CLAIRE
Montag, 28. Februar
Ich presse meinen Rücken in den Sitz, und mein Blick huscht von Danielles SMS zur rechten Hand des Fahrers, die lässig auf dem Lenkrad liegt. Ein Tattoo auf dem rechten Arm.
In Gedanken sehe ich wieder den Parkplatz vor dem Motel, und mir fällt ein, dass der Fahrer mit keinem Wort das CNN -Studio erwähnt hat. Er hat nur meinen Namen genannt, Claire Cook , und ich bin wie ein Idiot in den Wagen gestiegen.
Autos bedrängen uns von allen Seiten. Stahlkabel ragen über einem schmalen Fußweg in den Himmel, und dahinter geht es sechzig Meter in die Tiefe, ins kalte Wasser unter uns.
Castros Rat, so bald wie möglich ins TV -Studio zu gehen, klingt jetzt wie Hohn. Dieser Mann wird mich ganz woanders hinbringen – vielleicht zu einem verlassenen Strand oder noch weiter weg nach Norden, um das Ganze zu beenden.
Ein grüner Jetta taucht neben uns auf, mit einer Frau am Steuer. Ihre Lippen bewegen sich im stummen Gespräch mit jemandem, den ich nicht sehen kann. Ich bin nur einen knappen Meter von ihr entfernt, so nah, dass ich ihren pinkfarbenen Nagellack und die zarten silbernen Creolen an ihren Ohren sehen kann. Ich kämpfe gegen die Tränen an und versuche nachzudenken. Wird sie mich hören, wenn ich schreie?
Unser Wagen fährt einige Meter, bevor er wieder halten muss, und jetzt fällt mein Blick auf einen weißen Kastenwagen ohne Fenster. Meine Augen verfolgen die winzigen Lücken zwischen den Autos, ein sich stetig veränderndes Labyrinth, in dem sich die Fahrzeuge Zentimeter um Zentimeter vorwärts schieben. Ich werde aus dem Auto springen und davonlaufen müssen.
Auf dem Fahrstreifen neben uns beginnt sich der Verkehr zu bewegen, und wieder sehe ich zu der Frau in dem grünen Jetta hinüber. Sie wirft den Kopf zurück, lacht und merkt nicht, dass ich hinter meiner getönten Glasscheibe sitze und sie beobachte.
In etwa dreißig Metern Entfernung taucht ein dunkler Tunnel auf, mit Hinweisschildern für Treasure Island. Der Fahrer sieht in den Rückspiegel, und unsere Blicke treffen sich wieder. »Wenn wir erst einmal durch den Tunnel durch sind, wird sich der Verkehr beruhigen«, meint er.
Ein dunkler Tunnel könnte ein geeigneter Ort sein, um auszusteigen.
Ich lege meinen Arm auf den Fensterrahmen und presse meine schweißnassen Handflächen gegen die Tür. Vorsichtig ziehe ich den Türknopf heraus, beobachte den Fahrer im Rückspiegel und vergewissere mich, dass sein Blick auf die Straße gerichtet ist.
Ich habe nur einen Versuch.
Jazzmusik erfüllt das Innere des Wagens, der Rhythmus ist schnell und unregelmäßig wie mein Pulsschlag. Ich presse meine Handtasche fest an mich und vergewissere mich, dass sie sicher über meiner Schulter hängt. Ich lege eine Hand auf den Verschluss des Sicherheitsgurts und die andere auf den Türgriff, bereit, die Tür aufzustoßen und hinauszuspringen. Wenn ich um Hilfe schreie, wird sicher jemand anhalten.
Ich reguliere meine Atmung und zähle die Meter herunter, bis der Wagen in den dunklen Tunnel eintaucht.
Zwanzig Meter.
Zehn.
Fünf.
Der Fahrer sieht mich wieder im Spiegel an. »Alles okay?«, fragt er. »Sie sehen ein wenig blass aus. Ich habe Wasser dabei, wenn Sie was brauchen. Wenn wir erst einmal von der Brücke runter sind, ist das CNN -Studio nur noch ein paar Häuserblocks entfernt. Es ist jetzt nicht mehr weit.«
Ich spüre, wie die Luft aus mir herausströmt, und lasse mich gegen die Rückenlehne fallen. Die zitternden Hände vergrabe ich in meinem Schoß. CNN. Nicht Rory. Ich fühle mich benommen und erleichtert. Ich kneife die Augen zusammen und bemühe mich, nicht zusammenzubrechen.
