CLAIRE
Sonntag, 27. Februar
Ich laufe die Treppe hinauf und durch die Küche. Meine Schuhe hinterlassen Cola-Spuren im Wohnzimmer. Ich verstaue Evas eidesstattliche Erklärung und ihren Rekorder in meiner Reisetasche. Keine Ahnung, was mich dazu getrieben hat, die Sachen mitzunehmen, welcher Instinkt mich gewarnt hat, dass es ein Fehler wäre, sie zurückzulassen. Ich muss an den Mann auf der Veranda denken und daran, wie nahe er mir gekommen ist. Der Zigarettengeruch kitzelt mich immer noch im Hals, und ich bin mir jetzt ganz sicher, dass er hinter diesen Papieren und dem Aufnahmegerät her ist. Dann fällt mir Evas Handy ein, das auf dem Küchentisch liegt, mit Danielles Nachricht. Ich haste zurück in die Küche, nehme das Telefon und stecke es in meine Tasche.
Draußen fährt ein Auto vorbei; aus dem Radio dringt ein dumpfes Stampfen. Ich spähe durch die Vorhänge und überlege, wer da draußen sein könnte und mich aus dem Schatten heraus beobachtet. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen, die Tür zu öffnen und auf die Veranda hinauszutreten. Ich bin nicht sicher, ob ich mehr riskiere, wenn ich gehe oder bleibe. Aber in Gedanken sehe ich das Kellerlabor, einen notariell beglaubigten Brief an einen DEA -Ermittler und einen Mann, der ganz bestimmt kein Bundesagent ist und dessen plumpe Annäherung ein stummes Versprechen war, dass er zurückkommen wird.
Ich eile über den Rasen, gehe mit gesenktem Kopf Richtung Campus und mache mich darauf gefasst, dass eine Stimme oder eine Hand auf meiner Schulter mich aufhält. In der Ferne miaut eine Katze, lange und leise. Dann geht das Miauen in ein Schreien über, das fast menschlich klingt.
Ich finde ein kleines Motel an einer belebten Straße, ungefähr eine Meile vom Campus entfernt. Meine Schultern und meine Füße schmerzen, und mir ist kalt. In dem kleinen Büro brennt Licht. Eine ältere Frau raucht eine Zigarette und starrt auf einen Fernseher an der Wand. Als ich eintrete, dreht sie sich zu mir um, und ihre Augen blinzeln durch eine Rauchwolke.
»Ich hätte gerne ein Zimmer.«
»Macht fünfundachtzig Dollar pro Nacht plus Steuern«, erklärt sie.
»In Ordnung«, sage ich, obwohl ich ein wenig schwanke, während ich rechne.
Sie mustert mich kurz und meint: »Ich brauche Ihren Namen, Ihren Führerschein und eine Kreditkarte.«
»Ich würde gerne bar bezahlen.«
»Egal. Wir müssen die Karte in unser System eingeben. Wir werden die Transaktion erst durchführen, wenn Sie auschecken. Und wenn Sie dann bar bezahlen wollen, dann lassen wir das mit der Transaktion.«
Ich überlege, ob ich mich mit ihr streiten soll, aber ich möchte nicht, dass sie sich später zu gut an mich erinnert. Also gebe ich ihr Evas Führerschein und ihre Kreditkarte. Gespannt beobachte ich, wie sie die Daten in den Computer eingibt, und warte auf das geringste Zögern – vielleicht nur ihre Augen, die sich etwas weiten und dann über mein Gesicht huschen. Aber die Frau tippt gelangweilt die Nummer ein und gibt mir anschließend alles zurück.
»Wie viele Übernachtungen?«, fragt sie.
Ich kann nicht über diesen Moment hinausdenken, die Tage dehnen sich vor mir aus, leer, nichtssagend, und ich habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun werde. »Ich weiß nicht. Eine? Zwei?« Bei fünfundachtzig Dollar pro Nacht wird mein Geld rasch aufgebraucht sein.
