CLAIRE
New York City
Ein Monat nach dem Absturz
Noch nie war das Stadthaus in der Fifth Avenue so leer. Es war sonst immer jemand da, der kochte oder putzte, Termine plante oder vor Rorys Büro Wache hielt. Doch infolge meines Interviews auf CNN und der anschließenden Untersuchung vor dem Geschworenengericht zu Rorys Verwicklung in Maggies Tod sind alle entlassen worden. In den Räumen herrscht absolute Stille, und ich komme mir vor wie ein Geist. Ich gehe denselben Weg, den ich früher immer auf meinen nächtlichen Wanderungen durchs Haus genommen habe. Vielleicht bin ich ja ein Geist, der zurückgekommen ist, um dem Leben nachzujagen, das er zurückgelassen hat, und der jetzt alles verändert vorfindet.
Zunächst nahm die Geschichte nur langsam Konturen an, weil Rorys Anwälte sich dafür einsetzten, die Vertraulichkeitsvereinbarung beizubehalten. Aber als Rory verlor, wurden die Medien mit Informationen überflutet. Fast täglich wurde etwas Neues veröffentlicht – wie etwa der Streit zwischen Rory und Maggie am Abend ihres Todes, der damit endete, dass sie bewusstlos am Fuß der Treppe lag und Rory davoneilte, um sich vor dem zu retten, was er glaubte, getan zu haben. Wie Rory direkt zu Charlies Apartment gefahren war, das nur ein paar Blocks entfernt von seiner Wohnung an der Upper West Side lag. Damals hatte sie versucht, ihm zu helfen. Sie glaubte ihm die Geschichte, dass auf seinem Weg zurück in die Stadt plötzlich ein Reh auf der Straße aufgetaucht und der Wagen fast im Graben gelandet wäre, und dass dieser Beinahe-Unfall ihn ziemlich mitgenommen hatte. Bis Neuigkeiten über Maggies Tod die Runde machten. Charlie, die damals jung und in Rory verliebt war und einmal gehofft hatte, Rory würde Maggie ihretwegen verlassen, machte sich zunehmend Sorgen. Als sie anfing, Fragen zu stellen, zahlte Rorys Vater ihr Schweigegeld und ließ sie dann eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben, um sicherzugehen, dass sie den Mund hielt.
Jahrelang hatte sie versucht, alles hinter sich zu lassen, bis Gerüchte über Rorys Kandidatur für den Senat auftauchten. Charlie war längst keine ängstliche Zwanzigjährige mehr. Wie viele andere auch war sie es allmählich leid, mit anzusehen, wie einflussreiche Männer nie zur Verantwortung gezogen wurden. Und wie der Slogan So sind Jungs nun einmal zu einem undurchdringlichen Panzer avancierte, der diese Jungs vor Strafe schützte.
Die Medien hatten ihren großen Tag. Sie kamen noch einmal auf den Sommer zurück, in dem Maggie Moretti starb, druckten alte Artikel mit aktualisierten Informationen neu, interviewten ihre Freunde und widmeten sich diesmal auch Charlie und ihrer Affäre mit Rory, die sich mit dessen Beziehung zu Maggie über mehrere Monate überschnitt. Alle wollten mehr über diese Dreiecksgeschichte erfahren, in jeden Winkel blicken und etwas Neues entdecken, um die neuesten Leckerbissen via Twitter zu verteilen.
Ich habe versucht, dem Rampenlicht fernzubleiben, aber Kate Lane hatte recht. Schon in der ersten Woche zu Hause habe ich es auf das Cover von People geschafft – mein Gesicht im Dreiviertelprofil, meine Haare wieder in der ursprünglichen Farbe –, und die Überschrift lautete: Von den Toten auferstanden.
Während die meisten Leute verständnisvoll waren und schon jahrelang Zweifel bezüglich Rorys Verwicklung in Maggies Tod hatten, gab es andere, die mich brutal attackierten. Die meinen Charakter infrage stellten und mich als Goldgräberin und rachsüchtige Ehefrau bezeichneten, die unbedingt alles zerstören wollte, was die Familie Cook sich aufgebaut hatte. Sie gaben mir die Schuld, dass die New Yorker Justizbehörde jetzt gegen die Cook Familienstiftung wegen Missbrauchs von gemeinnützigem Eigentum und unzulässiger Selbstkontrahierung ermittelte.
