CLAIRE
Montag, 28. Februar
Während ich auf eine Antwort von Kate Lane warte, blättere ich die Aufzeichnungen durch, die ich aus Evas Labor mitgenommen habe, und vertiefe mich wieder in die Geschichte einer talentierten Chemikerin, einer Ausgestoßenen und Drogendealerin. Als ich fertig bin, starre ich auf den Vorhang vor dem Fenster und höre in der Ferne den Verkehrslärm. Ich stelle mir vor, wie Eva sich da draußen mit hochgezogenen Schultern und mit gesenktem Kopf stumm durch die Studentenmassen bewegt. Unsichtbar. Ihr einsames Dasein hält sie auf Distanz zu allen anderen. Keine Sicherheit, keine Zuwendung.
Ich kann ihre Entscheidung, zu verschwinden, gut verstehen.
Ich trinke den Rest meines kalten Kaffees, esse die letzte Zimtschnecke und wünschte, ich könnte mir das Doc wieder ansehen. Ich denke daran, wie Rory eine Reisetasche packt, ein kleines Team zusammenstellt und sich mit Bruce abspricht. Ein Kurztrip nach Kalifornien aus persönlichen Gründen. Und Danielle, ruhig und wachsam, macht sich Notizen und wartet auf eine weitere Gelegenheit, mir zu berichten, was sie weiß.
In genau diesem Moment bekomme ich eine Antwort von Kate Lanes Produktionsassistent.
Miss Lane ist definitiv an dieser Story interessiert. Aber wir werden Ihre Behauptung überprüfen müssen, bevor wir die Sache voranbringen. Bitte schicken Sie uns eine Nummer, unter der wir Sie erreichen, damit wir sicherstellen können, dass Sie auch diejenige sind, für die Sie sich ausgeben.
Ich rufe die Einstellungen von Evas Handy auf, finde ihre Nummer und tippe sie direkt in meine Antwortmail ein. Zehn Minuten später klingelt das Handy, und ich stürze mich darauf. »Hallo?«
»Mrs. Cook, hier ist Kate Lane.«
Meinen eigenen Namen zu hören, klingt seltsam in meinen Ohren, und ich fühle mich irgendwie ausgeliefert. »Danke, dass Sie mit mir sprechen wollen«, sage ich.
»Nun, das ist eine interessante Geschichte. Aber zuerst müssen Sie mir erklären, wieso Sie nicht tot sind, obwohl das NTSB
behauptet, Sie seien in dieses Flugzeug gestiegen.«
Die Jahre des Schweigens haben sich in mir aufgetürmt, die Geheimnisse, die ich so lange bewahrt habe, die Überzeugung, dass niemand die Wahrheit wissen will. Ich beginne ganz langsam zu erzählen, schildere Rorys Misshandlungen, wie verzweifelt ich versuchte, ihn zu verlassen, wie mein Plan, in Detroit unterzutauchen, scheiterte und wie Rory dahintergekommen war. »Und dann habe ich auf dem Flughafen eine Frau getroffen. Ihr Name war Eva James, und sie erklärte sich bereit, die Flugtickets mit mir zu tauschen. Als ich gelandet war, erfuhr ich, dass die Maschine nach Puerto Rico abgestürzt war. Jetzt sitze ich hier fest, ohne Geld und ohne Möglichkeit, zu verschwinden. Deshalb habe ich einen Job bei einer Catering-Firma angenommen.« Ich erzähle ihr von dem Video auf TMZ
und dass Rory deswegen jetzt auf dem Weg nach Kalifornien ist.
»Dann ist an Ihrer Stelle also Eva James bei dem Absturz ums Leben gekommen?«
Ich schließe die Augen, denn ich weiß, dass ich vorsichtig sein muss. Ich kann Eva am besten schützen, wenn ich die Leute, die hinter ihr her sind, glauben lasse, sie sei tot. »Ja«, sage ich.
»O mein Gott«, haucht Kate. Dann scheint sie sich zu sammeln. »Ich denke, wir sollten besser bei Maggie Moretti weitermachen.«
»Ich besitze eine Aufnahme von meinem Mann und seinem Assistenten Bruce Corcoran. Darauf sprechen sie über eine Frau namens Charlotte Price, die direkte Kenntnis von der Verstrickung meines Mannes in Maggie Morettis Tod hat.«
Es folgt eine kurze Pause, in der Kate Lane diese Information erst einmal sacken lässt. »Wann wurde diese Aufnahme gemacht?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestehe ich. »In den letzten Tagen. Meine Assistentin hat sie gemacht und mir irgendwann gestern Abend geschickt. Sie ist bereit, die Echtheit dieses Mitschnitts zu bestätigen.«
Kate scheint darüber nachzudenken. »Bevor wir etwas unternehmen, muss ich mir die Aufnahme anhören. Können Sie sie meinem Produzenten per SMS
schicken?« Sie rasselt eine Nummer herunter, und ich verschicke die SMS
.
