EVA
Berkeley, Kalifornien
Februar
Zwei Tage vor dem Absturz
Dex war Fish.
Fish war Dex.
Eva spürte, wie die Realität sich veränderte. Puzzleteile verschoben sich zu einem anderen Bild, sie geriet in Panik und war verwirrt. Was hatte sie verpasst? Was hatte sie übersehen?
»Haben Sie sich nie gefragt, warum Sie Fish nie getroffen haben und warum Dex Ihre einzige Kontaktperson war?«, fragte Castro.
»Mir wurde gesagt, dass das eben so läuft. Und ich hatte keinen Zweifel daran.« Eva schüttelte den Kopf. »Aber warum sollte Dex lügen?«, flüsterte sie.
»Er ließ Sie in dem Glauben, dass er lediglich Befehle von oben ausführt. Darum vertrauten Sie ihm in einer Weise, wie Sie es nie tun würden, wenn Sie wüssten, dass er der Boss ist.«
»Ist das so üblich?«, fragte sie. »Arbeiten diese Leute nicht wirklich hart, um sich ihre Position zu verdienen? Wollen sie denn nicht, dass alle wissen, welche Macht sie haben?«
Agent Castro zuckte mit den Schultern. »Manche schon«, sagte er. »Aber um ehrlich zu sein, diese Dealer sind dann ziemlich leicht zu erwischen. Sie machen diesen Job nur für ihr Ego. Sie wollen, dass jeder weiß, wie wichtig sie sind, und alle sollen Angst vor ihnen haben. Aber Fish« – Castro neigte den Kopf zu ihr – »oder besser gesagt, Dex, gehört zu denen, die wir als Langzeithandelnde bezeichnen. Ihnen geht es mehr ums dauerhafte Überleben als um alles andere. Weder um Macht noch um Ehrfurcht. Sie
sind cleverer und schwerer festzunageln.« Castro trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort: »Ich habe das vorher nur einmal erlebt. Eine Frau oben in El Cerrito, die vorgab, dass ihr Ehemann der Boss sei. Sie war fast überall involviert, und die Leute machten mit. Vor allem weil sie darauf vertrauten, dass die Frau sie vor einem Mann beschützen würde, der in Wahrheit gar nicht existierte.«
Eva dachte daran, wie Dex sich angeblich zwischen sie und Fish gestellt hatte. Wie er sie beschützt und gewarnt hatte. Wie er sie glauben machte, dass er auf ihrer Seite stand, dass sie zusammenarbeiteten. Sie erinnerte sich, wie verunsichert er bei dem Footballspiel im letzten Herbst gewesen war. Welche Angst er hatte, Fish zu verärgern. Alles nur Theater.
Und dann dachte sie an jenen Morgen zurück, als er ihr die Leiche gezeigt hatte. In ihrer Vorstellung sortierten sich die Ereignisse neu. Jetzt sah sie, wie Dex den Mann hinrichtete, danach in aller Ruhe an Evas Tür klopfte und sie zum Schauplatz des Verbrechens führte, um ihr zu zeigen, was er getan hatte.
Sie fühlte sich elend bei dem Gedanken, wie naiv sie gewesen war.
»Und was jetzt?«, fragte sie.
»Es ist an der Zeit, dass Sie sich einen Anwalt suchen und mit uns zusammenarbeiten. Wir werden Sie verkabeln und sehen, was wir an Informationen bekommen.«
Eva dachte an alle Informationen, die sie bereits gesammelt hatte, und behielt dieses Wissen für sich. Ihre letzte Trumpfkarte. Sie wollte auf keinen Fall verkabelt werden. »Und was bekomme ich dafür?«, fragte sie. »Da Zeugenschutz ja keine Option ist.«
»Sie müssen nicht ins Gefängnis, wenn das alles vorbei ist.«
Auf dem Tisch summte Evas Handy. Sie hatte eine SMS
bekommen, und ihr Blick huschte hinüber zu Castros Handy, denn sie fragte sich, ob es ebenfalls aufleuchten würde. Aber das Display blieb schwarz.
»Sie sollten die SMS
besser beantworten«, meinte er.
Sie war von Dex.