Aufgrund des LLC -Dokuments konnten meine Anwälte verhindern, dass ich strafrechtlich verfolgt wurde, und es steht mir frei, den Bundesstaat zu verlassen. New York ist nicht mehr mein Zuhause. Ich kann es kaum erwarten, nach Kalifornien zurückzufliegen und diesem ganzen Zirkus den Rücken zu kehren.
Ich betrete mein Büro, an dessen Wänden sich die Kartons stapeln. Ausgestattet mit einer ganz speziellen Liste und einem begrenzten Zeitfenster, das meine Anwälte ausgehandelt haben, bin ich hier, um mir das zu holen, was mir gehört. Meine Kleider, meinen Schmuck, meine persönlichen Gegenstände. Mein Blick fällt auf das Foto von meiner Mutter und Violet an der Wand. Diesmal nehme ich es von seinem Haken und lege es zu den anderen Sachen, die ich mitnehmen will. Ich betrachte das Lächeln meiner Schwester, das Grübchen auf ihrer linken Wange und ihre Haare, die im Wind wehen und die im Sonnenlicht aussehen wie gesponnenes Gold. Die Erinnerungen fühlen sich gut an, und ich spüre nicht mehr den heftigen Schmerz, vor dem ich so viele Jahre davongelaufen bin.
Ich nehme eine kleine, fünfzehn Zentimeter hohe Statue in die Hand, ein Original von Rodin, das Rory letztes Jahr gekauft hat. Ich überlege, wie viel Geld ich wohl dafür bekomme, wenn ich sie verkaufe. Aber sie steht nicht auf meiner Liste. Abgesehen von meinen eigenen Sachen, sind unsere gemeinsamen Vermögenswerte eingefroren. Darunter gibt es eigentlich auch nur sehr wenige Dinge, die ich für mein neues Leben in Berkeley brauche.
Kelly hat mir dabei geholfen, eine Wohnung zu finden. Ich hatte sie ein paar Tage nach meinem Interview angerufen, nachdem ich mich mit meinen Anwälten getroffen und damit begonnen hatte, alles genau zu erklären, was ich getan hatte.
Mittlerweile war ich auf allen Sendern die Nummer eins in den Nachrichten. »Heilige Scheiße, Eva«, hatte Kelly gesagt und sich dann gerade noch gefangen. »Sorry, ich denke, ich sollte dich jetzt Claire nennen.«
Lächelnd setzte ich mich auf das Bett in dem Hotelzimmer, das meine Anwälte bezahlten, erschöpft von den stundenlangen Aussagen unter Eid. Wir würden nur noch ein paar Tage in Berkeley sein, dann müsste ich zurück nach New York, um alles zu Ende zu bringen. Ich stellte mir Kelly irgendwo auf dem Campus vor, mit einem Rucksack voller Bücher. Wie sie auf einem der schattigen Wege stehen blieb, um meinen Anruf entgegenzunehmen. »Es tut mir leid, dass ich dich getäuscht habe.«
»Nein, mir tut es leid, dass der Job, den ich dir besorgt habe, den ganzen Schlamassel ausgelöst hat.«
»Es wäre sowieso irgendwann passiert. Das Leben, das ich zu führen versuchte, wäre unerträglich gewesen.« Ich räusperte mich. »Hör mal, du hast mal erwähnt, du könntest mir helfen, eine Wohnung zu finden. Wenn das alles vorbei ist, würde ich wirklich gerne in Berkeley bleiben.«
»Ich werde ein paar Anrufe machen und dir dann Bescheid geben«, meinte Kelly.
