CLAIRE
Montag, 28. Februar
Ich starre Agent Castro an und fühle mich, als würde die Erde unter meinen Füßen beben. »Ich weiß nicht, wer das ist.«
Er schiebt die Sonnenbrille in sein Haar und meint: »Ich denke doch. Sie haben gerade mit ihrem Handy telefoniert.« Mein Blick huscht zu Evas Telefon auf der Kommode, und ich frage mich, woher er das weiß. »Dann versuchen wir es anders«, fährt er fort. »Guten Tag, Mrs. Cook. Schön, zu sehen, dass es Ihnen gut geht. Mein Name ist Castro, und ich bin DEA
-Ermittler. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.« Hinter ihm auf dem Parkplatz steht eine anonyme Limousine mit Behördenkennzeichen. »Vielleicht sollten wir ins Haus gehen«, schlägt er vor. Sein Ton ist freundlich, aber bestimmt. Ich nicke und mache die Tür weiter auf, um ihn hereinzulassen.
Wir setzen uns an dem kleinen Tisch am Fenster einander gegenüber. Er zieht die Vorhänge auf, um Licht in den winzigen Raum zu lassen. »Ich wüsste gerne, woher Sie Eva James kennen.«
»Eigentlich kenne ich sie gar nicht.«
»Und trotzdem haben Sie bis gestern in ihrem Haus gewohnt.« Er deutet auf Evas grünen Mantel, der über einem Stuhl hängt. »Und Sie tragen ihre Kleider.« Dann hält er sein Handy hoch. »Mrs. Cook, wir haben Miss James mehrere Monate überwacht. In Zusammenhang damit haben wir auch ihr Handy geklont.«
»Geklont?«, frage ich. »Was bedeutet das?«
Er lehnt sich zurück und mustert mich. Sein eindringlicher Blick ist mir unangenehm. Schließlich sagt er: »Das bedeutet, dass wir alles wissen, was Sie mit dem Handy machen. Wir erhalten Kopien von sämtlichen Textnachrichten und E-Mails. Wenn dieses Handy klingelt, wissen wir es. Wir hören sämtliche Gespräche und Sprachnachrichten.«
Ich muss an das Gespräch denken, das ich gerade mit Kate Lane geführt habe. An Danielles Mitteilungen und an die Sprachaufnahme. Und ich weiß jetzt, warum Eva ihr Handy zurückgelassen hat. »Wusste sie das?«
Castro schüttelt den Kopf. »Sie hat uns bei einer laufenden Ermittlung geholfen. Und wir konnten nicht riskieren, dass sie ihre Verhaltensweise gegenüber den Leuten, mit denen sie zusammenarbeitete, änderte. Aber wir waren beunruhigt, weil Eva bei einem arrangierten Treffen letzte Woche nicht aufgetaucht ist. Und dann sind Sie gekommen.«
Ich blicke auf meine Hände in meinem Schoß. Ich denke an das Auto, das Kate Lane vorbeischicken will, und überlege, ob Castro mich wohl einsteigen lässt, oder ob ich so lange hierbleiben und seine Fragen beantworten muss, bis Rory kommt.
»Warum fangen wir nicht damit an, wie Sie Eva kennengelernt haben?«, sagt er.
»Wenn Sie meine Gespräche mitgehört haben, dann wissen Sie das bereits.«
»Na gut. Dann erzählen Sie mir mehr darüber, was am Flughafen passiert ist. Wessen Idee war es, die Plätze zu tauschen?«
Ich bin mir nicht sicher, wie ich meine Rolle beschreiben soll. Bin ich ein Opfer? Eine Mitverschwörerin? Ich war nichts davon, nur eine Frau, die verzweifelt nach einer Lösung suchte. Irgendeiner Lösung. »Eva hat mich angesprochen«, sage ich schließlich.
Castro nickt. »Welchen Eindruck hat sie auf Sie gemacht?«
»Diese Frage kann ich unmöglich beantworten, weil alles, was sie mir erzählte, eine Lüge war.« Ich muss daran denken, wie sie in ihren Drink gestarrt hat, als ob alle Last der Welt auf ihren Schultern ruhen würde, und ich weiß, dass ihre Angst trotz aller Lügen echt war. »Sie hatte Angst«, sage ich.
»Dazu hatte sie auch allen Grund. Ist irgendjemand zu ihrem Haus gekommen, um sie zu suchen?«
Ich erzähle ihm von dem Mann, der auf der Veranda aufgetaucht ist, was er gesagt und was er nicht gesagt hat.
»Beschreiben Sie ihn«, sagt Castro.
»Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein bisschen älter, hatte dunkles Haar und olivfarbene Haut. Er trug einen langen Mantel und hatte diese irren grauen Augen. Nicht ganz blau.«
»Haben Sie irgendwelche Drogen gesehen, während Sie in Evas Haus
wohnten?«
»Nein.« Ich muss an das Kellerlabor denken. An die vielen Stunden, die Eva dort unten verbracht haben muss, und was es sie gekostet hat. Ich denke auch an die notariell beglaubigten Briefe und Aufnahmen, die sie gewissenhaft gesammelt und dokumentiert hat. Wenn ich sie jetzt aushändige, hat Castro alles, was er braucht. Oder zumindest so viel, wie Eva ihm geben kann. Was vielleicht ausreicht, um ihre Versprechen zu erfüllen.
Ich hole den Umschlag und das Aufnahmegerät und schiebe beides über den Tisch zu Castro. »Das habe ich gestern gefunden, als ich ihren Keller entdeckt habe.«
Castro legt das Aufnahmegerät beiseite und blättert Evas Erklärung durch. Dann notiert er die Notar-Information in einem kleinen Notizbuch.