Bleibt es bei sechs? Wo wollen wir uns treffen?
Sie zeigte Castro die Nachricht. »Bleiben Sie auf öffentlichen Plätzen, wo meine Leute sich unter die Menge mischen können«, riet er. »Von jetzt an möchte ich nicht mehr, dass Sie mit ihm allein sind. Oder irgendwo, wo wir
nicht schnell zu Ihnen gelangen können. Keine Sporthallen und keine verlassenen Parkanlagen mehr. Mein Team wird an Ihnen dranbleiben, bis wir Sie verkabeln können. In höchstens ein bis zwei Tagen.«
Eva nahm wieder das Handy zur Hand und tippte mit zitternden Fingern.
Wie wär’s mit O’Briens? Ich sterbe vor Hunger.
Sie stellte sich vor, wie sie wieder nach Berkeley fuhr, am Tisch gegenüber von Dex Platz nahm und sich dazu zwang, sich ganz normal zu verhalten, während sie darauf wartete, dass Castro alles Notwendige organisierte, um sie zu verkabeln.
Castro schien ihre wachsende Panik zu spüren und sagte: »Es wird alles gut. Bleiben Sie einfach bei Ihrer täglichen Routine, und tun Sie alles, was Sie normalerweise auch tun würden. Stellen Sie Drogen her, und treffen Sie sich mit Dex. Geben Sie ihm keinen Grund zur Beunruhigung.«
Durch das Fenster konnte Eva den Nebel heranziehen sehen, und das leuchtende Orange der Brücke verblasste vor ihren Augen. Sie hatte Angst, dass dasselbe mit ihr passieren würde. Sie würde allmählich verblassen und schließlich ganz von der Bildfläche verschwinden, und niemand würde wissen, dass es sie überhaupt gegeben hatte.
Das Restaurant war von einem konstanten Gemurmel erfüllt, und das Geräusch von klapperndem Besteck dröhnte in ihren Ohren. Die ganze Welt drehte sich um sie, während sie selbst stillstand. »Ich habe keine andere Wahl, oder?«
Castros Blick wurde weicher. »Nein.«
Eva hatte die Bay Bridge schon halb hinter sich gelassen, als sie zu hyperventilieren begann. Überall waren Autos, die sich nur langsam fortbewegten, während in ihrer Mitte auf ein unausweichliches Ziel zusteuerte. Sie konnte das auf keinen Fall tun.
Eva stellte sich vor, wie sie Richtung Norden fuhr – die Ausfahrt nach Berkeley passierte, an Sacramento, Portland und Seattle vorbei. Sie blickte in den Rückspiegel und beobachtete die Leute in den Autos hinter ihr. Welche von ihnen gehörten zu Castro? Wer auch immer auf sie aufpasste, würde sie nie so weit kommen lassen.
Zu Hause fing sie schnell an zu packen. Sie wollte nur das Nötigste mitnehmen und das Haus so zurücklassen, wie es war. Falls jemand nach
ihr suchte, sollte es so aussehen, als ob sie nur kurz weggegangen wäre und jeden Moment zurückkommen würde. Sie dachte an ihr Labor im Keller, an die Gerätschaften und Zutaten zur Herstellung von Drogen, an die Beweise, die sie für Castro gesammelt hatte, und beschloss, alles dazulassen. Irgendwann würde er hier auftauchen, um sie zu suchen, und dann sollte er gern alles finden. Sie wollte nicht länger nach den Regeln anderer spielen.
Eva plante, ihren Wagen in der Nähe von O’Briens abzustellen, damit es so aussah, als wäre sie auf dem Weg zu Dex. Dann würde sie zur U-Bahn-Station gehen, den ersten Zug zurück nach San Francisco nehmen, sich mit Bargeld eine Busfahrkarte nach Sacramento kaufen und danach überlegen, wie es weiterging. Am besten immer weiter nach Norden bis zur Grenze.
Aber beim Anblick von Liz’ gläsernem Vogel auf ihrer Kommode hielt sie plötzlich inne. Sie nahm ihn in die Hand und strich mit dem Finger über die blauen Wirbel, den zierlichen Schnabel und die Ränder der Flügel. Das Einzige, was sie jemals aus Liebe geschenkt bekommen hatte. Von der einzigen Person, die sie wirklich gerngehabt hatte.