»Ich werde Sie für zwei Nächte eintragen«, sagt die Frau und reicht mir einen Schlüssel. »Zimmer fünf. Wenn Sie aus der Tür kommen, links. Check-out ist um elf. Wenn Sie später auschecken, berechnen wir Ihnen eine zusätzliche Nacht.«
Das Zimmer ist klein, es gibt billige Auslegeware und eine Polyester-Tagesdecke auf dem Doppelbett, vor dem auf einer kleinen Kommode ein Fernseher steht. In der Ecke neben dem Badezimmer befinden sich ein winziger Schreibtisch und eine Lampe. Ich setze mich auf das Bett und versuche, die letzten Stunden zu verarbeiten.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt 23.30 Uhr an, und mein Kopf ist schwer vor Müdigkeit. Ich fühle mich, als hätte die Party in den Hügeln von Berkeley vor einem Monat und nicht erst vor ein paar Stunden stattgefunden. Ich beuge mich nach vorn, bedecke das Gesicht mit meinen Händen und unterdrücke ein Schluchzen. Ich habe keinen Namen, keinen Plan und nicht annähernd genug Geld.
Vor lauter Erschöpfung fühlt es sich so an, als hätte ich Sand in den Augen. Es ist schon zwei Tage her, seit ich das letzte Mal richtig geschlafen habe. Ich lasse mich in voller Kleidung ins Bett fallen und schließe die Augen, in der Hoffnung, dass sich morgen eine Lösung findet.
Ich wache früh auf. Ich habe so tief geschlafen, dass ich nicht einmal geträumt habe. Während ich mich im frühen Morgenlicht in dem Zimmer umschaue, stelle ich mich allmählich auf die neue Situation ein. Mein ganzes Leben ist in diesen vier Wänden. Draußen bin ich entweder eine tote Frau oder eine Drogendealerin auf der Flucht.
Meine Muskeln schmerzen, nachdem ich zwei Tage hintereinander beim Catering Schwerstarbeit geleistet habe. Ich setze mich auf und denke an Kelly, die bereits ihre Schicht im Coffeeshop begonnen hat und sich vorstellt, wie ich Richtung Wüste fahre. Ich wünschte, ich wäre bei ihr und säße auf einem der Stühle, während sie hinter der Theke zwanglose Konversation betreibt. Ich sehne mich nach dieser Schlichtheit, nach einem Platz in der Welt, wo ich hingehöre.
Mein Magen knurrt, deshalb schnappe ich mir meine NYU -Kappe, laufe mit zehn Dollar, die ich eigentlich nicht ausgeben darf, hinunter zum Markt an der Ecke und komme mit einem großen Becher Kaffee und einer Packung Zimtschnecken zurück. Meine einzige – ohnehin schon schwache – Option ist, etwas auf dem USB -Stick zu finden, das ich gegen Rory verwenden kann. Im Tausch gegen meine Freiheit. Ein Geheimnis, das ihm wichtiger ist als meine Bestrafung.
Ich schalte den Fernseher ein, um Gesellschaft zu haben, öffne meinen Laptop, stecke den USB -Stick hinein und durchsuche den Schreibtisch nach der WLAN -Anleitung. Als ich eingeloggt bin, verrät mir ein schneller Blick in Rorys E-Mail-Postfach, dass es nichts Neues gibt. Doch als ich das Doc anklicke, durchfährt es mich wie ein Blitz.
Rory Cook:
Wie zum Teufel hat sie das geschafft?
Bruce Corcoran:
Keine Ahnung. Die Airline hat behauptet, sie wurde für den Flug eingescannt. Und niemand hat das bestritten.
Rory Cook:
Aber sie sagten, ihr Sitz war leer. Meinst du, sie wissen Bescheid?
Bruce Corcoran:
Ich glaube, sie hätten dich sofort kontaktiert, wenn sie geglaubt hätten, dass sie nicht im Flugzeug war. Soll ich es ihnen sagen?
Rory antwortet schnell, und seine Wut springt förmlich aus dem Bildschirm.
Rory Cook:
Auf keinen Fall. Ich werde das diskret lösen. Soll das NTSB ruhig glauben, dass sie tot ist. Ich habe den Flug nach Oakland für heute Abend geplant.
So schnell wie die Worte erschienen, verschwinden sie auch wieder, Zeile für Zeile, bis ich auf das leere Doc starre, mit dem Vermerk Letzter Eintrag von Bruce Corcoran . Das Icon von Bruce verschwindet, und nur das von Rory bleibt. Ich weiß, was Rory meint, wenn er schreibt Ich werde das diskret lösen. Es bedeutet, dass er ein Problem aus der Welt schaffen will, außer Sichtweite der Öffentlichkeit. Und ich habe Rory das perfekte Alibi für das geliefert, was er mit mir vorhat, weil alle Welt mich bereits für tot hält.
