CLAIRE
Sonntag, 27. Februar
Mrs. Cook, hier ist Danielle. Ich weiß, dass Sie nicht in diesem Flugzeug saßen. Sie müssen mich unbedingt zurückrufen.
Eine gewaltige Angst erfasst mich, als ich das Handy weglege und davor zurückweiche, so als ob Danielle mich durch das Telefon hindurch packen und zurück nach New York zerren könnte, wo Rory auf mich wartet.
Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum, und ich gerate in Panik. Wie hat sie mich so schnell gefunden? Das Video steht erst seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden im Netz. Und dann packt mich die schreckliche Erkenntnis. Konnte das alles ein abgekartetes Spiel gewesen sein? Woher sollte Danielle sonst wissen, wie sie mich erreichen konnte – auf einem Wegwerfhandy, das einem völlig Fremden auf der anderen Seite des Landes gehörte? Ich atme schnell und keuchend und kämpfe gegen den Drang an, mich zu übergeben.
Wenn Rory und Eva unter einer Decke steckten … Ich versuche, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Wie sie sich kennengelernt haben, wie sie geplant haben, mich nach Puerto Rico zu schicken und in letzter Minute in einen Ticket-Tausch zu verwickeln. Wie sie dafür gesorgt haben, dass ich an einem Ort strande, wo ich niemanden kenne. Mittellos, isoliert und allein. Ein perfektes Zielobjekt. Denn wenn mir hier etwas passiert, wird niemand davon erfahren.
Aber das passt alles irgendwie nicht zusammen. Das Flugzeug sollte nicht abstürzen. Und ich hatte nie vor, in Evas Haus zu landen. Ich wollte Petra anrufen. Ich wollte innerhalb weniger Stunden in Evas Rolle hinein- und auch wieder herausschlüpfen. Rory konnte nicht wissen, dass es mich hierher verschlagen würde. Und er hat das Ganze gewiss nicht inszeniert.
Ich lasse die Stille des Hauses auf mich wirken, um zur Ruhe zu kommen und die Ereignisse so zu betrachten, wie sie tatsächlich passiert sind. Nicht mit den Augen einer misshandelten, paranoiden Frau, die Gefahren sieht, wo gar keine sind. Meine Gedanken laufen rückwärts. Irgendwo, irgendwie gibt es einen Zusammenhang. Ich nehme wieder das Handy in die Hand, streiche mit den Fingern über die Kanten und starre auf das schwarze Display, in dem sich mein schwacher Schatten widerspiegelt.
Ich. Bruce hat Rory erzählt, er habe die Nummer überprüft, die ich am Tag des Absturzes angerufen hatte. Ich denke an den Abend zurück, an dem ich Evas Handy entsperrt und Petras Nummer gewählt hatte, in der Hoffnung, irgendwie Anschluss zu bekommen. Wenn sie auf die Anrufliste für Petras Nummer zugreifen können, können sie feststellen, wer versucht hat, sie zu erreichen.
Ich selbst habe Danielle auf meine Spur gebracht. Und wenn sie meine Nummer kennen, was wissen sie dann sonst noch? Könnten sie mich irgendwie über das Handy orten? Ich blicke zum Küchenfenster, zur Hintertür, und denke daran, sie zu öffnen und das Telefon in die Büsche zu werfen.
»Denk nach, Claire.«
Meine Stimme klingt krächzend in dem leeren Raum. Das ist keine TV -Serie oder ein schlechter Film. Rory besitzt viel Geld, und Bruce hat Verbindungen, über die er an so manche Information gelangen könnte. Trotzdem glaube ich nicht, dass sie die Möglichkeit haben, das Handy zu orten und mich zu verfolgen, wie es die Polizei tun könnte.
Ich atme mehrmals hintereinander tief ein und aus und stelle mir dann die wichtigste Frage.
Warum ruft Danielle an und nicht Rory? Das passt nicht zu Rorys Vorgehensweise. Und wenn sie wüssten, wo ich bin, hätten sie gar nicht erst angerufen. Rory wäre einfach aufgetaucht, wenn ich es am wenigsten erwartete. Hallo, Claire.
Mit zitternden Händen höre ich noch einmal die Nachricht ab. Danielles Stimme jagt mir erneut einen Schauer über den Rücken, obwohl ich den Text mittlerweile kenne. Ich weiß, dass Sie nicht in diesem Flugzeug saßen. Sie müssen mich unbedingt zurückrufen. Diesmal bemerke ich die Dringlichkeit in ihrer Stimme, als ob es eine Warnung und keine Drohung sein sollte.
Eines ist sicher, ich muss hier weg. Die Backofenuhr zeigt kurz nach zehn an. Spät genug, um unbemerkt aus der Stadt zu kommen, aber noch früh genug, um nicht die Einzige auf der Straße zu sein. Ich lasse mein Gepäck neben der Tür stehen, schnappe mir Evas Schlüsselbund und gehe zur Garage. Mal sehen, ob ihr Auto funktioniert.