Eva dachte an Wade, der ihr versprochen hatte, die Schuld auf sich zu nehmen. An Dex, der vorgab, jemand anders zu sein, um sie besser manipulieren zu können. Und an Castro, der von ihr das Unmögliche erwartete, ihr dafür aber nichts von dem geben wollte, was sie brauchte. Männer, die Versprechungen machten, welche sie aber nie halten wollten. Menschen wie Eva würden immer Kollateralschäden sein.
Und dann war da noch Liz, die sie so sah, wie sie war – die beste Version ihrer selbst. Sie spürte die Umrisse von Liz’ Brief in ihrer Manteltasche. Wenn du deine Probleme mit jemandem teilst, wird die Bürde leichter.
Eva fühlte sich, als würde ihr Weg sie unausweichlich zu der einzigen Person führen, der sie vertrauen konnte.
Sie schnappte sich ihr Geld für den Notfall – fünftausend Dollar – und ihren Laptop und ließ ihr kompromittiertes Handy auf dem Tresen liegen. Dann schlüpfte sie mit dem gläsernen Vogel in der Faust aus dem Haus.
Der erste Zug, der kam, war überfüllt. Sie wartete, bis die Türen sich schlossen, bevor sie hineinsprang. Dann warf sie einen Blick auf den Bahnsteig, um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Sie stellte sich vor, wie Castros Leute von ihrem Auto aus, das sie an der Shattuck Avenue geparkt hatte, immer größere Kreise zogen, um herauszufinden, wohin sie gegangen und was mit ihr passiert war.
Eva betrachtete die Gesichter der anderen Menschen und strich einen schlafenden Mann in einer Ecke sowie ein Paar, das die Köpfe über einem iPad zusammensteckte, von ihrer Liste der Verdächtigen. Aber direkt ihr gegenüber saß eine Frau, die sie scheinbar immer wieder beobachtete, während der Zug in Richtung Süden nach Oakland fuhr. Sie hatte ein aufgeschlagenes Magazin vor sich, schlug die Seiten jedoch kein einziges Mal um.
Beim nächsten Halt wartete Eva bis zum letzten Moment, bevor sie aus dem Zug stieg. Vom Bahnsteig aus sah sie, wie die immer noch lesende Frau an ihr vorbeifuhr, bevor der Zug im dunklen Tunnel verschwand. Mit ihrer Reisetasche über der Schulter drängte sie sich in eine Ecke des Bahnhofs und beobachtete Pendler beim Ein- und Aussteigen, bevor sie in einen anderen Zug stieg, diesmal in Richtung San Francisco. Innerhalb der nächsten Stunde fuhr sie so lange wieder hin und zurück, bis sie sicher war, dass ihr niemand folgte.
Am Flughafen kaufte sie sich ein Ticket für einen Nachtflug nach Newark und bezahlte bar.
»Nur Hinflug oder hin und zurück?«, fragte der Kartenverkäufer.
Eva zögerte. Hatte Castro sie auf irgendeine Liste gesetzt? Sie musste wieder an seine Worte – mittlere Zielperson
– denken. »Einfach«, antwortete sie. Die Endgültigkeit ließ sie erschauern. Wenn sie falschlag, würde ein One-Way-Ticket die Alarmglocken schrillen lassen.
Eva entspannte sich erst kurz nach dem Start. Während die Passagiere ringsherum schliefen oder lasen, starrte sie aus dem Fenster und dachte an einen Abend kurz nach Halloween, als sie Liz auf der Hintertreppe vorgefunden hatte, wo sie in der Dämmerung ihren Garten betrachtete. »Was machst du denn hier draußen?«, hatte Eva gefragt.
