EVA
New Jersey
Februar
Ein Tag vor dem Absturz
Ellie – oder besser gesagt, Danielle – sah nicht so aus, wie Eva sich Liz’ Tochter vorgestellt hatte. Statt der alternativ anmutenden Frau, die sie sich ausgemalt hatte, einer Frau, die lange, weite Röcke trug und für eine gemeinnützige Organisation arbeitete, stand ihr nun eine Businesslady gegenüber, die ihr dunkles Haar im Nacken zu einem klassischen Knoten gebunden hatte. Sie trug Perlen, ein maßgeschneidertes Kostüm und flache Schuhe. Aber die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war nicht zu übersehen. Danielle hatte die schlanke Statur ihrer Mom, und ihre ebenen Gesichtszüge spiegelten nahezu die der Freundin wider, die Eva liebgewonnen hatte. Aber während Liz ruhig und ausgeglichen war, schien Danielle aufgeregt zu sein.
Liz erhob sich und gab ihrer Tochter einen Kuss. »Kommst du jetzt erst von der Arbeit? Es ist schon spät.«
Danielle ignorierte die Frage ihrer Mutter und sagte zu Eva: »Ich wusste nicht, dass Sie in die Stadt kommen.«
Danielles Worte klangen vorwurfsvoll, und Eva verspürte ein leichtes Unbehagen. Sie musste vorsichtig sein. »Ein Last-Minute-Trip«, erklärte sie. »Schnell hin und wieder zurück.«
»Warum?« Danielles Blick ruhte auf Eva.
»Weil sie es wollte«, schaltete sich Liz ein und warf ihrer Tochter einen warnenden Blick zu.
»Ein Kurzbesuch bei Freunden«, sagte Eva in der Hoffnung, die Situation ein wenig zu entschärfen. »Morgen muss ich wieder zurück.«
Danielle wartete einen Moment, als ob sie sehen wollte, ob Eva noch weitere Details ausspucken würde. Als sie es nicht tat, sagte Danielle: »Mom, kann ich mal nebenan mit dir reden?«
Zaghaft wandte sich Liz an Eva. »Mach es dir bequem. Ich bin gleich wieder da.«
Die beiden Frauen steckten im Wohnzimmer die Köpfe zusammen, und Danielle konnte sie flüstern hören. Sie erhob sich vom Sofa und begab sich in die Küche, unter dem Vorwand, sich die Fotos am Kühlschrank anzusehen.
»Was ist los mit dir?«, zischte Liz.
»Tut mir leid. Ich bin erschöpft und gestresst, und ich muss noch für eine Reise nach Detroit morgen packen«, erklärte Danielle. »Ich hatte keinen Gast erwartet.«
»Was gibt es in Detroit?«
»Morgen veranstaltet die Stiftung dort ein Event. Eigentlich sollte ich Mrs. Cook begleiten, aber gerade habe ich erfahren, dass Mr. Cook sie stattdessen nach Puerto Rico schickt. Er will selbst nach Detroit.« Danielle seufzte. »Es tut mir leid, dass ich so bissig war, aber diese Reiseplanänderung in letzter Minute macht mich nervös. Irgendwas stimmt da nicht.«
»Inwiefern?«
»Mrs. Cook hat sich seit Monaten nur noch auf diese Reise konzentriert. Irgendwie ist das ungewöhnlich für sie.«
»Ich glaube, du arbeitest zu viel. Du machst dir Gedanken über Sachen, die es gar nicht gibt.« Liz’ Stimme klang beruhigend, und Eva stellte sich vor, wie sie Danielles Hand nahm und sie drückte.
»Ich glaube nicht, Mom. Da gibt es noch andere merkwürdige Dinge. Ihr Fahrer hat mir letzten Monat erzählt, dass sie allein mit dem Auto nach Long Island gefahren ist. Das Navigationssystem hat sie auf dem ganzen Weg bis zur Ostspitze geortet. Dabei kennt sie niemanden, der dort wohnt. Und ich musste ein paarmal wegen finanzieller Unstimmigkeiten für sie einspringen. Abhebungen. Belege, die nicht zuzuordnen sind.« Eva konnte die Besorgnis in Danielles Stimme hören, die Anspannung vom ständigen Beobachten und Warten. »Ich glaube, sie will ihn verlassen.«
»Gut. Endlich.«
»Ja, aber ich glaube nicht, dass die Reise nach Puerto Rico Teil ihres Plans ist. Wohl eher die Reise nach Detroit.«
»Meinst du, Mr. Cook weiß Bescheid?«
»Nein, aber wenn sie das irgendwie durcheinanderbringt …« Sie verstummte. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass sie allein reist oder mit Leuten, die nur dem unglaublichen Rory Cook
gegenüber loyal sind. Und jetzt muss ich nach Detroit und so tun, als wäre ich eine von ihnen, obwohl ich seinen Anblick kaum ertragen kann, weil ich weiß, wie er sie terrorisiert.«
»Wenn sie klug ist, wird sie nach Puerto Rico fliegen und nie mehr zurückkommen.«
Eva hatte aufgehört, so zu tun, als würde sie sich die Fotos ansehen. Stattdessen konzentrierte sie sich jetzt ganz darauf zuzuhören, wie sich diese Geschichte entwickelte, um die einzelnen Teile des Puzzles zusammenzufügen.