Die Garage ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ich blinzle in die Dunkelheit und sehe die Schlüssel durch, bis ich den richtigen gefunden habe. Dann öffne ich das Schloss und bete, dass der Wagen anspringt. Dass genug Benzin im Tank ist. Dass er funktionstüchtig genug ist, um mich von hier fortzubringen.
Das Tor hebt sich mühelos, und ich betrete die stockfinstere Garage. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich die Umrisse von verstaubten Regalen mit Farbdosen und eine von Spinnweben bedeckte Leiter an der Wand. Aber kein Auto. Lediglich schwache Reifenspuren an der Stelle, wo eigentlich der Wagen stehen sollte, und in der Mitte eine Wanne mit getrockneten Ölspritzern. Der Anblick trifft mich wie ein Schlag und macht jede Hoffnung zunichte. Egal, welchen Weg ich auch wähle, mit einem Mal schlagen die Türen wieder zu, und ich sitze immer tiefer in der Klemme.
Ich gehe in den hinteren Teil der Garage und betrachte die kahlen Wände, als ob ich dort einen Hinweis finden könnte, wenn ich nur scharf genug hinsehe. Während ich mich zur Straße umdrehe, überlege ich, meine Pläne zu ändern. Noch eine Nacht in Evas Haus. Dann mit dem Frühzug nach San Francisco. Kostbares Geld für eine Busfahrkarte Richtung Norden ausgeben. Verschwinden, bevor die Sonne aufgeht.
Ich schließe die Garage wieder ab und gehe zum Haus zurück. Als ich um den Baum herum komme und in Sichtweite der Veranda bin, bleibe ich abrupt stehen und lasse beinahe Evas Schlüsselbund fallen. Da ist dieser Mann, der mich neulich angerempelt hat, und späht durch die unverhüllten Fenster der Wohnung nebenan. Dieser Mann, der mich anscheinend durch die Fensterscheibe des Coffeeshops beobachtet hat.
Ich weiche zurück in den Schatten, blicke über meine Schulter die Straße hinunter und frage mich, ob ich einfach abhauen sollte. Aber ich habe Evas Tür offen gelassen, und meine Reisetasche, mein Computer und meine Handtasche sind noch im Haus.
Ich hole tief Luft und spreche den Mann an. »Kann ich Ihnen helfen?«
Er dreht sich um und lächelt mir freundlich zu, als ob wir alte Freunde wären. »Hallo.« Das Licht, das durch mein Wohnzimmerfenster fällt, erhellt sein Gesicht, sodass ich seine Augen sehen kann. Sie haben eine überraschend graue Farbe, die an das aufgewühlte Meer erinnert. »Können Sie mir sagen, wen ich anrufen muss, wenn ich diese Wohnung mieten will?«
Ich betrete die Veranda, postiere mich zwischen ihm und Evas unverschlossener Eingangstür und sage: »Scheint mir etwas spät für eine Wohnungsbesichtigung zu sein.«
Er breitet die Hände aus. »Ich bin gerade vorbeigekommen und habe mich über das leer stehende Haus gewundert.«
»Keine Ahnung. Ich wohne nur hier, solange meine Freundin verreist ist.«
»Ah. Und wann kommt sie zurück?« Er ist vollkommen ruhig, und sein Gesicht verrät nichts. Aber während er auf meine Antwort wartet, nehme ich eine Veränderung wahr, als ob alles, was ich ihm erzähle, von größter Wichtigkeit ist.
Wann kommt sie zurück?
»Sie ist außer Landes«, sage ich schließlich, weil ich möglichst viel Abstand zwischen Eva und diesen Mann bringen möchte.
Er nickt, als ob das alles erklären würde, und ein Lächeln umspielt seinen Mund. Er kommt einen Schritt näher und streckt die Hand aus, um etwas von meiner Schulter zu zupfen. »Spinnweben«, erklärt er. Er bleibt in unmittelbarer Nähe stehen, und ich spüre die Wärme, die von ihm ausgeht. Der Duft von Zigaretten und Aftershave hüllt mich ein, und ich weiche bis zu Evas Tür zurück und frage mich plötzlich, ob er mir vielleicht ins Haus folgen würde.
Der Mann deutet auf Evas Eingangstür und meint: »Dies scheint zwar eine gute Wohngegend zu sein, aber trotzdem sollten Sie die Tür niemals unverschlossen lassen, vor allem nicht nachts. Berkeley ist nicht so sicher, wie es scheint.«
Ich habe das Gefühl, als hätte er mir einen Fausthieb verpasst. Meine Brust zieht sich zusammen, und ich bekomme kaum noch Luft. Wortlos drehe ich am Türknauf, schlüpfe ins Haus und schließe hinter mir ab.
»Danke für Ihre Hilfe«, höre ich ihn sagen, bevor er die Treppe wieder hinuntergeht. Ich lasse den Blick durchs Zimmer schweifen und suche nach irgendeinem Hinweis, dass er im Haus war.
