1.
S ehr viel ist es nicht, was ich Ihnen über das Opfer erzählen kann“, dozierte Dr. Ephraim Siebenstein, während die Kommissare Benno Hagemann und Horst Gruber ihm mit ernsten Mienen zuhörten. Sie standen zu dritt um eine Rollbahre herum, auf der der Pathologe die kürzlich im Wald gefundenen Knochen anatomisch korrekt ausgelegt hatte. Aufgrund des ihnen anhaftenden Sediments und dem noch immer deutlich wahrnehmbaren Verwesungsgeruchs hatte er sie dabei jedoch im Leichensack belassen.
„Das Opfer ist mit ziemlicher Sicherheit männlich, wie bereits bei der ersten Inaugenscheinnahme vermutet, deutlich erkennbar an den Brauenwülsten, dem Kinn, vor allem aber dem eindeutig männlichen Becken. Meine erste Schätzung bezüglich des Alters bei Todeseintritt würde ich aber inzwischen noch ein wenig nach unten korrigieren. Ich würde sagen, der junge Mann befand sich in seinen späten Teenagerjahren, war allerhöchstens Anfang zwanzig. Die Weisheitszähne waren noch nicht vollständig durchgebrochen, das Schlüsselbein noch nicht komplett verwachsen und auch der oberste Sakralwirbel am Kreuzbein noch offen. Da kein Weichgewebe mehr vorhanden ist, musste ich mich naturgemäß auf das beschränken, was ich sehe, und da waren die Zähne bisher eindeutig am ergiebigsten. Der Tote hatte ein überaus schadhaftes Gebiss. Es gibt einige Füllungen jüngeren Datums, die womöglich in irgendeiner Praxis hierzulande, zumindest aber irgendwo in Westeuropa vorgenommen worden sind. Darüber hinaus finden sich jedoch deutlich mehr, die von schlechter Qualität und Ausführung sind. Eine so minderwertige Arbeit finden sie heute noch überwiegend in Ostblockländern wie zum Beispiel Russland. Ich habe, um sicherzugehen und auch weil es mich persönlich interessiert hat, eine Isotopenanalyse eines Backenzahns durchgeführt und das Ergebnis bestätigt meine Vermutung. Der junge Mann wurde eindeutig irgendwo in Osteuropa geboren.“ Er warf einen Blick voller Selbstzufriedenheit auf die Knochen. „Um noch präziser zu sein, habe ich es sogar auf den südlichen Teil der ehemaligen UDSSR eingrenzen können, also Kasachstan oder Usbekistan zum Beispiel.“
„Hm.“ Gruber schürzte die Lippen. „Das ist großartig, Doc“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. „Gibt es denn noch irgendwelche anderen … Besonderheiten? Irgendwelche alten Knochenbrüche oder so?“
Siebenstein nickte eifrig.
„Oh ja. In der Tat. Es gibt eine verheilte Fraktur des rechten Schien- und Wadenbeins, die stammt vermutlich irgendwann aus der Kindheit. Der Knochen ist sehr gut verheilt. Sogar so gut, dass ich die Fraktur beinahe übersehen hätte. Aber darüber hinaus findet sich eine weitere Fraktur des linken Oberarms. Diese Verletzung befand sich zum Zeitpunkt des Todes noch im Anfang der sogenannten Remodellierungsphase, wo der weiche Kallus allmählich wieder mineralisiert wird. Bis der Knochen erneut belastungsstabil ist, dauert es ungefähr ein halbes Jahr. Ich würde also schätzen, dass der Tote sich diese Fraktur nur wenige Monate vor seinem Tod zugezogen hat. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass bei dieser Verletzung ein sogenannter sekundärer Heilungsprozess einsetzte. Davon spricht man, wenn beispielsweise keine fachgerechte Versorgung erfolgt, sodass die Knochenenden beim Verheilen beispielsweise nicht vollständig anatomisch korrekt aneinanderliegen, oder bei einer Trümmerfraktur. Da Letzteres eindeutig nicht der Fall war, tippe ich auf eine insuffiziente, also schlechte Versorgung der Verletzung.“
Benno runzelte die Stirn.
