2.
Als Benno das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es Mittag und sein Magen knurrte vernehmlich.
„Meine Güte.“ Gruber saß ihm gegenüber und sah nun ebenfalls auf. Schmunzelnd richtete er gleich darauf den Blick auf Bennos Leibesmitte. „Was hast du da drin? Ein wildes Tier?“
„Bitte keine Anzüglichkeiten im Dienst“, erwiderte Benno und grinste. Im nächsten Moment seufzte er und ließ sich gegen die Rückenlehne seines Stuhl sinken. „Allerdings fühlt es sich wirklich an, als könnte ich locker ein halbes Schwein verputzen, von daher …“
„Mhm. Hunger hab ich auch“, stimmte Gruber zu. „Hast du denn irgendwas Brauchbares gefunden?“, hakte er nach. Gruber hatte sich während der letzten Stunden mit dem Papierkram bezüglich ihres letzten Falles beschäftigt, während Benno die Informationen über das Skelett sorgfältig mit den Einträgen in der Vermisstenkartei abgeglichen hatte. Nun wiegte er den Kopf.
„Na ja, so ein paar gibt es schon, die würden zumindest vom Alter her und vom Zeitpunkt des Verschwindens ins Schema passen. Allerdings sind das fast alles Einheimische. In Deutschland geboren und aufgewachsen. Nur ungefähr ein halbes Dutzend der Vermissten, bei denen ich Übereinstimmungen gefunden habe, stammen aus dem Ausland und davon wiederum nur zwei aus dem Ostblock. Der eine ist ein Oleg Mihailowitsch aus Aserbaidschan. Der kam 2009 als Kind mit seiner Familie nach Deutschland und verschwand 2015 spurlos. Über Unfälle oder Knochenbrüche in der Kindheit steht hier nichts. Der andere …“ Benno machte eine Pause und sah zu Gruber hinüber. „Sein Name ist Ahmad Gazizow und er stammt ursprünglich aus Kasachstan.“ Wieder schaute er zu seinem Kollegen und wartete gespannt auf dessen Reaktion. Gruber richtete sich auch tatsächlich mit einem Mal sehr gerade auf und runzelte die Stirn.
„Moment!“, sagte er. „Dieser Name … Irgendwas klingelt da bei mir.“ Er überlegte noch einen Augenblick, dann hellte sich seine Miene auf. „Natürlich!“, rief er. „Ahmad Gazizow! Das ist doch dieser Junge, von dem ich dir neulich erst erzählt habe. Der, wegen dem Scholz damals so ausgeflippt ist. Der Stricher, den er aufgenommen hatte und der dann plötzlich verschwunden ist! Genau!“
Benno nickte.
„Eben der. In Deutschland eingereist im Jahr 1997, im Alter von einem Jahr, zusammen mit seiner Familie. Als vermisst gemeldet durch Polizeihauptmeister Gregor Scholz am 1. Mai 2015. Vorher wurde er mehrmals aktenkundig wegen der Ausübung verbotener Prostitution und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Hauptsächlich ging es dabei um Marihuana und Ecstasy-Pillen. Letzte Festnahme im Januar 2015.“
Er beendete seine Zusammenfassung und einen Moment lang blieb es still im Büro. Schließlich seufzte Gruber.
„Klingt ziemlich nach einem Treffer, wenn du mich fragst.“ Benno nickte.
„Sieht so aus. Wir müssen uns auf jeden Fall die Akten von damals vornehmen und vermutlich wäre es auch keine schlechte Idee, wenn wir mit diesem Gregor Scholz sprechen. Irgendwie muss der ja aufzutreiben sein. Außerdem müssen wir unbedingt den Zahnarzt ausfindig machen, bei dem der Tote zuletzt in Behandlung war.“
„Na dann. Auf in den Kampf.“ Gruber erhob sich, doch ein erneutes Magenknurren von Benno ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Er wölbte eine Braue. „Aber zuerst füttern wir das Raubtier. Wenn das Skelett wirklich Ahmad Gazizow ist, dann lag er seit fast vier Jahren da draußen. Ich denke, da kommt es auf die Zeit, die wir brauchen, um was Anständiges zu essen, auch nicht mehr an.“
Benno lachte, sperrte seinen Computer und erhob sich ebenfalls.
„Stimmt“, sagte er.
Während sie hintereinander durch den Flur des Präsidiums in Richtung Ausgang marschierten, schwiegen sie und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Benno warf im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick in den Pausenraum der Kollegen vom Streifendienst, doch offenbar war gerade niemand da.