Das ist der Preis des Missbrauchs. Er hat meine Gedanken völlig durcheinandergebracht, und ich weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Ganz rational betrachtet, sehe ich natürlich ein, wie unmöglich es für sie gewesen wäre, mich so leicht zu finden. Und dennoch hat mich Rorys jahrelanger Einfluss dazu gebracht, ihm fast übermenschliche Kraft zuzugestehen. Die Kraft, mein Versteck zu kennen, all meine Gedanken und Ängste zu durchschauen und sie für seine Zwecke zu nutzen.
Schließlich beschleunigt der Wagen, und wir fahren in den Tunnel. Die Dunkelheit ist nur kurz, und schon bald sind wir auf der anderen Seite. Wie durch Zauberhand erhebt sich die ganze Stadt vor uns. Die schneeweißen Gebäude schimmern in der frühen Nachmittagssonne.
»Mrs. Cook?«, sagt der Fahrer wieder und hebt eine kleine Wasserflasche hoch.
»Es geht mir gut«, sage ich mehr zu mir selbst als zu ihm.
Eilmeldung: Wir unterbrechen unser reguläres Programm und schalten jetzt live zu Kate Lane in Washington, D.C., mit einer Geschichte, die gerade eben aus Kalifornien eingetroffen ist. Kate?
Ich höre Stimmen in meinem Ohr, obwohl ich allein auf einem Stuhl vor einer grünen Wand sitze. Mehrere Produzenten und Assistenten drängen sich um die Kamera, die auf mich gerichtet ist. Das rote Licht, das anzeigt, dass ich auf Sendung bin, leuchtet noch nicht. Daneben ist auf einem Bildschirm Kate Lane in ihrem Studio in Washington zu sehen. Die Übertragung landet direkt auf meinem Kopfhörer. Ich bin immer noch benommen von dem Adrenalin, doch die eisige Temperatur im Studio macht meinen Kopf etwas klarer. An der gegenüberliegenden Wand des Studios hängt eine große Digitaluhr. Es ist 13.22 Uhr. Ich sehe zu, wie die Sekunden verstreichen, und versuche, meinen Herzschlag anzupassen.
Kurz nachdem ich im CNN -Studio angekommen bin, schwach und zittrig, hat ein Produzent mir ein iPad überreicht, auf dem Kate Lane mich per Video-Chat anrief. Sie hatte mit Danielle sprechen können, und sie hatte zugesagt, die Aufnahme an den Generalstaatsanwalt des Staates New York zu schicken. Kates Informanten in der Behörde teilten ihr mit, dass es schon sehr bald Neuigkeiten hinsichtlich der nächsten Schritte geben würde. Charlotte Price war ebenfalls ausfindig gemacht worden, und sie war bereit, sich offiziell zu äußern – sobald ihr Anwalt Rechtsmittel einreichen konnte, um die Vertraulichkeitsvereinbarung, die sie vor langer Zeit unterschrieben hatte, für nichtig erklären zu lassen.
»Jetzt ist es also an Ihnen, Ihre Geschichte zu erzählen«, sagte Kate. »Vermitteln Sie uns ein Bild von Ihrer Ehe. Erzählen Sie uns, wie Ihr Mann war und wovor Sie davonlaufen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde milde. »Ich muss Sie darauf vorbereiten, was vermutlich passiert, wenn Sie an die Öffentlichkeit gehen. Die Leute werden sich auf Sie stürzen. Auf Ihre Vergangenheit. Sie werden gehässige Dinge über Sie und zu Ihnen sagen, und zwar in aller Öffentlichkeit. Dabei spielt es keine Rolle, auf wessen Seite die Leute stehen – auf Ihrer oder auf der Ihres Mannes. Ihr Leben wird rücksichtslos unter die Lupe genommen. Jede Entscheidung, die sie getroffen haben. Jede Person, mit der sie gesprochen haben. Ihre Familie. Ihre Freunde. Ich bin verpflichtet, Sie darüber aufzuklären, bevor wir weitermachen.«
Kate sprach genau das aus, was ich so viele Jahre befürchtet hatte, und ich zögerte und überlegte, einen Rückzieher zu machen und Danielles sowie Charlies Beweisen das Feld zu überlassen. Niemand musste Details über meinen Missbrauch erfahren, um Rory mit Maggie Morettis Tod in Verbindung zu bringen.
Aber wenn ich es nicht täte, wäre ich dazu verdammt, immer wieder Momente wie den auf der Brücke zu erleben. Ich wäre nie wirklich frei, wenn ich davonliefe und mich versteckte. Ich wäre mitschuldig an Rorys Verbrechen, solange ich ihn weiter schützte. Die Welt musste meine Geschichte nicht hören, aber ich musste sie erzählen. »Verstehe«, sagte ich.