Kurz darauf höre ich, wie die Aufnahme am anderen Ende der Leitung abgespielt wird. Das Klopfen. Danielles Stimme, dann die Stimmen von Rory und Bruce. Nachdem sie die Aufnahme gehört hat, stößt Kate einen Seufzer aus und sagt mit sanfter Stimme: »Mrs. Cook, es tut mir leid, aber wir können das nicht senden.«
»Was soll das heißen?« Das war meine letzte Chance. Ich habe alle Karten auf den Tisch gelegt – verraten, wer ich bin und was ich getan habe –, und das Ergebnis ist trotzdem dasselbe. »Er gibt beinahe zu, dass er verantwortlich war.«
»Das genügt nicht«, meint Kate. »Sein Assistent fasst die Vorwürfe zusammen, und obwohl Ihr Mann nicht widerspricht, ist das noch kein Geständnis.«
»Er ist auf dem Weg nach Kalifornien«, erzähle ich ihr. »Er weiß, was ich getan habe. Diese Aufnahme ist das Einzige, was ihn aufhalten könnte.«
»Ich möchte Ihnen helfen«, sagt sie. »Was Sie mir erzählt haben, ist an sich schon ungeheuerlich. Eine misshandelte Ehefrau, ein Ehemann, der für den Senat kandidieren will, zwei Frauen, die sich am Flughafen treffen und ihre Tickets tauschen. Kommen Sie in meine Sendung, und erzählen Sie Ihre Geschichte.«
Ich wische mir mit der Hand über die Augen und sage: »Und wie all die anderen Frauen, die gegen einflussreiche Männer ausgesagt haben, werde ich die Geächtete sein, während er dem Kongress entgegeneilt.«
»Ihre Sorge ist berechtigt«, sagt sie. »Aber damit gewinnen Sie Zeit. Während Sie Ihre Geschichte erzählen, können sich andere mit der Verbindung zwischen Ihrem Mann und Maggie Moretti befassen. Ihre Assistentin soll die Aufnahme an den Bezirksstaatsanwalt von New York schicken. Wir werden Charlotte Price aufsuchen, um zu sehen, ob sie sich offiziell äußern möchte. Wenn es da irgendetwas gibt, werden wir es herausfinden.«
Ich höre sie im Hintergrund in Papieren blättern, dann eine dumpfe Stimme. »Ich lasse Sie in unser Studio in San Francisco bringen. Sagen Sie mir, wo Sie sind, und ich schicke Ihnen einen Wagen vorbei.«
Ich nenne ihr den Namen des Motels, bin verunsichert und aufgeregt. Öffentlich darüber zu reden, was Rory mir angetan hat, ist nicht das, was ich wollte.
»Ich melde mich, falls wir etwas herausfinden«, sagt Kate. »Der Wagen sollte in etwa einer Stunde bei Ihnen sein. Halten Sie sich bereit.«
»Das werde ich. Danke.«
Ich fange an, meine Sachen zu packen, und stopfe sie wahllos in meine Reisetasche. Morgen um diese Zeit werde ich wieder Claire Cook sein, den ganzen Ballast auf mich nehmen, der damit einhergeht, und mich dem Medienzirkus stellen, den meine Anschuldigungen auslösen werden. Ich denke an Eva, die irgendwo da draußen ist, und hoffe, dass zumindest sie dadurch endgültig befreit wird.
Als es an der Tür klopft, fahre ich zusammen. Ich habe Angst, dass Rory vielleicht New York ohne Danielles Wissen verlassen und mich irgendwie hier ausfindig gemacht hat. Dass die Leute von CMM
nur noch ein leeres Zimmer vorfinden werden.
Ich spähe durch die Vorhänge und sehe einen Mann. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt, und ich erhasche einen kurzen Blick auf ein Pistolenhalfter unter seinem Mantel.
»Kann ich Ihnen helfen?«, rufe ich durch die Tür.
Der Mann lächelt und zückt eine Dienstmarke. »Mein Name ist Castro. Und ich würde gerne mit Ihnen über Eva James sprechen.«