Tja, auch hier in der Provinz bekommt die Polizei den Personalmangel zu spüren
, dachte er. Die Szene mit Janowski und dessen dramatischer Abgang vor einigen Tagen fiel ihm wieder ein.
„Sag mal“, wandte er sich deshalb an seinen Kollegen, kaum dass sie draußen waren. „Weißt du eigentlich, ob Janowski wieder im Dienst ist?“
„Janowski? Nein, keine Ahnung. Gesehen hab ich ihn nicht, seit er hier rausgerauscht ist wie ’ne Filmdiva, aber das heißt ja nichts. Allerdings“, schränkte er achselzuckend ein. „Wir wissen ja nicht, was im Einzelnen noch in Kremers Büro vorgefallen ist. Womöglich hat er sich ja derart danebenbenommen, dass der Alte ihn suspendiert hat?“
„Möglich.“ Benno zuckte ebenfalls die Achseln.
„Hat Gazizow eigentlich noch Angehörige hier in der Stadt?“, fragte Gruber übergangslos.
„Na ja, in der Akte steht, dass seine Eltern und Geschwister hier leben. Aber da bestand wohl schon lange vor seinem Verschwinden kein wirklicher Kontakt mehr.“
„Hm“, machte Gruber. „Informieren müssen wir sie trotzdem, falls der Tote ihr Sohn sein sollte.“ Benno nickte.
„Mhm.“
Sie hatten inzwischen den Parkplatz erreicht und Benno betätigte den Türöffner seines Wagens. Er hatte ihn am Vortag aus der Werkstatt abgeholt, ausgestattet mit vier neuen Reifen, und war froh, wieder selbst mobil zu sein, obwohl er nur zwei Tage lang auf andere Transportmittel angewiesen gewesen war. Aber er war eben bequem und schätzte es, nicht auf andere angewiesen zu sein oder mit irgendwelchen fahrplanmäßigen Abfahrtszeiten im Hinterkopf ständig auf die Uhr sehen zu müssen. Zumal der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs hier im Ort so weit zwar ganz in Ordnung war, aber natürlich nicht mal im Entferntesten an den in seiner Heimatstadt Berlin herankam.
„Döner oder Pizza?“, fragte er an seinen Kollegen gewandt, während sie einstiegen.
„Für mich ist beides in Ordnung“, erwiderte der. „Entscheide du.“
„Okay. Dann Döner.“
Zwanzig Minuten darauf saßen sie sich an einem kleinen Resopaltisch in Bennos Lieblings-Dönerbude gegenüber und verspeisten genüsslich ihre mit Fleisch, Salat, Zwiebeln, Tomaten und Soße gefüllten Fladenbrote. Gruber schien vollkommen darin aufzugehen und Benno ließ den Blick kauend aus dem Fenster schweifen. Im Grunde war es schon verrückt: Seit einem guten halben Jahr lebte und arbeitete er nun hier in der Provinz, hatte seinem stressigen Job in der Hauptstadt den Rücken gekehrt und gehofft, hier etwas mehr zur Ruhe zu kommen, und was passierte? Plötzlich, nach einer Phase tatsächlicher Ruhe, in der er ein paar Einbruchdiebstähle und einen bewaffneten Raubüberfall zu bearbeiten hatte, geschahen plötzlich zwei spektakuläre Morde kurz hintereinander. Und als wäre das noch nicht genug, wurde direkt anschließend das Opfer eines weiteren brutalen Mordes gefunden. Ob es an ihm lag, fragte er sich nur halb im Scherz.
„So nachdenklich?“, unterbrach ihn Gruber. Benno schluckte und hob die Achseln.
„Ja. Nein. Also … Kommt dir das nicht komisch vor, dass wir jetzt schon im dritten Mordfall innerhalb von weniger als zwei Monaten ermitteln?“
„Komisch? Wie meinst du das?“, wollte sein Partner wissen.
„Na ja, ich weiß nicht, aber … Hast du nicht erst vor Kurzem zu mir gesagt, hier gäbe es nur selten schwere Gewaltverbrechen? Und jetzt haben wir plötzlich drei Morde kurz hintereinander! Vier, wenn man die Werners noch mit dazuzählt. Das kommt mir ja fast so vor, als hätte ich … was weiß ich? Irgendeinen merkwürdigen Gewaltvirus aus Berlin mit eingeschleppt oder so.“
Gruber verzog das Gesicht und ließ seinen Döner sinken.