Die Wohnung lag in einer schmalen Straße, die sich den Hügel hinter dem Footballstadion hinaufschlängelte. Sie befand sich im obersten Stock eines schmalen Holzhauses, eingebettet zwischen den hochgewachsenen Bäumen des Strawberry Canyon. Die Vermieterin, Mrs. Crespi, war eine Freundin von Kellys Mutter und überglücklich, die Wohnung an mich vermieten zu können. Sie warnte uns, dass es an Spieltagen mühsam sein würde, einen Parkplatz zu finden, und dass der Lärm der Kanone, die nach jedem Touchdown abgefeuert wurde, anfangs ziemlich erschreckend sein könnte. Im Haus gab es jede Menge Stufen, und als wir das oberste Stockwerk erreichten, öffnete Mrs. Crespi die Tür zur Wohnung und trat beiseite, damit ich als Erste eintreten konnte. Das Apartment hatte nicht einmal siebzig Quadratmeter und sah aus wie ein Baumhaus. Kelly schnaufte neben mir und sagte: »Du könntest vielleicht mal darüber nachdenken, ob du dir die Lebensmittel liefern lässt. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwas hier heraufzutragen, was schwerer ist als eine Handtasche.«
»Ich habe drei Mieterinnen, berufstätige Frauen wie Sie«, erklärte Mrs. Crespi. »Ich berechne tausendfünfhundert Dollar im Monat inklusive aller Nebenkosten. Wenn Sie die Wohnung nehmen, benötige ich vor allen Dingen eine Kaution. Und die Möbel können stehen bleiben, weil es schwierig ist, hier Sachen rein- und rauszutragen. Ich kann die Wohnung fachmännisch reinigen lassen, wenn Sie das möchten.«
Meine Anwälte hatten einen monatlichen Unterhalt ausgehandelt, aber es war nicht viel. Ich würde meinen ganzen Schmuck verkaufen und mir einen Job suchen müssen. Aber ich freute mich über die Chance, endlich mein eigener Herr zu sein und meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. »Das sollte klappen«, sagte ich und ging ins Wohnzimmer und in die Küche.
Obwohl mir klar war, dass es ziemlich eng werden würde, ließ die Tatsache, dass fast die gesamte Westseite des Raumes aus Glas bestand, die Wohnung gleich größer erscheinen. Gegenüber dem Fenster befand sich ein graugrünes Sofa, und neben der Eingangstür stand ein kleiner Fernseher auf einem Ständer. Hinter uns lag eine winzige Küche mit einer kleinen Arbeitsfläche sowie einem Herd und einem Kühlschrank im hinteren Teil des Raumes. Über einen kleinen Flur gelangte man ins Bad und in ein winziges Schlafzimmer.
Ich ging zum Fenster. Ein Tuch aus grünen Baumkronen breitete sich über dem Hügel aus, und dazwischen lagen versteckt die Universitätsgebäude, die in der Spätnachmittagssonne leuchteten wie halb vergrabene Schätze. Dahinter schimmerte die San Francisco Bay, die Skyline der Stadt und die Brücke wurden vom Sonnenlicht umspielt. »Ich liebe die Wohnung«, sagte ich zu Kelly und Mrs. Crespi.
Ein Lächeln erhellte Mrs. Crespis faltiges Gesicht. »Ich bin so froh.« Sie schlug den Ordner auf, den sie in der Hand hielt, und reichte mir einen Mietvertrag. »Sie können einziehen, wann immer Sie bereit sind.«
Ich nahm die Papiere und grinste. »Ich bin jetzt bereit«, sagte ich und drehte mich wieder zum Fenster.
»Soll ich die Sachen im Bad einpacken, oder willst du selbst die Schubladen durchsehen?« Petra steht in der Tür meines Büros. Ich wende mich von dem Karton, den ich gerade durchsehe, ab und sehe sie an. Als ich nach New York zurückkehrte, hatte sie mich vom Flughafen abgeholt. Sie hatte gewartet, bis wir sicher im Fond des Wagens saßen, den sie gemietet hatte, bevor sie zusammenbrach.