»Wir sind in fünf Sekunden auf Sendung«, ruft jemand jetzt.
»Guten Abend.« Ich höre Kates Stimme so deutlich in meinem Kopfhörer, als würde sie direkt neben mir sitzen. »In der letzten Stunde haben Anwälte von Rory Cook, dem Vorsitzenden der Cook Familienstiftung und Sohn der verstorbenen Senatorin Marjorie Cook, Anfragen bezüglich des Todes von Maggie Moretti bearbeitet, die vor siebenundzwanzig Jahren auf einem Anwesen der Familie Cook ums Leben kam. Aber noch ungewöhnlicher ist die Tatsache, dass die Behörden diese Information von Mr. Cooks Ehefrau erhalten haben, von der man zuvor geglaubt hatte, sie wäre mit Flug 477 abgestürzt. CNN hat herausgefunden, dass sie am Leben ist und sich in Kalifornien aufhält. Wir haben sie jetzt hier, über Satellit, um mit ihr über die Anschuldigungen gegen ihren Mann zu sprechen. Und darüber, warum sie der Meinung ist, sich verstecken zu müssen. Mrs. Cook, schön, Sie zu sehen.«
Das Licht an der Kamera vor mir leuchtet auf, und der Regisseur deutet auf mich. »Danke, Kate. Es ist schön, hier zu sein.« Meine Stimme verliert sich in dem leeren Raum, und ich versuche, mich auf den Fernsehmonitor zu konzentrieren, auf dem hinter mir die Skyline von San Francisco zu sehen ist.
»Mrs. Cook, erzählen Sie uns, was passiert ist, und wie es kam, dass Sie heute hier sind.«
Jetzt, da ich hier bin, wird mir klar, dass alles genau so passieren sollte. Zu lange habe ich geglaubt, dass meine Stimme allein nicht ausreichen würde. Dass niemand die Wahrheit hören und mir helfen wollte. Aber als ich diese Hilfe am dringendsten brauchte, tauchten drei Frauen auf. Zuerst Eva, dann Danielle und schließlich Charlie. Wenn wir unsere eigenen Geschichten nicht erzählen, werden wir nie die Kontrolle über sie erlangen.
Ich straffe die Schultern und blicke direkt in die Kamera. Ich spüre, wie der Schrecken der letzten Stunde, der Stress der letzten Woche und die Angst der vergangenen zehn Jahre von mir abfallen, bis sie nur noch das leise Flüstern eines Schattens sind.
»Wie Sie wissen, stammt mein Mann aus einer sehr einflussreichen Familie mit unbegrenzten Mitteln. Aber was Sie nicht wissen, ist, dass unsere Ehe schwierig war. Für die Kameras war er charmant und dynamisch, aber hinter verschlossenen Türen wurde er ohne Vorwarnung gewalttätig. Für die Außenwelt waren wir ein glückliches und engagiertes Team, aber hinter der Fassade steckte ich in einer Krise. Ich hütete meine Geheimnisse, versuchte, mich mehr anzustrengen und besser zu sein. Ich bemühte mich, nach den unmöglichen Standards zu leben, die mein Mann für mich aufgestellt hatte, und bekam Angst, wenn es mir nicht gelang.
Wie viele Frauen in dieser Situation, steckte ich in einer Spirale von Missbrauch und Gewalt fest. Ich hatte Angst, ihn zu verärgern, Angst, den Mund aufzumachen, Angst, dass keiner mir glauben würde, wenn ich es tat. Ein solches Leben zermürbt einen Menschen nach und nach, bis er die Wahrheit nicht mehr sieht. Er hatte mich von allen isoliert, die mir hätten helfen können. Ich habe oft versucht, ihn zu verlassen. Die Wahrheit über meine Ehe zu erzählen. Aber mächtige Männer sind mächtige Gegner, und keiner wollte Rory Cook zum Feind haben. Der einzige Ausweg, den ich sah und der keinen öffentlichen Skandal oder einen langwierigen Rechtsstreit nach sich zog, war, einfach zu verschwinden.«
»Aber ausgerechnet ein Flugzeugabsturz?«
»Das war ein tragischer Zufall. Ich sollte eigentlich gar nicht in dem Flieger nach Puerto Rico sitzen. Ich hatte geplant, in Kanada unterzutauchen. Eine kurzfristige Planänderung machte alles zunichte. Aber dann traf ich am Flughafen eine Frau, die bereit war, mit mir die Tickets zu tauschen.« Ich muss an die Leute denken, die immer noch nach Eva suchen, und sage meinen Spruch auf. »Leider ist sie an meiner Stelle gestorben, und ich werde ihr ewig dankbar sein, dass sie es mir ermöglicht hat, zu fliehen.«