„Nun sag bloß noch, dass du abergläubisch bist“, erwiderte er.
„Nein. Eigentlich nicht. Aber das ist doch trotzdem ein reichlich komischer Zufall, dass es ausgerechnet nach meiner Versetzung hierher plötzlich eine solche Häufung an Mordfällen gibt, oder nicht?“
„Und was?“ Gruber schüttelte den Kopf und hob die Brauen. „Du willst mir doch jetzt hoffentlich nicht erklären, dass das irgendwie alles deine Schuld ist? Solche Dinge passieren. Okay, wir sind nicht New York oder irgendeine dieser anderen Millionenstädte, wo alle paar Minuten ein Mord passiert, aber auch hier geschehen Gewaltverbrechen. Du erinnerst dich an die Geschichte, von der ich dir erzählt habe? Von der jungen Frau, die den Onkel ihres Mannes getötet hat, weil sie den Missbrauch durch ihn nicht mehr ertragen hat? Du kannst den Menschen nur bis vor die Stirn schauen. Was dahinter vorgeht, weißt du in aller Regel nicht. Und Verbrechen, besonders Morde, geschehen aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Manche davon sind widerlich, zum Beispiel, wenn einer seine Frau umbringt, um sich die Kosten und Probleme einer Scheidung zu ersparen. Manche sind schrecklich, aber nachvollziehbar, wie zum Beispiel bei der eben erwähnten Frau. Und manche entziehen sich jedweder Definition, wie zum Beispiel jetzt bei Kolwitz. Aber Fakt ist und bleibt: Menschliche Abgründe gab und gibt es überall, egal ob im Hundert-Seelen-Dorf oder in einer Millionenstadt. Also konstruiere bitte keine Zusammenhänge, wo es keine gibt, ja? Die Werners wurden getötet, kurz bevor
du hierher versetzt worden bist. Und Gazizow – sofern er es denn ist – liegt außerdem bereits seit Jahren da draußen im Wald. Dass wir vorgestern auf die Knochen gestoßen sind, war reiner Zufall, sonst nichts!“ Er musterte Benno ausführlich und meinte dann: „Vielleicht solltest du doch mal mit dem Polizeipsychologen sprechen. Nur so als Tipp meinerseits.“
Bei jedem anderen hätte Benno sich vermutlich beleidigt gefühlt, bei Gruber wusste er aber, dass dieser Anstoß lediglich ehrlicher Sorge entsprang. Trotzdem konnte er sich eine kleine Retourkutsche nicht verkneifen.
„Natürlich. Sobald du zu einem Kardiologen gehst und dir einen Herzkatheter setzen lässt. Versprochen.“ Er zwinkerte Gruber grinsend zu, während der den soeben zum Mund geführten Döner erneut sinken ließ.
„Das hat man nun von seiner aufrichtigen Besorgnis“, grummelte er, biss aber schließlich einen großen Happen ab und kaute ihn mit finsterer Miene.
Benno schmunzelte in sich hinein und setzte seine Mahlzeit ebenfalls fort.
„Wie machen wir bei dem Skelettfund denn jetzt weiter?“, fragte Benno, mehr um das Thema zu wechseln, als aus echter Unwissenheit.
„Na ja“, mümmelte Gruber mit vollem Mund. „Zuerst versuchen wir mal den Dentisten zu finden, der den Jungen behandelt hat. Wenn wir Glück haben, war es ein hiesiger. Und wenn der Zahnstatus mit dem des Toten übereinstimmt, haben wir zumindest schon mal eine eindeutige Identifizierung. Anschließend machen wir die nächsten Angehörigen ausfindig und treiben parallel dazu – hoffentlich! – Gregor Scholz auf. Nachdem ja schon in der Akte steht, dass Gazizow bereits vor seinem Verschwinden mit seinen Leuten keinen Kontakt mehr hatte, dürfte er immer noch unsere wertvollste Informationsquelle sein.“
Benno nickte. So in etwa hatte er sich das auch vorgestellt.
„Okay. Klingt vernünftig“, sagte er. „Wenn du nichts dagegen hast, übernehme ich die Zahnärzte, während du versuchst rauszukriegen, wo dieser Scholz steckt.“
Er schob sich den letzten Bissen in den Mund, leerte seine Cola und wischte sich die Finger an der Serviette ab. Gruber nickte und raffte dann die Überreste ihres Mittagessens zusammen.
„Guter Plan“, erwiderte er und stand auf. „Dann lass uns mal loslegen.“