause.«
»Das musst du mir nicht zweimal sagen.« Dex zwängte sich aus dem Sitz und schob sich an den Leuten in ihrer Reihe vorbei, und Eva folgte ihm.
Sie waren die Ersten in der Schlange vor der Toilette, und die Übergabe der Pillen dauerte weniger als dreißig Sekunden. »Dann bis nächste Woche?«, fragte Dex und zog seinen Mantel fest um sich.
Eva sah aus dem Fenster des Clubhauses auf das Baseballfeld und dachte daran, dass in ein paar Monaten, wenn es Frühling war, die Spieler dort unten wieder über die Bases laufen und Sonnenblumenkerne ins Gras spucken würden. Hoffentlich wäre sie dann schon weg, so oder so.
Eva betrachtete Dex’ Profil, das ihr inzwischen schon so vertraut war wie ihr eigenes. Es war ein hartes Leben, und er hatte sein Bestes gegeben, um ihr alles beizubringen, was er wusste. Und sie war eine gelehrige Schülerin gewesen. Lange Zeit hatte sie sich damit wohl gefühlt. Aber das lag weit zurück, wie die verblassten Schnappschüsse von einer Person, die sie früher einmal kannte. »Klar doch«, sagte sie. »Sei vorsichtig.«
»Immer«, meinte er augenzwinkernd.
Zurück im Gedränge, warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie hatte noch fünf Minuten, um durch die Arena zu kommen und sich mit Jeremy zu treffen. Was die Kopfschmerzen betraf, hatte sie nicht gelogen. Ihre Schläfen schmerzten, und ihr war klar, dass sie am Ende der Nacht eine ausgewachsene Migräne haben würde. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und schrieb Jeremy eine weitere SMS .
Wir treffen uns jetzt am Eingang von Abschnitt zwei.
Sie schob sich durch die Tür des Clubhauses und stürzte sich wieder in die Menge. Leute drängten sich auf dem Weg zu ihren Plätzen an ihr vorbei, und sie hielt Ausschau nach einer ruhigen Ecke, wo sie warten konnte. Sie blickte über das Spielfeld hinüber zu Abschnitt zehn, um zu sehen, ob Jeremy dort auf sie wartete, als ihr ein Mann ins Auge fiel.
Zuerst sah sie ihn nur von hinten. Kurzes braunes Haar. Ein Sakko, das weit genug war, um darunter ein Pistolenhalfter zu verstecken. Wie in Zeitlupe beobachtete sie, wie er einen Blick auf sein Handy warf, etwas las, sich von der Wand abstieß und in ihre Richtung ging.
Sie blickte auf ihr eigenes Handy, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Auf einmal kam ihr die Erkenntnis, und vor ihren Augen verschwamm alles. Sie dachte an jede SMS , die sie in den vergangenen Wochen verschickt hatte. An Dex. An Liz. An Jeremy, mit genauer Zeitangabe und Treffpunkt. Und nun stand Castro dort, wo eigentlich Jeremy hätte sein sollen.
Plötzlich sah sie alles wieder vor sich. Ein Stück weißes Papier, das durch ein geöffnetes Autofenster gereicht wurde. Brittany. Sie hatte ihre Nummer und konnte sie weitergeben. Die Whispr-App war nutzlos, wenn jemand zur selben Zeit wie sie ihre Textnachrichten las.
Mit gesenktem Kopf bahnte sie sich einen Weg durch die Menge, eine einsame Gestalt gegen einen Strom von Menschen, die zurück zu ihren Plätzen wollten. Sie hatte Angst, jemandem in die Augen zu sehen, und sie war sicher, dass Castro sie jeden Moment packen und auffordern würde, ihre Taschen zu leeren. Sie müsste ihm erklären, warum sie immer noch Drogen verkaufte, und er würde ihr mitteilen, dass das Geschäft geplatzt sei.
Sie stürzte aus einem Seitenausgang hinaus in die kalte Nachtluft und rannte die Treppe hinunter, das kompromittierende Handy immer noch fest in der Hand. Als sie an einer überfüllten Mülltonne vorbeikam, kämpfte sie gegen den Drang an, das Telefon unter alten Essensverpackungen und leeren Bechern zu vergraben, um es so schnell wie möglich loszuwerden. Aber sie behielt es, denn ihr war klar, dass sie es noch brauchen würde, um Castro in dem Glauben zu lassen, dass sich nichts geändert hatte.
Mit schnellen Schritten ging sie Richtung Sproul Plaza und schickte Jeremy eine weitere SMS .
Übrigens hab ich heute zufällig deine Mom getroffen. Sie sieht toll aus!
Das war die verschlüsselte Nachricht, die sie mit ihren Kunden ausgemacht hatte, um ihnen Bescheid zu geben, wenn ein Treffen zu unsicher war. Hoffentlich würde Jeremy zu seinem Platz im Studentenbereich zurückgehen und sie vergessen.
Eva ging den Bancroft Way hinauf, warf den Umschlag mit Jeremys Pillen in eine Mülltonne vor dem Gebäude der Studentenvereinigung und machte sich dann auf den Heimweg.