»Erzählen Sie uns, wovor Sie geflohen sind.«
Ich stelle mir vor, wie Rory irgendwo zum Fernseher gerufen wird, um sich die Wiederauferstehung seiner toten Frau anzuschauen. Wie die Wut in ihm hochsteigt und wie er hilflos dasteht, während ich seinen kostbaren Ruf ruiniere. »Fast von Beginn an beschimpfte er mich, weil ich zu laut lachte, zu viel oder zu wenig aß, seine Anrufe verpasste, oder mich bei einem Event zu lange oder nicht lange genug mit einer Person unterhielt. Es genügte schon, wenn ich einfach nur glücklich war. Gebrüll und Beleidigungen, gefolgt von tagelangem Schweigen und eisigen Blicken. Aber nach zwei Jahren Ehe ging das Geschrei in Schubsen über, und kurz darauf schlug er mich auch.«
Hinter mir auf dem Bildschirm wird ein Foto eingeblendet, ein Bild von Rory und mir am Strand in den Hamptons. Es war zuerst in People erschienen und wurde danach rasch eines der bevorzugten Archivbilder, die Nachrichtensender verwendeten, wenn sie über Rorys Privatleben berichteten. »Dieses Foto wurde im letzten Sommer aufgenommen. Sie können nur die Oberfläche sehen – ein Paar, das Händchen haltend am Strand spazieren geht. Was Sie nicht sehen können, ist alles, was sich dahinter verbirgt. Wie wütend mein Mann auf mich war, wie fest er meine Hand packte, so fest, dass mein Ring in den Finger daneben schnitt. Meine langen Ärmel verdeckten die blauen Flecken von der Nacht davor, als ich den Namen eines alten Freundes von Rory vergessen hatte. Sie können die Beule an meinem Hinterkopf nicht sehen, die ich mir zugezogen hatte, als er meinen Kopf gegen die Wand schlug, oder meine hämmernden Kopfschmerzen. Sie können nicht sehen, wie verloren ich mich fühlte. Wie allein.«
Ich blicke auf meine Hände hinab. Die Angst und die Verzweiflung, die ich in jenem Moment gespürt habe, steigen wieder in mir hoch. Ich fühle mich schlecht, weil ich das hier nie wollte, von jedem Hieb und jeder Demütigung berichten, um mich zu rechtfertigen.
Ich höre Kates ruhige Stimme. »Warum gehen Sie gerade jetzt damit an die Öffentlichkeit? Sie hatten es geschafft, zu verschwinden. Sie hatten sich in Kalifornien niedergelassen. Sie waren frei.«
»Ich war niemals frei. Vor allem hatte ich keine Identität und keine Möglichkeit, mir eine zu beschaffen. Ich hatte kein Geld. Keinen Job. Ich konnte vorübergehend bei einer Catering-Firma arbeiten, und das Resultat war, dass mein Bild auf TMZ gepostet wurde und ich quasi gezwungen war, an die Öffentlichkeit zu gehen.«
Ich blicke unverwandt in die Kamera und stelle mir vor, ich würde direkt zu Eva sprechen. Für eine kurze Zeit lebten wir in der gleichen Haut, lebten dasselbe Leben. Ich weiß Dinge über sie, die kein anderer weiß. Und das verbindet mich mit dieser Frau, ein hauchdünner Faden, der sich durch Zeit und Raum zieht. Wo immer ich auch bin, sie wird ebenfalls dort sein. Und wo immer sie auch ist … Ich hoffe, sie ist weit weg von hier.
»Aber ich hatte auch das Gefühl, dass ich die Frau würdigen musste, die an meiner Stelle gestorben ist«, sage ich. »Da draußen gibt es Menschen, die sie geliebt haben und die vielleicht wissen wollen, was mit ihr passiert ist. Sie haben es verdient, endlich Gewissheit zu haben.« Ich halte für einen Moment inne und denke an den Zettel, den ich in Evas Haus gefunden habe und der sich immer noch in meiner Tasche befindet. »Ich bin bereit, jenseits der Angst zu leben«, sage ich zu Kate. »Ich will mein Leben zurück. Mein Leben, das mir gehört. Mein Mann hat mir eine Menge gestohlen. Er hat mir mein Vertrauen gestohlen, mein Selbstwertgefühl. Und ich glaube nicht, dass er es verdient hat, noch mehr zu stehlen. Von wem auch immer.« Die Digitaluhr springt von 13.59 auf 14 Uhr.
Die Zeit ist um.
Ich bin frei.