5.
W as für eine Scheiße“, hörte Benno seinen Partner fluchen, während sie sich einen Weg durch die Bäume bahnten. Vorneweg marschierte Kevin Janowski, der zwar nicht begeistert gewesen war, zu hören, dass die Spurensicherung seine Waldhütte auf den Kopf stellen sollte, sich aber auch nicht lange gewehrt hatte.
Benno hatte allerdings durchaus registriert, dass seine Überraschung angesichts der Tatsache, dass Gregor Scholz vor vier Jahren Ahmad Gazizow dort versteckt hatte, recht gering ausgefallen war. Irgendwie schien der Kerl doch mehr über das Ganze zu wissen, als er zugab. Konnte es sein, dass er damals mit Scholz gemeinsame Sache gemacht hatte, der ihn aber – aus Rücksicht auf einen ehemaligen Freund und Kollegen – gedeckt hatte? Nun, man würde sehen. Eventuell …
Scholz hatte nicht übertrieben, als er davon gesprochen hatte, wie abgelegen die Hütte war. Mit Autos waren sie nur bis zur Mündung eines kleinen Trampelpfades gekommen, ab da hieß es zu Fuß zu gehen.
In diesem Abschnitt wirkte der Wald sehr ursprünglich. Anstelle von sauber abgegrenzten Flächen aus Laub- oder Nadelbäumen wuchs hier alles wild durcheinander. Das Unterholz war, trotz der noch leicht winterlichen Witterung und fehlender Belaubung, dicht und der Boden immer wieder morastig.
Letzteres war auch der Grund für Grubers Fluchen, wie Benno bei einem Seitenblick feststellte. Das Schuhwerk seines Partners war noch weniger für einen derartigen Außeneinsatz geeignet als sein eigenes und dürfte mit einiger Sicherheit anschließend ein Fall für den Hochdruckreiniger darstellen. Oder für die Tonne.
Die Kollegen von der Spurensicherung, die noch zusätzlich schwere Koffer mit ihren Arbeitsutensilien schleppen mussten, schauten allerdings auch nicht weniger verbissen drein.
„Ist es noch weit?“, wollte Gruber von Janowski wissen, der stehen geblieben war und mit mürrischer Miene auf die übrigen Beamten wartete.
„Nein.“ Der Streifenbeamte schüttelte den Kopf und deutete auf eine Gruppe hoher Fichten weiter vorne. „Da drunter steht sie. Ist halt klein und versteckt. Mein Opa mochte es so. Ruhe und Abgeschiedenheit beim Angeln, verstehen Sie?“
„Wo soll der denn hier geangelt haben?“, brummelte Gruber, blieb stehen und schnaufte hingebungsvoll, während er den Blick schweifen ließ. „Ich sehe hier jedenfalls nicht mal eine Pfütze, geschweige denn einen See, in dem irgendwelche Fische leben könnten.“
Janowski zuckte die Achseln.
„Das ist locker fünfzig Jahre her. Als Gregor und ich später hergekommen sind, war es schon bloß noch eine bessere Schlammsuhle. Und nach dem letzten Sommer dürfte auch davon kaum noch was übrig sein, wenn nicht schon vorher.“
„Also waren Sie während der letzten Jahre gar nicht mehr hier?“, hakte Benno nach.
„Ne.“ Janowski schüttelte den Kopf, wich Bennos Blick allerdings aus. „Das letzte Mal war noch zusammen mit Gregor. Lange vor dem Abend, wo er den kleinen Scheißer aufgegabelt hat.“
Provozierend richtete Janowski den Blick wieder auf Benno, doch der dachte gar nicht daran, darauf einzugehen, sondern nickte nur.
„Na dann?“, meinte er und marschierte wieder vorwärts. Tatsächlich erreichten sie wenige Minuten später ihr Ziel, die Waldhütte von Janowskis Großvater. Und auch hier hatte Scholz nicht übertrieben, indem er sie als primitiv bezeichnete. Es waren wirklich bloß vier grobe Wände mit Dach, die auch im Inneren keinerlei Komfort aufwiesen. Es gab keine abgetrennten Räume, keine Toilette und offensichtlich auch weder fließendes Wasser noch Strom. Lediglich eine schmale Pritsche mit einer stockfleckigen Matratze darauf, einen Tisch und zwei Stühle. In einer Ecke stand noch eine hölzerne Truhe, die jedoch leer war, wie ein Blick hinein bewies. Benno ließ den Deckel der Truhe zufallen und runzelte die Stirn.
Hatte Scholz nicht gesagt, Ahmads Sachen seien bei dessen Verschwinden alle noch hier gewesen? Hatte er sie mitgenommen? Oder waren sie im Laufe der Jahre gestohlen worden? Was waren das überhaupt für Sachen gewesen? Nur Kleidung? Oder auch andere, persönliche oder gar Wertgegenstände?
Im Geist machte Benno sich eine Notiz, dass sie Scholz unbedingt danach fragen mussten. Eventuell ergab sich ja auf diesem Wege irgendein Hinweis, mochte er noch so klein sein.
„Und hier hat Scholz den kleinen Gazizow untergebracht? Das muss aber reichlich ungemütlich für den Jungen gewesen sein“, meinte er und sah sich zweifelnd um. „Hier konnte der sich ja nicht mal ’ne Konserve aufwärmen.“
„Wozu gibt es Campingkocher?“, erwiderte Gruber und Benno musste ihm insgeheim recht geben.
Die Kollegen von der Spurensicherung sahen sich zweifelnd im Raum um und einer wandte sich schließlich an Gruber.