Liz hatte sie angesehen und gelächelt. »Ich liebe den abendlichen Duft, wenn die Sonne untergegangen ist und es kühl wird. Egal, wie sehr sich das Leben verändert, das ändert sich nie.« Sie schloss die Augen. »Mein Ex-Mann und ich haben das immer gemacht, als wir frisch verheiratet waren. Wir haben uns draußen hingesetzt und zugesehen, wie der Himmel langsam dunkel wurde.«
Eva setzte sich auf ihre eigene Treppe und blickte Liz durch die Eisenstäbe des Geländers an. »Wo ist er jetzt?«
Liz zuckte mit den Schultern und strich mit dem Finger über die Kante
der Betonstufe. »Zuletzt hörte ich, dass er nach Nashville gezogen ist. Aber das war vor zwanzig Jahren. Ich habe keine Ahnung, ob er noch dort ist.«
Eva fragte sich, wie Liz so gelassen über den Mann sprechen konnte, der sie und ihre kleine Tochter verlassen und sich dann nie mehr um sie gekümmert hatte. »Hat Ellie je etwas von ihm gehört?«
»Keine Ahnung, wir sprechen eigentlich nicht über ihn. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Ein paar Jahre lang hat er ihr zum Geburtstag immer eine Karte geschickt, aber das hat aufgehört, als sie immer noch jung war.« Liz’ Blick wanderte über den Garten zum hinteren Zaun und den Bäumen dahinter. Mit leiser Stimme sagte sie: »Eine Zeit lang hat Ellie mir die Schuld gegeben. Als ob ich diesen Mann dazu bringen könnte, sich um sie zu kümmern. Aber jetzt ist sie erwachsen und sieht, wer er wirklich ist. Und sie begreift, dass ihre Kindheit ohne ihn wahrscheinlich besser war.«
Eva wunderte sich über Liz’ ruhigen Ton. »Wieso hasst du ihn nicht?«
Liz kicherte leise. »Hass kann dich innerlich auffressen. Ich könnte ihn am Tag stundenlang verfluchen. Aber was würde das nützen? Er ist irgendwo da draußen und lebt sein Leben, und wenn er überhaupt noch an uns denkt, dann vermutlich nur ganz beiläufig. Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, ihm zu verzeihen. Das ist viel leichter, als ihn zu hassen.«
Eva überlegte, wie viel Kraft es sie gekostet haben musste, ihre Tochter ganz allein großzuziehen und dabei noch ihre eigenen Träume zu verfolgen. Den Verrat zu verzeihen und glücklich zu sein.
»War es schon immer so, dass du über die dunklen Seiten der Menschen hinwegsehen konntest?«
Liz lachte. »Es dauert lange, bis man die Welt als einen Ort begreift, wo Menschen nichts tun, um dich bewusst zu verletzen. Mein Mann ist nicht abgehauen, weil er mir oder Ellie das Herz brechen wollte. Er hat lediglich nach seinen eigenen Wünschen gehandelt und seine eigene Geschichte gelebt. Ich hoffe, aus mir ist jemand geworden, der nicht wütend wird, wenn andere einfach nur versuchen, irgendwie klarzukommen. Ich hoffe, ich kann ein Mensch sein, der zuallererst auf Vergebung aus ist.«
Eva starrte hinüber zu den Büschen beim hinteren Tor, deren Schatten in der Dämmerung schnell verschwanden. »Ich bin nicht sehr gut im Verzeihen.«
Liz nickte. »Viele sind das nicht. Aber eines habe ich im Leben gelernt: Um wahrhaft verzeihen zu können, musst du zuerst etwas verlieren. Deine Erwartungen oder deine Lebensumstände. Vielleicht sogar dein Herz. Und
das kann schmerzlich sein. Aber es ist auch unglaublich befreiend.«
»Willst du mir damit auf Umwegen zu verstehen geben, dass ich meiner Familie vergeben muss?«
Liz sah mich erstaunt an. »Ich glaube, du musst herausfinden, wie du dir selbst verzeihen kannst. Was es auch ist, das dich immer noch verfolgt.«
Während Eva Richtung Osten flog, fragte sie sich, ob dies der Verlust war, von dem Liz gesprochen hatte. Sie hatte ihr Leben in Berkeley aufgegeben, und jetzt war es nur noch eine leere Hülle, die nicht mehr zu der Person passte, die aus ihr geworden war. Es ergab keinen Sinn – nicht einmal für sie –, warum sie Liz noch einmal sehen musste. Aber irgendwie begriff sie, dass sie sich auf diese Weise vergeben würde.