»Das ist wie ein Traum«, sagte sie unter Tränen. »Als ich sah, dass das Flugzeug abgestürzt war …« Sie hielt inne, presste die Finger auf ihre Augen und holte tief Luft. »Und dann bist du plötzlich bei CNN aufgetaucht und hast es diesem Scheißkerl gezeigt.«
Wie sich herausstellte, hatte ich ihre Telefonnummer nicht falsch aufgeschrieben. »Ich hatte das Telefon abgemeldet«, erklärte Petra, als ich sie fragte, warum es nicht funktionierte. »Nachdem ich am Flughafen mit dir gesprochen hatte, hatte ich Angst, Rory könnte mithilfe der Rückwärtssuche herausfinden, wem die Nummer gehörte. Deshalb habe ich eine neue bekommen. Aber dann diese Nachricht …« Sie zuckte mit den Schultern und konnte nicht mehr weitersprechen. Tränen liefen wieder über ihre Wangen.
Ich schließe den Deckel eines Kartons und ziehe einen anderen zu mir hin. »Pack alles ein«, sage ich zu ihr. »Die Cremes und das Make-up sind teuer. Es wäre dumm, alles wegzuwerfen.«
»Ich denke immer noch, du solltest hierbleiben«, meint Petra. »Das ist dein Zuhause, und du hast Anspruch darauf. Vielleicht nicht auf den ganzen Hausrat.« Sie wirft einen Blick auf die Rodin-Statue. »Aber du solltest um das kämpfen, was dir gehört.«
»Ich will es nicht«, sage ich, wende mich wieder dem Karton zu und klebe ihn zu. »Ich brauche den vielen Platz nicht.«
»Es geht nicht um den Platz«, erwidert Petra. »Es geht um das, was dir gehört.«
»Dann verkaufen wir es, und ich bekomme die Hälfte.«
»Ich möchte, dass du in New York bleibst.«
Ich gehe auf sie zu und umarme sie. »Ich weiß«, sage ich und gehe wieder auf Abstand. »Aber du weißt, warum ich das nicht kann. Ich muss irgendwo neu anfangen. Du solltest nach Kalifornien kommen. Das Licht, die Luft – alles ist ganz anders. Du würdest es lieben.«
Petra ist skeptisch. »Ich sollte besser im Bad weitermachen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sie geht, und ich öffne den letzten Karton, sehe den Inhalt rasch durch und werfe das meiste davon weg. Das Geld vom Verkauf meines Schmucks verschafft mir ausreichend Zeit, meine Optionen in Kalifornien auszuloten. Vielleicht werde ich wieder mit Kelly zusammen bei Events arbeiten. Oder ich gehe wieder zur Schule. Ich stelle mir vor, wie ich mit der U-Bahn nach San Francisco fahre, vielleicht dort in einem Museum arbeite und mit den Freunden, die ich hoffentlich endlich finden werde, zum Abendessen ausgehe.
Nach dem CNN -Interview hatte Agent Castro mich wieder zu Evas Haus gebracht, um mit mir noch einmal Schritt für Schritt alles durchzugehen, was während meiner Zeit dort passiert war. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm noch etwas erzählen konnte, was er nicht schon wusste. Sie hatten Evas DNA zum NTSB geschickt, um zu sehen, ob sie mit irgendeinem der bislang entdeckten menschlichen Überreste übereinstimmte.
»Möglicherweise werden wir es nie erfahren«, sagte er. »Man hat mir erklärt, dass es eine ganze Anzahl von Gründen gibt, warum sie nicht auf Ihrem Platz gesessen haben könnte. Vielleicht hat sie mit jemandem getauscht. Oder sie wurde durch die Wucht des Aufpralls aus dem Wrack geschleudert und von der Strömung mitgerissen. Wenn das der Fall ist, werden wir ihre Leiche vielleicht nie finden.« Er zuckte mit den Schultern und blickte aus dem Fenster, als ob die Antwort auf die Frage, was mit Eva passiert war, irgendwo da draußen zu finden wäre, nur für ihn sichtbar.
»Was ist mit dem Drogendealer?«
»Dex«, sagte Castro. »Auch bekannt als Felix Argyros oder Fish. Wir haben einen Hinweis bekommen, dass er sich in Sacramento aufhält.«
Einer der Ermittler trug Evas Campingkocher in einem durchsichtigen Spurensicherungsbeutel aus Plastik durch das Wohnzimmer.
»Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein, um sich gerade so ein Leben auszusuchen«, sagte ich.
»Ich glaube, Eva würde sagen, dass dieses Leben sie ausgesucht hat.« Castro seufzte. »Sie war ein schwieriger Mensch, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jemals wirklich verstanden habe. Doch obwohl sie abgehauen ist, hat sie trotzdem versucht, das Richtige zu tun. Das, was sie hiergelassen hat, wird für eine Anklage gegen Fish ausschlaggebend sein.«
»Anscheinend war sie ein komplizierter Mensch«, sagte ich.
»Das war sie. Aber ich mochte sie. Ich wünschte, ich hätte mehr für sie tun können.«
Ich sagte nicht, was ich dachte, nämlich dass Eva niemanden brauchte. Sie kam sehr gut alleine klar.
Ich trage einen Haufen Klamotten ins Wohnzimmer und lege sie neben die restlichen Sachen, die ich mitnehmen will. Ich sehe auf die Uhr. Uns bleiben noch ungefähr dreißig Minuten. Ich höre, wie Petra die Schubladen im Badezimmer im oberen Stock zumacht und dabei etwas vor sich hin murmelt, und muss lächeln.
Die meiste Arbeit ist getan. Ich gehe den Flur entlang, der zu Rorys Büro führt, und spähe durch die Tür. Der Raum ist komplett leer geräumt. Sein Schreibtisch, der von Bruce, sogar die Bücher in den Regalen sind weg, alles von der Staatsanwaltschaft konfisziert. Ich gehe hinüber zu den leeren Bücherregalen, bediene den Schalter, und das untere Fach geht auf. Wie vermutet, ist es leer.
Ich höre, wie jemand die Eingangstür aufschließt, und richte mich auf. Ich fühle mich schuldig, weil ich eigentlich nicht hier sein sollte. Aber es ist nur Danielle. Sie bleibt in der Tür stehen, als sie mich sieht. »Auf Geistersuche?«, fragt sie.
Ich lächle. »So was Ähnliches.«
Danielle hatte mich erwartet, als ich das Stadthaus zum ersten Mal wieder betreten hatte. Sie hatte mich in die Küche geführt und mir eine Tasse Tee gemacht. Als wir einander an der Kücheninsel in der Mitte des Raumes gegenübersaßen, stellte ich ihr endlich die Frage, die mir schon seit ihrer ersten Nachricht auf den Nägeln brannte. »Woher wussten Sie, wo ich war?«
Sie lächelte mich traurig an. »Eva war mit meiner Mom befreundet.« Sie trank zaghaft einen Schluck Tee und erzählte mir die Geschichte einer merkwürdigen Freundschaft zwischen zwei Frauen – von denen eine meinte, die Liebe anderer nicht verdient zu haben, und die andere sich so sehr bemühte, sie dennoch zu lieben. »Obwohl ich sie nur kurz kennengelernt habe, bemerkte ich etwas Verstohlenes an ihr. Sie hatte eine Art, die sich bedrohlich anfühlte.« Danielle stellte ihre Tasse auf die Kochinsel und zeichnete mit dem Finger die Marmorierung der Arbeitsplatte nach. »Aber meine Mutter war ihr treu ergeben. Sie schwor, dass Eva ein guter Mensch war, der die Gewissheit brauchte, dass jemand ihm glaubte.« Danielle zuckte mit den Schultern.
»Aber das erklärt noch nicht, woher Sie wussten, dass Sie mich auf ihrem Handy erreichen konnten.«
»Am Abend vor der Reise nach Detroit war sie zu Hause bei meiner Mutter. Sie muss ein Gespräch zwischen mir und meiner Mutter belauscht haben, denn danach habe ich sie dabei ertappt, wie sie Fotos von Ihnen gegoogelt hat. Ich hatte Angst, sie könnte Sie irgendwie ins Visier nehmen.« Danielle schüttelte den Kopf, als ob ihr dieser Gedanke peinlich war.