»Ich hatte keine Ahnung, wovor sie davonlief. Sie erzählte mir, dass ihr Mann gerade an Krebs gestorben wäre und dass sie Sterbehilfe geleistet hätte. Und deshalb bekäme sie vermutlich Schwierigkeiten.« Als ich die Geschichte erzähle, klingt sie fast noch verrückter als damals. »Sie müssen verstehen, dass ich verzweifelt genug war, um so ziemlich alles zu glauben. Und ich denke, sie wusste das.«
»Eva hatte jahrelange Übung darin, Menschen zu täuschen. Sie machte ihre Sache wirklich gut. Und das musste sie auch, um so lange durchzuhalten.« Er beugt sich nach vorn und stützt die Ellbogen auf den Tisch. »Sie müssen wissen, dass es mein Job ist, Drogendelikte zu untersuchen«, sagt er. »Keine Betrugsdelikte. Keinen Identitätsdiebstahl. Ich ermittle nicht gegen Sie.« Nun, da seine Fragen beantwortet sind, klingt seine Stimme gedämpfter, und ich erhasche einen Blick auf den Mann unter der harten Schale, auf jemanden, der mir wirklich helfen will. »Soweit ich verstanden habe, verstecken Sie sich vor ihrem Ehemann?«
»Ja.«
»Ich bin nicht hier, um sie in Schwierigkeiten zu bringen, Mrs. Cook. Aber Eva hat mir geholfen, und ich muss wissen, was mit ihr passiert ist. Was sie Ihnen erzählt hat.«
»Nichts, was der Wahrheit entspricht«, sage ich. »Nichts davon hat gestimmt.«
Er sieht in dem Moment aus dem Fenster, als ein schwarzes Auto neben seiner Limousine parkt. »Ich glaube, Ihr Wagen ist da.«
Wir erheben uns, und ich öffne die Tür.
»Claire Cook?«, fragt der Fahrer. Er ist groß, Mitte zwanzig und trägt einen dunklen Anzug, dessen Ärmel gerade noch das Tattoo an seinem rechten Handgelenk bedeckt. In den Ohren trägt er diese riesigen Ringe, die die Löcher in seinen Ohrläppchen enorm dehnen.
Berkeley. Wo jeder noch ein bisschen schräger ist als man selbst.
Als er meine Reisetasche im Kofferraum verstaut, bemerke ich, wie sein Blick auf Castros Waffe unter seinem Mantel fällt. Er schaut weg, schlägt den Kofferraumdeckel zu und bleibt ein wenig abseits stehen, um unsere restliche Unterhaltung nicht zu stören.
Agent Castro stellt sich vor die Fahrertür seiner Limousine. »Viel Glück«, sagt er und schüttelt mir die Hand. »Wenn es sich machen lässt, würde ich mich gerne noch mal bei Ihnen melden, bevor Sie die Stadt verlassen. Ich nehme an, Sie gehen nach New York zurück.«
»Klar«, sage ich und blicke zur Straße, wo Autos und Busse an dem Motel vorbeirauschen. »Aber was als Nächstes passiert, hängt von den kommenden Stunden ab. Wie viel Ärger ich bekommen werde und ob irgendjemand das glauben wird, was ich zu sagen habe.«
»Falls Ihr Mann etwas damit zu tun hat, was Maggie Moretti passiert ist, spielt es keine Rolle, ob man Ihnen glaubt oder nicht. Die Beweise werden Ihnen Rückhalt verleihen.«
Ich wende den Blick von der Straße ab und sehe ihn an. »Sie kennen die Cooks schlecht, wenn Sie glauben, sie würden sich nicht wehren. Für Leute wie sie gelten andere Regeln.«
Ich warte darauf, dass Castro mir erklärt, dass ich mich irre, aber er tut es nicht. Selbst er weiß, dass man mit Geld alle möglichen Probleme lösen kann.
»Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, sagt er schließlich. »Gehen Sie so bald wie möglich ins Fernsehstudio. Ihr Mann kann Ihnen nichts anhaben, wenn die ganze Welt weiß, dass Sie noch am Leben sind.«
Der Verkehr auf dem Weg in die Stadt ist furchtbar. Wir kommen nur sehr langsam auf die Bay Bridge, die komplett mit Autos verstopft ist. Ich sitze auf dem Rücksitz und starre aus dem Fenster. Mein Blick wandert hinüber zu der Insel Alcatraz, die klein und gedrungen in der Mitte der Bucht liegt, umgeben von schiefergrauem Wasser.
Der Fahrer stellt den Rückspiegel neu ein, damit er mich besser sehen kann. Dabei rutscht sein Ärmel noch weiter nach oben, und ich werfe
wieder einen kurzen Blick auf seinen tätowierten Arm. »Ist es okay, wenn ich das Radio anmache?«, fragt er.
»Klar«, sage ich.
Er dreht so lange am Radioknopf, bis er bei leiser Jazzmusik landet. Ich hole Evas Handy aus meiner Handtasche, um auf die Uhr zu schauen, und da sehe ich, dass ich eine SMS
von Danielle bekommen habe.
Ich habe gerade erfahren, dass Mr. Cook schon vor Ort in Berkeley einen Typen angeheuert hat, um Sie zu suchen. Einen Einheimischen. Man hat mir gesagt, dass er sehr groß ist und ein Tattoo auf dem rechten Arm hat. Also seien Sie vorsichtig.