Blitzschnell rannte sie aus der Küche zur Couch, schnappte sich ihren Laptop und stellte ihn auf den Tresen, von wo aus sie noch weiter zuhören konnte. Während die beiden Frauen sich unterhielten, googelte Eva Rory Cook, Ehefrau
und betrachtete das Bild, das auf dem Bildschirm erschien. Eine hübsche Frau, deren dunkles Haar ihr Gesicht umrahmte, die teure, modische Kleidung trug und einen Bürgersteig in New York entlangging. Die Bildunterschrift lautete: Rory Cooks Frau Claire besucht das neue Restaurant Entourage auf der Upper West Side.
Nebenan sagte Danielle: »Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es eine Option für sie ist, in Puerto Rico zu bleiben. Ich finde es schrecklich, dass sie gehen muss, dass sie morgens aufwachen wird und ausgerechnet Bruce ihr von der Planänderung erzählen und sie zum JFK
bringen wird.« Mit einem ungeduldigen Seufzer fuhr sie fort: »Jedenfalls tut es mir leid, dass ich so grob zu Eva war. Sie ist bestimmt reizend. Warum ist sie wirklich in der Stadt?«
Eva hielt die Luft an und starrte auf Claire Cooks Gesicht, nahm es aber nicht mehr wahr. Stattdessen wartete sie, um zu hören, ob Liz ihre Geheimnisse bewahren oder ihrer Tochter als kleinen abendlichen Snack servieren würde.
»Eva hatte eine Pechsträhne«, erklärte Liz. »Aber alles wird wieder gut. Sie ist eine Überlebenskünstlerin.«
Eva stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.
»Also gut«, sagte Danielle. »Ich muss packen, weil wir bei Tagesanbruch abreisen. Weißt du, wo mein schwarzer Wollmantel ist?«
»Ich glaube, oben im Schlafzimmerschrank. Mal sehen, ob ich ihn finde.«
»Danke, Mom.«
Was für ein simpler Satz, der wahrscheinlich schon hunderttausendmal ausgesprochen wurde. Und dennoch brachte die Macht der Worte Eva beinahe zum Weinen. Wie es wohl war, jemanden zu haben, der immer hinter einem stand? Sie dachte, sie hätte in Liz diese Person gefunden. Aber wenn sie sah, wie vertrauensvoll sie mit ihrer Tochter umging, dann wurde Eva bewusst, dass sie und Liz lediglich eine enge Freundschaft verband. Und sie kam sich dumm vor, weil sie geglaubt hatte, da wäre mehr zwischen ihnen. Was würde Liz ihrer Tochter wohl raten, wenn diese an Evas Stelle wäre? Würde sie Danielle auch darin bestärken, sich den Behörden zu stellen? Oder würde sie ihrer Tochter bei der Flucht helfen?
Sie sah wieder auf den Bildschirm und stellte sich vor, was Claire Cook morgen wohl denken würde, wenn sie aufwachte und erfuhr, dass ihr Mann ihre Reisepläne geändert hatte. Dass sie von JFK
aus in ein Tropenparadies fliegen sollte, und nicht ins kalte Detroit. Vielleicht wäre es ihr egal. Vielleicht irrte sich Danielle in Bezug auf die Bedeutung dieser Reise. Aber wenn sie recht hatten, wenn Claire ihre Flucht plante, dann würde sie verzweifelt nach einer Lösung suchen. Nach einem anderen Ausweg.
Und Eva hatte vielleicht gerade die Lösung gefunden.
»Was machen Sie da?«
Eva fuhr herum und sah Danielle in der Tür stehen. Sie hatte die Tasche in der Hand, die sie zuvor dort abgestellt hatte. Eva klappte den Laptop zu und hoffte, dass Danielle nicht zu viel gesehen hatte. »Nichts«, sagte sie mit einem ausdruckslosen Lächeln.
Sie hielt Danielles Blick stand, bis diese sich schließlich abwandte und nach oben ging, um zu packen.
Eva klappte den Laptop wieder auf und wählte die Website ihrer Airline. Sie klickte auf Meine Reservierung ändern
und ersetzte im Auswahlmenü Newark
durch JFK
. Dabei hallten Liz’ Worte in ihrem Kopf wider. Sie ist eine Überlebenskünstlerin.
Eva war entschlossen, das zu beweisen.