Aber alles ist genau so, wie ich es verlassen habe. Mein Gepäck steht unberührt an der Wand, und es fehlt nichts. Ich schnuppere, aber da ist keine Spur von seinem Aftershave. Er kann nicht im Haus gewesen sein. Ich war nicht einmal fünf Minuten in der Garage. Ich presse die Finger auf die Augen und versuche, mich zusammenzureißen und trotz aller Panik rational zu denken.
Ich gehe in die Küche und trete beinahe in die Lache aus Cola, die aus der umgekippten Dose ausgelaufen ist und die sich mittlerweile bis zu den Regalen und darunter ausgebreitet hat. Mein Blick folgt dem Rinnsal und bleibt an den Gussrädern des Rollregals hängen. Ich bücke mich und spähe vorsichtig unter das Regal, wo die Cola sich bei der Unterkante eines Türrahmens angesammelt hat. Ich schiebe das Regal weg, bis eine Tür mit einem Stahlscharnier und einem Vorhängeschloss zum Vorschein kommt. »Was zum Teufel, Eva«, murmle ich.
Ich schnappe mir wieder ihren Schlüsselbund und finde den passenden Schlüssel zu dem Schloss. Als die Tür aufgeht, taste ich nach einem Lichtschalter an der Wand und drehe ihn. Unter mir beginnt ein Ventilator zu surren, und ich schleiche eine schmale Treppe hinunter. Sie führt in einen winzigen Keller, der vielleicht mal eine Waschküche gewesen ist.
Aber jetzt ist es keine Waschküche mehr. An den Wänden stehen Tische und Regale, und in einer Ecke befindet sich ein kleines Spülbecken sowie ein tragbarer Geschirrspüler. Auf den Regalen sind diverse Substanzen zu finden – große Gefäße mit Kalziumchlorid und mindestens dreißig Fläschchen mit verschiedenen Erkältungs- und Hustenmitteln. In einer anderen Ecke steht ein Campingkocher, und neben dem Spülbecken liegen, wie zum Trocknen, mehrere Tablettenformen aus Silikon. Hoch über mir in der Wand befindet sich ein mit Brettern zugenageltes Fenster, in dessen Mitte sich der Ventilator dreht.
Links von der Treppe steht ein Tresen, übersät mit Papieren und einem Aufnahmegerät daneben. Ich beuge mich darüber und zögere, etwas anzufassen. Und dann lese ich einen offenbar notariell beglaubigten Brief an jemanden namens Agent Castro.
Mein Name ist Eva James, und dies ist eine eidesstattliche Erklärung zu Ereignissen, die vor zwölf Jahren ihren Anfang nahmen und bis zum heutigen Tag, dem 15. Januar dieses Jahres, andauern. Ich lese rasch eine Seite nach der anderen. Es ist die Geschichte einer College-Studentin, die einfach nur dazugehören wollte. Die die einzige Möglichkeit ergriff, die sich ihr ihrer Ansicht nach damals bot. Sie hängte sich an einen Mann namens Dex, der ihr Dinge versprach, die er ihr niemals wirklich geben wollte. Ein neues Leben. Glück. Freiheit. Es ist die Geschichte einer Frau, die es satthatte, in die Ecke gedrängt zu werden, und die bereit war, alles niederzubrennen, um dort herauszukommen.
Eva war keine Hochstaplerin oder eine Identitätsdiebin. Sie war eine Frau wie ich, die versuchte, ihren Weg zu korrigieren.
Ich nehme das Aufnahmegerät und drücke auf Play . Der Lärm einer Sportarena erfüllt den kleinen Raum, Gesänge und Jubel, die Stimme eines Ansagers, irgendeine Blaskapelle.
»Es kommt mir ziemlich gefährlich vor, den Typen loszuwerden, der Brittanys Kontaktmann war.« Evas Stimme, wie ich sie in Erinnerung habe. »Wird das nicht wieder die Polizei auf den Plan rufen?«
Eine vertraute Stimme, eine Stimme, die mich vor noch nicht einmal zehn Minuten gewarnt hat, meine Eingangstür nicht unverschlossen zu lassen, antwortet ihr. »Sie werden ihn niemals finden. Fish besitzt eine Lagerhalle in Oakland. Irgend so ein Import-Export-Scheiß. Im Keller befindet sich eine Verbrennungsanlage.«
Ich stoppe die Wiedergabe, weil ich nicht länger zuhören kann. Bilder gehen mir durch den Kopf. Ihr Haus, das sie bar bezahlt hat. Evas Verzweiflung am Flughafen. Wie sie mir ihre Handtasche zuschob, ohne noch einmal nachzusehen, ob sich etwas darin befand, was sie behalten wollte. Das Handy, das sie bei sich hatte, und das schwarze, das sie zurückließ. Kein Wunder, dass Eva mir nicht die Wahrheit gesagt hat. Deshalb konnte sie nicht nach Berkeley zurückkehren.
Und deshalb muss ich von hier verschwinden. Sofort.
Ich lasse das Labor unberührt, aber die Papiere und den Rekorder nehme ich mit. Ich presse die Sachen fest an meine Brust und renne die Treppe hinauf.