Ich fühle die Wände näher rücken, Danielle, Rory und Bruce verfolgen jede meiner Bewegungen, und ich werde immer mehr in die Ecke gedrängt, bis es nur noch einen Ausweg gibt.
Das Klopfen an einer Tür auf der anderen Seite des Hofs lässt mich zusammenfahren, und ich stoße mit dem Ellbogen gegen den Kaffeebecher. Ich springe auf, versuche, ihn festzuhalten, bevor er umkippt, und verschütte etwas Kaffee auf dem Schreibtisch. Dabei drücke ich aus Versehen ein paar Tasten auf dem Computer. »Scheiße«, sage ich und lösche schnell, was ich getippt habe. Mein Blick wandert wieder in die rechte obere Ecke des Docs, in der Hoffnung, dass Rory sich zusammen mit Bruce ausgeloggt hat.
Ich starre eine gefühlte Stunde lang auf den Bildschirm, dabei sind es in Wahrheit nur ein paar Minuten. Kein neuer Text. Aber oben auf der Seite steht jetzt Letzter Eintrag von Rory Cook vor zwei Minuten , und ich bete, dass keiner von beiden sich daran erinnert, wer das Doc bereinigt hat.
Im Bad spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. In dem Neonlicht sehe ich abgespannt und verbraucht aus. Ich stütze meine Arme auf die Ablage und versuche, mich zu sammeln. Tief einatmen, tief ausatmen, fünf-, acht-, zehnmal. Ich beobachte, wie Wasser aus dem Hahn in einen verrosteten Abfluss tropft, bevor ich mich wieder an die Arbeit mache.
Ich setze mich erneut an den Computer, und die Last der Sinnlosigkeit legt sich auf meine Schultern. Ich weiß nicht recht, wonach ich suchen oder wo ich anfangen soll. Sollte ich mehr über Charlie herausfinden? Oder vielleicht etwas über irgendeinen Finanz- oder Steuerbetrug? Das Problem dabei ist, dass ich mich nicht genug mit Finanzen auskenne, um festzustellen, ob etwas verwertbar sein könnte. Als ich gerade auf den USB -Stick doppelklicken will, fällt mein Blick erneut auf die Benachrichtigung ganz oben im Doc. Letzter Eintrag von Rory Cook vor zwei Minuten. Ein rascher Blick zur Uhr verrät mir, dass es mindestens zehn Minuten her ist.
Ich drücke auf Aktualisieren und erwarte, dass die Zeit angepasst wird, aber stattdessen werde ich zur Gmail-Log-in-Seite weitergeleitet. »Nein«, flüstere ich.
Ich nehme die zerknitterte Haftnotiz mit Rorys Passwort aus Evas Portemonnaie und gebe es erneut ein, aber der Versuch schlägt fehl. Ich versuche es noch einmal, ganz langsam, aber wieder wird mir angezeigt, dass das Passwort falsch ist.
Ich stelle mir vor, wie Rory an seinem Schreibtisch sitzt, nachdem er gerade das Video von mir gesehen hat, in dem ich mich zwischen Donny und Cressida dränge. Und dann erscheint plötzlich auf seinem Bildschirm ein fremder Text unter seinem eigenen Namen. Ich sehe ihn vor mir, wie er Bruce anruft und von ihm wissen will, wie es möglich ist, dass jemand Zugang zu seinem Account hat. Und dann sehe ich das Entsetzen in seinem Gesicht, als er erkennt, dass ich die einzige Person bin, die die Gelegenheit hatte, das Passwort zu stehlen – und die ein persönliches Interesse daran hat, ihn zu überwachen.
Ich stehe auf und presse meine Fäuste auf die Augen. Tränen sickern durch meine Fältchen. »Ich kann das nicht tun«, flüstere ich. »Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Ich öffne die Augen, schnappe mir das Portemonnaie, das in unmittelbarer Nähe liegt, und schleudere es gegen die Wand. Die Geldbörse springt auf, und jede Menge Kleingeld fällt hinter die Kommode, während das Portemonnaie selbst mit einem dumpfen Schlag auf dem Möbelstück landet.
Etwas in meinem Innern entkrampft sich, die abrupte Aktion nimmt mir ein wenig die Angst und holt mich in die Realität zurück, und das schäbige Zimmer gewinnt wieder an Schärfe. Ich kann es mir nicht leisten, die Fassung zu verlieren. Rory weiß, dass ich ihn überwache, private Gespräche belausche und seine panische Angst vor den Informationen wahrnehme, die Charlie über Maggie Moretti hat. Es muss eine Möglichkeit geben, mir das zunutze zu machen.
