EPILOG
John F. Kennedy Airport, New York
Dienstag, 22. Februar
Der Tag des Absturzes
Ich kauere neben dem Flugsteig am Boden und sammle die verstreuten Gegenstände aus Claires Handtasche zusammen. Ich sehe nur die Schuhe der Leute um mich herum und packe alles wieder in die Tasche außer meinem Prepaid-Handy, das ich an mein Ohr halte.
Mein Plan ist ganz simpel. Zunächst werde ich etwas zur Seite kippen und so tun, als müsste ich mich an die Wand lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann werde ich mich von der Schlange der Reisenden abwenden, deren Blicke gehorsam nach vorne gerichtet sind, und zielstrebig in eine andere Richtung gehen.
Als ich gerade dabei bin, in mein stummes Handy zu sprechen, um ein weiteres Gespräch vorzutäuschen – vielleicht etwas Dringendes, wofür ich etwas Platz brauche, ein wenig Privatsphäre –, fragt jemand: »Alles okay, Ma’am?«
Ein weiterer Mitarbeiter am Flugsteig taucht auf, und mit zitternden Knien erhebe ich mich langsam. »Ich habe meine Handtasche fallen lassen«, erkläre ich und hänge sie mir wieder über die Schulter. Ich spüre die leichte Erschütterung einer verpassten Gelegenheit.
»Da Sie schon für den Flug eingescannt wurden, muss ich Sie bitten, in der Schlange zu bleiben«, sagt der Mitarbeiter.
Ich erobere mir meinen Platz vor den beiden Frauen zurück, die sich über die lange Wartezeit beschwert haben, und durch die leichte Neigung der Gangway werde ich regelrecht zum Flugzeug hingezogen. Claire befindet sich schon irgendwo in der Luft und fliegt nach Kalifornien, und ich bekomme Schuldgefühle. Nicht wegen der Lügen, die ich ihr aufgetischt habe, sondern weil ich sie vielleicht wenigstens hätte warnen sollen, vorsichtig zu sein.
Während die Schlange sich langsam vorwärts bewegt, frage ich mich, ob Claire und ich Freundinnen hätten werden können, wenn wir uns unter anderen Umständen begegnet wären. Es fühlt sich falsch an, die letzte Person zu sein, die mit ihr gesprochen hat, bevor sie verschwand – die einzige Person auf der Welt, die weiß, was mit ihr passiert ist. Und die dennoch nichts Wesentliches über sie weiß. Wen sie liebt. Was ihr wichtig ist oder woran sie glaubt. Und was dazu geführt hat, dass ihr nur diese eine ungeheure Wahl geblieben ist.
Wir haben eines gemeinsam. Jede von uns ist verzweifelt genug, das Risiko einzugehen, unserem alten Ich den Rücken zu kehren. Es geht nicht nur darum, was uns beiden angetan wurde – von Dex, von Claires Ehemann –, es geht um das System, das uns Frauen erklärt, wir seien unzuverlässig und somit überflüssig. Dass unsere Wahrheit im Vergleich zu der eines Mannes nicht zählt.
Ich versuche, meinen Kopf freizubekommen, um mich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes passiert. Liz wird sich Sorgen machen, wenn ich nicht wie versprochen anrufe, aber es muss nun einmal so sein. Wenn Castro vor ihrer Tür steht, muss Liz mit Sicherheit behaupten können, dass ich zurückgeflogen bin, um das Richtige zu tun.
Vielleicht wird Liz in ein paar Monaten ein Päckchen in der Post finden. Weihnachtsbaumschmuck – ohne Karte, ohne Absender – aus den reifen Weinbergen Italiens oder den überfüllten Straßen von Mumbai. Und sie wird wissen, dass es mir leidtut. Dass ich glücklich bin. Dass ich mir selbst endlich verziehen habe.
Sobald ich an Bord bin, werde ich fragen, ob ich meinen Gangplatz gegen einen Fensterplatz tauschen kann. Ich möchte mir die Welt ansehen – den weiten Ausblick, der sich in einem eleganten Bogen unter mir ausdehnt – und mich selbst darin betrachten. Mein wahres Ich, die Person, die Liz mir gezeigt hat.
Ich hoffe, dass wir direkt in die Sonne fliegen werden, wenn das Flugzeug abhebt. Das helle Licht wird die letzten Spuren von allem auslöschen, was ich zurücklasse. Sie wird mich emportragen, höher als jemals zuvor, über die Angst und die Lügen hinaus, eine Seite voller Lügen herausreißen und die Fetzen hinter mir wie Konfetti verstreuen.
An ihrer Stelle werde ich mir aus meinen Erinnerungen – einige davon wahr, andere die Fantasien eines kleinen Mädchens, das nie seinen Platz gefunden hat – ein neues Leben erschaffen, voller Glück und strahlender Dankbarkeit.
Vielleicht werde ich eines Tages von meinem Leben in Berkeley träumen. Nicht von dem, das ich gelebt habe, mit seinen dunklen Ecken und trügerischen Schatten. Sondern von dem, das ich vor Jahren heraufbeschworen habe, in einem schmalen Bett über einer verstaubten Kirche in San Francisco. Ich werde wieder die lichtgesprenkelten Pfade des Strawberry Canyon besuchen, hoch über dem alten Stadion, mit seinem Ausblick auf eine Skyline, die sich unmittelbar aus der Bucht zu erheben scheint. In Gedanken werde ich die Wege auf dem Campus entlangschlendern, die sich zwischen den Redwoods hindurchschlängeln, den Geruch von feuchter Rinde und Moos einatmen, dem Rauschen des Wassers lauschen und über die Felsen springen.
Die Schlange vor mir setzt sich wieder in Bewegung, die Zwischenräume werden größer, und ich kann freier atmen. Was immer auch schiefgelaufen war, ist wieder in Ordnung, und ich spüre, wie sich die Menschen entspannen in Erwartung ihres Urlaubs, der sie nach einem vierstündigen Flug Richtung Süden erwartet.
Während ich die Passagierbrücke entlanggehe, habe ich das Gefühl, als würde ich mein altes Selbst Stück für Stück abschütteln und immer leichter werden, je näher ich dem Flugzeug komme. Schon bald wiege ich vielleicht gar nichts mehr. Ich lache ein helles, befreites Lachen, ohne den üblichen faden Beigeschmack. In diesem Moment habe ich alles, was ich mir je gewünscht habe. Und zum ersten und einzigen Mal ist es genug. Ich hänge mir Claires Handtasche fester über die Schulter und berühre die Außenseite des Flugzeugs. Ich trete über die Schwelle und blicke nicht zurück.