„Todesursache?“
„Nun, auch hier würde ich gern auf fehlendes Weichteilgewebe verweisen, allerdings denke ich, dass die flächige Schädelverletzung, die Sie sicher deutlich sehen können, uns einen eindeutigen Hinweis gibt. Sollte dies nicht postmortal passiert sein, wovon ich ausgehe, da jegliche Anzeichen einer beginnenden Heilung fehlen, so hat die ausgedehnte Impressionsfraktur des Schädeldachs mit ziemlicher Sicherheit zu einer massiven Hirnverletzung und -blutung und damit verbunden binnen weniger Minuten zum Tod geführt. Es handelt sich allerdings wohl nicht um ein Einzelereignis, sondern eher um eine Abfolge mehrerer Schläge, genauer gesagt vier oder fünf, ausgeführt mit einem stumpfen Tatwerkzeug. Angesichts des Leichenfundortes womöglich einem großen Stein oder Ähnlichem. Aber da möchte ich Ihnen und Ihren Ermittlungen nicht vorgreifen.“
„Und die Leichenliegezeit?“, fragte Benno. „Können Sie uns dazu auch was sagen?“
Dr. Siebenstein verschränkte die Arme.
„Tja, das wird schwierig“, erläuterte er. „Ich bin kein forensischer Pathologe, aber angesichts der vollständigen Skelettierung gehe ich, zumal wenn ich die Umgebung des Fundortes miteinbeziehe, grob geschätzt von einer Mindestleichenliegezeit von einem oder eher noch zwei Jahren aus. Der Todeszeitpunkt kann aber durchaus noch länger her sein, wie gesagt bin ich kein Experte. Der Leichnam lag unter der Erde, zwar in einem eher flachen Grab und ohne Sarg oder Ähnliches, aber die Überreste sind bis vor Kurzem zumindest vollständig bedeckt gewesen. Allerdings hat die Chemie des Waldbodens auch ihren Beitrag geleistet. Die zum Todeseintritt eventuell vorhandene Bekleidung scheint entweder bereits vollständig verrottet zu sein oder – was ich für wahrscheinlicher halte – sie wurde vorsätzlich entfernt. Möglicherweise, um eine Identifizierung zu erschweren. Dass darüber hinaus keinerlei weitere Beifunde gemacht wurden, wie beispielsweise irgendwelche persönlichen Gegenstände oder was auch immer, erschwert natürlich die Bestimmung zusätzlich. Sollte es also erforderlich sein, den Zeitpunkt des Todes genauer einzugrenzen, müssten wir einen forensischen Anthropologen von außerhalb hinzuziehen. Der könnte uns – nebenbei bemerkt – vermutlich sogar noch weitaus mehr über das Opfer erzählen. Nicht nur, wie lange es da draußen im Wald gelegen hat, sondern auch, ob der Tote irgendwelche chronischen Erkrankungen hatte, Mangelerscheinungen und Ähnliches.“
Er sah fragend zwischen den beiden Kommissaren hin und her. Gruber schüttelte nach einem Moment den Kopf.
„Zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht“, entschied er. „Ich werde den Staatsanwalt informieren und hören, was er dazu meint. Aber vorerst denke ich, versuchen wir erst mal, aufgrund der Informationen, die wir haben, irgendwas rauszufinden. Womöglich war er ja aus der Gegend und es gibt eine Vermisstenanzeige. Die Unterlagen zum Zahnstatus sind Ihrem Bericht beigefügt?“
„Selbstverständlich.“ Der Pathologe nickte und machte sich daran, die Rolltrage mit dem drauf liegenden Leichensack aus dem Raum zu bugsieren. „Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie was erfahren“, rief er ihnen noch über die Schulter zu.
„Klar doch, Doc.“ Gruber warf Benno einen auffordernden Blick zu. „Dann lass uns mal zurück ins Präsidium fahren und die Vermisstenkartei filzen. Vorsichtshalber sollten wir allerdings die Altersschätzung des guten Dr. Siebenstein noch etwas vergröbern, nicht dass uns irgendwer durchs Raster rutscht. Das mit dem Anthropologen ist vielleicht gar keine üble Idee. Wenn der uns wirklich so viel sagen kann, anhand von ein paar Knochen?“
Benno nickte stumm, sah noch einmal zu der Tür, hinter der Dr. Siebenstein verschwunden war, und folgte seinem Kollegen dann durch die weiß gefliesten Räumlichkeiten bis ins Freie.
Während der Fahrt zurück ins Büro hingen sie jeder ihren eigenen Gedanken nach und erst nachdem sie auf dem Parkplatz aus dem Wagen gestiegen waren, durchbrach Gruber ihr Schweigen.
„Ist bei dir eigentlich alles okay?“
Verwundert sah Benno ihn an.