Hinter mir zieht Kate Lanes Stimme meine Aufmerksamkeit auf sich.
»Vor knapp einer Woche ist Flug 477 vor der Küste Floridas ins Meer gestürzt. Sechsundneunzig Menschen kamen bei dem Absturz ums Leben, und die Ermittler sind bezüglich der Frage, was mit der Black Box passiert ist, einen Schritt weitergekommen.« Im Fernsehen ist altes Bildmaterial zu sehen, dieselben auf den Wellen tanzenden Boote der Küstenwache, dieselben im Wasser treibenden Wrackteile, die schon letzte Woche gezeigt wurden. »Vertreter von Vista Airlines haben es abgelehnt, zu Gerüchten Stellung zu nehmen, wonach Flugbegleiter die Gesamtzahl der Passagiere während des Durchzählens nicht bestätigen konnten. Aber anonyme Quellen innerhalb von Vista Airlines berichten, dass dies nicht ungewöhnlich ist, wenn Flüge Verspätung haben. Vertreter der Airline sind der festen Überzeugung, dass die Passagierliste korrekt war und dass die Anzahl der Passagiere mit den Flugdaten übereinstimmte.«
Ich friere und muss diese Information erst einmal verdauen. Ich muss an die Diskussion im Forum denken. An den Kommentator, der so sicher war, dass niemand eingescannt werden konnte, ohne tatsächlich an Bord zu gehen, weil die Passagiere vor dem Abflug noch einmal durchgezählt wurden.
Aber jetzt wird mir klar, dass Eva es geschafft haben könnte. Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und muss innerlich lachen, wenn ich mir vorstelle, dass Eva es irgendwie fertiggebracht hat, aus dem Flugzeug zu kommen und zu verschwinden. Und dass sie jetzt irgendwo da draußen in einem anonymen Hotelzimmer genau diesen Bericht im Fernsehen sieht.
Ich denke an die Risiken, die Eva auf sich genommen hat, um die Papiere und Tonaufnahmen zusammenzutragen – Dinge, die sie genauso in die Sache verwickelten wie diesen Mann auf der Veranda. Und ich frage mich, was schiefgelaufen ist, warum sie das Material nicht weitergegeben hat. Was immer es auch war, es hat sie dazu veranlasst abzuhauen, und sie konnte nicht mehr nach Hause zurück.
Und ich frage mich: Kann ich etwas damit tun, das in ihrem Sinne wäre?
Ich starre die Wand an, obwohl ich eigentlich Eva betrachte. Ich kann sie sehen, wie sie lacht und vor mir davonläuft, immer kleiner wird, je weiter sie sich entfernt. Und ich sehe ihr nach, bis sie nur noch ein winziger Punkt ist. Ein Nichts. So gut wie weg.
Ich streiche mit dem Finger über die Kante des USB -Sticks und bin mir sicher, dass darauf Geheimnisse gespeichert sind, die Rory auf keinen Fall preisgeben will. Ich habe nur keine Ahnung, was das für Geheimnisse sind.
Aber Rory muss das nicht wissen.
Als ob Eva mir ins Ohr flüstern würde, beginnt sich in meinem Kopf eine kühne Idee zu entwickeln. Aber diese Idee setzt voraus, dass ich mein Versteck verlasse und ihn zur Rede stelle. Das Handy nehme, seine Nummer wähle und ihm sage, was ich habe, wobei ich die Lücken mit einer erfundenen Geschichte ausfülle, um ihn glauben zu lassen, dass ich mehr weiß. Nicht nur über Charlie, sondern auch über den Inhalt der Festplatte, eingetütet und bereit zur Weitergabe an die Medien und die Behörden. Es sei denn, er gibt mir, was ich will.
Doch bei dem Gedanken, Rory anzurufen, seine Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören und ihn wie einen Fisch am Haken zu mir zu ziehen, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Denn wenn ich falschliege und es nicht funktioniert, wird alles nur noch schlimmer.
Ich greife nach Evas Handy und bin froh, dass ich es mitgenommen habe. Es verschafft mir die Möglichkeit, mit Rory Kontakt aufzunehmen, ohne meinen genauen Standort preiszugeben. Aber bevor ich es anschalte, zögere ich. Ob Danielle wohl da draußen darauf wartet, dass ich einen weiteren Fehler mache. Ich atme tief ein und wieder aus und schalte das Handy ein.