»Wie geht es Ihrer Mom?«
Danielle blickte ins Wohnzimmer, wo die Sonnenstrahlen durch die großen Fenster fielen und helle Flecken auf den Parkettboden warfen. »Nicht gut«, sagte sie. »Es fiel ihr schwer, zu begreifen, dass Eva wirklich tot war. Dass sie noch am Leben wäre, wenn sie sich an ihre Vereinbarung gehalten und nach Berkeley zurückgekehrt wäre.«
Ich trank einen Schluck heißen Kamillentee. Mir war klar, dass ich weder Danielle noch ihrer Mutter jemals etwas von meinem Verdacht erzählen durfte, was Eva wirklich passiert war. Ich wollte es Eva überlassen, den ersten Schritt zu tun, falls und wann auch immer sie es wollte. »Allein die Tatsache, dass Eva mich gegoogelt hat, konnte doch nicht ausreichen, um zu wissen, wo Sie mich suchen mussten.«
»Es war das Video«, sagte Danielle. »Da waren Sie, in Evas Heimatstadt, sie sahen fast aus wie sie, und …« Sie hielt kurz inne. »Ich ergriff die Gelegenheit und suchte Evas Nummer auf dem Handy meiner Mom. In der Hoffnung, Sie würden rangehen, wenn ich anrief.« Danielle senkte den Kopf und drehte ihre Tasse in den Händen. Als sie wieder aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. »Ich musste etwas tun, nachdem ich all die Jahre geschwiegen hatte. Es tut mir so leid, dass ich nicht mehr getan habe, um Ihnen zu helfen.« Sie schluchzte. »Ich dachte, ich könnte Sie beschützen, indem ich dafür sorge, dass Sie alles termingerecht erledigen. Wenn ich mich anstrengte, hätte er vielleicht keinen Grund, wütend zu sein.«
Ich griff über die Kochinsel und legte meine Hand auf ihre. »Sie haben mir geholfen, als die Not am größten war. Mehr, als ich jemals erwartet hätte.«
Sie drückte meine Hand als stumme Entschuldigung. Spät, aber nicht zu spät.
Das entfernte Geräusch einer Sirene dringt durch die dicke Glasscheibe von Rorys Büro. Ich sehe mich in dem Raum um und versuche mir den Nachmittag vorzustellen, an dem Danielle die Tonaufnahme gemacht hat, und wo sie ihr Handy fallen gelassen hat, um es sich später wieder zu holen. »Eine letzte Frage«, sage ich. »Woher wussten Sie, dass Sie ausgerechnet dieses Gespräch aufnehmen mussten? Wussten Sie, worüber die beiden reden würden?«
Danielle betritt den Raum und streicht mit den Fingern über die Rückenlehne eines Stuhls. »Ich hatte gerade das Video von Ihnen bei dem Event gesehen, und obwohl Mr. Cook mit mir nie darüber gesprochen hat, weckte seine plötzliche Reise nach Oakland in mir die Überzeugung, dass er es ebenfalls gesehen hatte. Ich hoffte, ein Gespräch über ihre Pläne aufnehmen zu können, Sie zu suchen. Um Ihnen einen Hinweis zu geben, wo und mit welchen Mitteln sie suchen würden. Ich hatte keine Ahnung, dass ich am Ende etwas viel Besseres haben würde.«
»Das war unglaublich mutig und dumm.«
Danielle grinst. »Das hat meine Mom auch gesagt.« Sie schaut auf die Uhr. »Wir sollten besser Schluss machen. Die Zeit ist fast um.«
Ich schließe das Fach mit einem leisen Klicken und folge Danielle ins Wohnzimmer, wo wir die letzten Sachen einpacken.
Gerade als ich den Reißverschluss meiner Reisetasche zuziehe, betritt Petra den Raum. »Bereit?«, fragt sie.
Ich werfe einen letzten Blick in den Raum. Die dichten Teppiche, die teuren Möbel, all das ist für mich jetzt bedeutungslos, und ich lächle die beiden an.
»Bereit.