„Ja. Schon. Oder willst du auf was Bestimmtes raus?“
„Na ja, ich meine ja bloß. Immerhin bist du jetzt zwei Mal innerhalb kurzer Zeit einem Verrückten in die Hände gefallen, der dich umbringen wollte. Das steckt man doch nicht so einfach weg.“
Benno schwieg nachdenklich und überlegte, wobei seine rechte Hand unwillkürlich zu seinem Bauch wanderte, zu der Stelle, an der Dominik Werner ihn mit einem Messer verletzt hatte.
„Tja, was soll ich sagen?“, meinte er schließlich. „Ich habe keine Albträume oder so, falls du das gemeint hast. Und es hilft mir natürlich, dass Dennis jederzeit bereit ist, mir zuzuhören. Ich versuche einfach, es nicht zu sehr an mich ranzulassen, verstehst du? Gut möglich, dass es mich irgendwann doch noch einholt, aber im Augenblick … komme ich zurecht, denke ich.“
Gruber nickte.
„Falls du mal jemand anderen zum Reden brauchst – ich meine, jemanden, bei dem du kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchst – dann bin ich auch noch da. Okay?“ Er hob bedeutungsvoll die Brauen.
„Okay.“ Benno lächelte. „Danke.“ Gruber winkte ab.
„Da nicht für. Ich bin sicher, im umgekehrten Fall würdest du mir das Gleiche anbieten.“
Sie betraten hintereinander das Präsidiumsgebäude und steuerten ihr gemeinsames Büro an.
„Herr Gruber? Herr Hagemann?“, hielt die Stimme ihres Vorgesetzten sie auf, als sie soeben die Tür geöffnet hatten. Unisono wandten sie sich um und sahen, wie Kriminalrat Kremer auf sie zukam.
„Chef?“ Gruber nickte ihm mit fragender Miene zu.
„Kolwitz hat ausgesagt“, informierte Kremer sie ohne große Umschweife. „Er hat vollumfänglich gestanden.“
„Ach?“ Gruber hob erstaunt die Brauen. „Bei wem? Ich dachte, das wäre immer noch unser Fall?“
„Ist es auch, keine Bange. Er wurde heute Morgen aus dem Krankenhaus in die Justizvollzugsanstalt verlegt und hat nach seinem Eintreffen dort verlangt, mit einem Beamten zu sprechen, um eine vollständige Aussage zu machen. Seine Bedingung war allerdings, dass Sie nicht dabei sind.“ Er deutete auf Benno. „Ich wollte mit Ihnen Rücksprache halten, aber mir wurde gesagt, Sie wären noch in der Pathologie. Also bin ich selbst hingefahren.“ Er hob einen Mundwinkel in der Andeutung eines Grinsens, das aber sofort wieder verschwand. „Tut mal wieder ganz gut, so ein bisschen echte Polizeiarbeit“, ergänzte er. „Jedenfalls hat Kolwitz ohne Umschweife zugegeben, Jonas Vollmer umgebracht zu haben.“ Er überreichte Gruber eine Mappe, die er bis jetzt unbeachtet in der Hand gehalten hatte. „Hier drin ist sein Geständnis. Bis auf den restlichen Papierkram ist der Fall abgeschlossen. Gute Arbeit, meine Herren.“ Er sah von Gruber zu Benno. „Und Sie haben Ihren … Ausflug unbeschadet überstanden?“
„Ja, Herr Kriminalrat.“
„Gut.“ Kremer nickte beifällig. „Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Ich nehme an, Sie waren wegen dem Skelett aus dem Wald in der Pathologie?“
„Genau das“, bestätigte Gruber. „Dr. Siebenstein meint, der Tote wäre noch sehr jung gewesen, allerhöchstens Anfang zwanzig, und dass er offenbar aus irgendeinem der früheren Sowjetstaaten stammte. Wir haben einen Zahnstatus und Hinweise auf frühere Verletzungen, werden also erst mal die Vermisstenkartei durchforsten, ob wir irgendwelche Übereinstimmungen finden. Falls nicht, könnte es allerdings nötig werden, einen forensischen Anthropologen hinzuziehen, damit er die Leichenliegezeit weiter eingrenzt.“
Kremer hatte aufmerksam zugehört und nickte nun mit verschränkten Armen.
„Tun Sie das“, meinte er, ehe er sich verabschiedete und in sein eigenes Büro zurückkehrte.
„Du hast es gehört: Tun wir das“, sagte Gruber und zwinkerte Benno zu. „Los, komm. Es wartet jede Menge Arbeit auf uns.“