Sofort poppt eine weitere Sprachnachricht zusammen mit einer SMS auf. Ich zögere, weil ich nicht weiß, worauf ich zuerst klicken soll, doch dann entscheide ich mich für die Sprachnachricht.
»Mrs. Cook, hier ist noch einmal Danielle. Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie mir nicht trauen, aber Sie müssen mir glauben, dass ich Ihnen nur helfen will. Mr. Cook ist auf dem Weg nach Kalifornien, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er nur dorthin fliegt, weil er weiß, dass Sie da sind. Ich schicke Ihnen per SMS eine Aufnahme von gestern. Benutzen Sie sie. Ich werde Sie unterstützen.«
Ich starre auf das Handy, und meine Gedanken rasen in zwanzig verschiedene Richtungen. Ich sehe mir jedes einzelne Wort an und versuche, ihre Strategie zu erkennen. Was sie tatsächlich von mir will. Denn nach all der Zeit, in der sie weggeschaut und geschwiegen hat, als sie den Mund hätte aufmachen können, fällt es mir schwer zu glauben, dass sie mir jetzt helfen will.
Ich öffne die SMS . Es handelt sich um eine Sprachdatei mit der Überschrift Aufnahme 1 . Ich schalte den Fernseher auf stumm und drücke Play .
Dumpfe Stimmen erfüllen den Raum, und ich erkenne, dass sie Rory und Bruce gehören, obwohl ich die Worte nicht verstehen kann. Dann klopft es an einer Tür, und Rorys Stimme ruft: »Herein.«
Danielles Stimme sagt: »Entschuldigung, wenn ich störe, aber ich brauche Ihre Unterschrift auf diesen Formularen.«
»Natürlich«, sagt Rory. »Danke, Danielle, dass Sie sich um alle Details mit dem NTSB kümmern. Ich weiß, wie sehr Sie Mrs. Cook gemocht und respektiert haben.«
»Es gibt so vieles, was ich hätte anders machen können«, sagt Danielle.
Ich höre das Rascheln von Papier und dann wieder Rorys Stimme. »Das dürfte reichen. Bitte schließen Sie beim Hinausgehen die Tür.«
Danielles Stimme klingt weiter weg, als sie erwidert: »Kein Problem, Mr. Cook. Danke.« Dann wird eine Tür geöffnet und wieder geschlossen.
Ich erwarte, dass die Aufnahme an dieser Stelle endet, aber sie geht noch weiter. Rory ergreift wieder das Wort, und diesmal klingt seine Stimme kälter. »Was hast du herausgefunden?«
»Im Jahr 1996«, sagt Bruce, als ob er aus einer Akte vorlesen würde, »wurde Charlie Price – oder besser gesagt Charlotte, wie sie jetzt genannt werden will – wegen des Besitzes von Drogen und der Absicht, sie zu verkaufen, verhaftet. Man konnte ihr jedoch nicht besonders viel nachweisen, und die Anklage wurde fallen gelassen.« Ich höre, wie eine Seite umgeblättert wird. »Sie zog nach Chicago, wo sie als Kellnerin arbeitete. Anscheinend hat sie sich bislang aus Schwierigkeiten rausgehalten. Sie wohnt immer noch dort.«
Charlotte? Sie? Charlie ist eine Frau?
»Noch was?«, fragt Rory.
»Eigentlich nicht. Kein Ehemann, Freund oder Freundin. Keine Kinder. Die Familie scheint entweder tot oder zerstritten zu sein. Nichts, was wir als Motivation benutzen können.« Bruce’ Stimme wird leiser. »Nichts, was wir bislang versucht haben, hat sie umgestimmt. Weder Geld noch Drohungen. Sie besteht darauf, die Wahrheit zu sagen.«
Rorys Stimme klingt leise, gefährlich und kalt. Sie jagt mir einen Schauer über den Rücken. »Und was ist ihrer Meinung nach die Wahrheit?«
»Dass du und Charlie hinter Maggies Rücken eine Affäre hattet. Dass du dabei warst, als Maggie starb, und dass du dafür gesorgt hast, dass das Feuer erst ausbricht, wenn du weg bist. Und dass du völlig verzweifelt und zitternd wie Espenlaub in Charlies Apartment aufgetaucht bist.« Es folgt eine Pause. Als Bruce fortfährt, kann ich ihn kaum verstehen. »Sie schert sich nicht um die Vertraulichkeitsvereinbarung, die sie unterschrieben hat. Sie schert sich um nichts, was wir ihr angeboten haben.«
»Das ist völlig inakzeptabel!«, schreit Rory, und ich fahre zusammen, als ob er hier im Zimmer wäre und mich anbrüllen würde. »Das wird alles zum Scheitern bringen. Du hast zwei Tage Zeit, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen.«
Ich höre, wie Bruce seine Sachen und diverse Papiere zusammensucht und wie das Schloss eines Aktenkoffers zuschnappt. »Alles klar«, sagt er.
Schritte, das Geräusch einer Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wird. Dann ist es still. Ich bin gerade im Begriff, die Aufnahme zu stoppen, als ich ein weiteres Klopfen an der Tür höre.
»Herein«, sagt Rory.
Es ist noch mal Danielle. »Es tut mir so leid, dass ich Sie wieder stören muss, aber ich glaube, ich habe mein Handy hier irgendwo liegen lassen. Kann ich reinkommen und nachsehen?«
Rory knurrt.
»Da ist es ja. Es muss runtergefallen sein …«
Damit endet die Aufnahme.
Ich setze mich aufs Bett und bin sprachlos. Es gibt so vieles, was ich hätte anders machen können, hat Danielle gesagt. Und nun, da ich weiß, dass sie zu mir gesprochen hat, bekommen ihre Worte eine ganz andere Bedeutung. Sie sind eine Art Anerkennung und vielleicht sogar eine Entschuldigung.
Dass Danielle so viel riskiert hat, um mir diese Aufnahme zu besorgen, ist erstaunlich. All die Jahre, in denen sie mir hinterhergelaufen ist und akribisch dafür gesorgt hat, dass ich meinen Terminplan einhalte. Ich dachte, sie wäre nur ein weiterer Handlanger von Rory, der mich kontrollierte. Wenn ich mich bemüht hätte, mir ein genaueres Bild von ihr zu machen, hätte ich vielleicht noch etwas anderes gesehen. Nicht jemanden, der darauf aus ist, mich fertigzumachen, sondern eine Frau, die verzweifelt versucht, mich zu unterstützen.
Ich höre mir noch einmal Danielles Sprachnachricht an, die Dringlichkeit in ihrer Stimme, wie sie brüchig wird, die leisen Anklänge von Furcht. Benutzen Sie sie. Ich werde Sie unterstützen.
Im Fernsehen unterhalten sich zwei politische Kommentatoren und bewegen lautlos ihre Lippen. Ihnen gegenüber sitzt Kate Lane, sagt etwas in die Kamera und lächelt. Ich drehe gerade rechtzeitig die Lautstärke hoch, um die vertraute Melodie von Politics Today zu hören, bevor Werbung eingeblendet wird.
Es fühlt sich so unwirklich an, dass ich genau vor einer Woche die letzten Vorbereitungen für meine Reise nach Detroit getroffen und mir ein Leben als Amanda Burns vorgestellt habe, die friedlich in Kanada lebt. Und wie schnell alles schiefging und ich stattdessen hier landete, eingezwängt zwischen Evas Geheimnissen und gezwungen, zwischen Landminen zu tanzen, die ich nicht einmal sehen kann.
Ich werde Rory nicht anrufen. Mit Drohungen kommt man bei ihm nicht weit. Was Danielle mir geschickt hat, ist viel besser. Rorys Stimme, Rorys Zorn, verpackt in einem perfekten Soundbite.
Ich google die E-Mail-Adresse von Kate Lane. Anschließend gehe ich auf die Homepage von Gmail, richte ein neues Konto ein und entwerfe meine Nachricht. Ich finde mühelos die richtigen Worte. Als ich fertig bin, zögere ich. Wenn ich sie abschicke, wird alles in Gang gesetzt. Dann gibt es für mich kein Zurück mehr. Aber es ist das Einzige, was ich noch in meiner Trickkiste habe.
Ich lese mir die E-Mail ein letztes Mal durch.
Sehr geehrte Miss Lane. Mein Name ist Claire Cook, und ich bin Rory Cooks Ehefrau. Ich bin bei dem Absturz von Flug 477 nicht umgekommen, wie fälschlicherweise berichtet wurde. Ich bin in Kalifornien, und ich habe erst kürzlich Beweise dafür erhalten, dass mein Mann in den Tod von Maggie Moretti verwickelt ist. Ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen, sobald es Ihre Zeit erlaubt.
Dann klicke ich auf Senden .