„Also, euer Eifer in allen Ehren, aber … jetzt mal im Ernst: Was sollen wir hier bitte untersuchen?“
„Na, alles, was da ist“, erwiderte der Gefragte. „Vor allem das Bett, aber auch den Tisch und die Stühle. Es kann auch sicher nicht schaden, wenn ihr checkt, ob hier irgendwo Blut ist. Das Opfer starb an einer Kopfverletzung, die bluten in der Regel ziemlich heftig. Falls was davon in die Ritzen gelaufen ist, könnte sich womöglich noch was finden lassen. Also tut euer Bestes.“
„Wenn ihr meint.“ Der Kriminaltechniker nickte mit skeptischer Miene. „Euch ist aber bewusst, dass das Ganze vier Jahre her und diese Bude hier alles andere als hermetisch abgeschlossen ist, oder? Mal abgesehen davon, dass die Tür kein Schloss hat und somit jeder Hinz und Kunz rein- und rausspazieren konnte. Damit ist – selbst wenn wir was finden sollten – noch lange nicht klar, dass es später auch verwertbar sein wird.“
„Dessen sind wir uns bewusst“, bestätigte Gruber nickend. „Uns geht es heute auch in erster Linie darum, den möglichen Tatablauf von damals zu rekonstruieren, und dazu gehört auch das Ausfindigmachen des Tatorts. Und diese Hütte kommt dafür durchaus infrage. Immerhin haben wir den Toten nicht weit von hier gefunden.“ Er nickte Benno zu. „Macht ihr hier drin euren Job, wir sehen uns inzwischen draußen ein bisschen um.“
Nachdem der Kriminaltechniker erneut mit ergebener Miene genickt hatte, verließen Benno und Gruber die Hütte.
Janowski war vorhin nicht mit nach drinnen gekommen, sondern stand, mit verschränkten Armen, draußen an die Bretterwand gelehnt, als sie ins Freie traten.
„Und Sie hatten also keine Ahnung, dass Ihr Kollege ausgerechnet hier Ahmad Gazizow versteckt hatte?“, eröffnete Gruber übergangslos das Gespräch und erntete ein Kopfschütteln.
„Ne. Hab ich doch schon gesagt.“
„Hat er Ihnen denn überhaupt irgendwas von seinen damaligen Ermittlungen erzählt?“ Janowski schnaubte abfällig.
„Ermittlungen nennen Sie das? Der Spinner hatte sich da total in was verrannt! Völliger Schwachsinn, wenn Sie mich fragen! Bei ihm hörte sich das nach ’ner unglaublichen Sache an. Menschenhändler! Intrigen bis rauf in höchste Kreise! Total bescheuert! Und er wollte, dass ich ihm bei seiner Rumschnüffelei helfe! Als ob!“ Janowski tippte sich an die Stirn.
„Also denken Sie, an der Sache war nichts dran? Was war denn mit den Beweisen, die er gesammelt hatte?“, hakte Benno nach. Doch Janowski lachte nur höhnisch und schüttelte den Kopf.
„Was denn für Beweise? Etwa diese Akte mit unscharfen Fotos von irgendwelchen Leuten und die amateurhaften Überwachungsprotokolle, die er in seiner Freizeit angefertigt hat?“ Er stieß ein weiteres abfälliges Schnauben aus. „Ich sag Ihnen mal was: Gregor hatte sich in die kleine Schwuchtel verknallt und darüber die Realität aus den Augen verloren. Der hätte ihm sonst was erzählen können, Gregor hätte es für bare Münze genommen. Er hat einfach nicht kapiert, dass der miese kleine Stricher ihn lediglich benutzt hat.“
„Sie glauben also nicht, dass Ahmad Gazizow tatsächlich in Gefahr war“, stellte Benno kühl fest. „Wie erklären Sie sich dann, dass wir sein Skelett gefunden haben? Im Wald vergraben und mit einer tödlichen Schädelverletzung?“
Janowskis Miene verschloss sich. Er wirkte regelrecht trotzig, als er die Arme erneut verschränkte und die Brauen zusammenzog.
„Was weiß denn ich“, blaffte er ungehalten. „Vielleicht war er in Gefahr, vielleicht auch nicht. Vielleicht hat ja sogar Scholz selbst ihn umgebracht, was fragen Sie mich das? Ich hab mit der ganzen Angelegenheit nicht das Geringste zu tun!“
„Sie denken, Gregor Scholz hätte Gazizow erschlagen? Wie kommen sie darauf? Hat er irgendetwas in der Richtung erzählt? Oder angedeutet, es tun zu wollen?“ Benno ließ nicht locker und Janowski wurde sichtlich immer frustrierter.
„Herrgott noch mal“, rief er und warf die Arme hoch. „Das war doch nur so dahingesagt! Ich hab keine Ahnung, wer den Kerl umgebracht hat oder warum! Wie oft soll ich das denn noch sagen? Alles, was ich weiß, ist, dass Gregor buchstäblich den Kopf verloren hat, wegen dem kleinen Mistkäfer!“
„Aber Sie hatten keine Ahnung, dass er hier in Ihrer Hütte war?“, vergewisserte Benno sich ein weiteres Mal.
„Nein, verdammt! Wenn Gregor mir gesagt hätte, dass er vorhatte den Typen hier zu verstecken, denken Sie, ich hätte das zugelassen?“
„Nein“, erwiderte Benno frostig. „Das denke ich nicht. Aber ich hätte da noch eine andere Frage. Gregor Scholz hat ausgesagt, als er Gazizows Verschwinden bemerkt hat, wären dessen Besitztümer alle noch hier in der Hütte gewesen. Wissen Sie vielleicht, um was es sich da im Einzelnen gehandelt hat oder was mit dem Zeug passiert ist?“
„Keine Ahnung.“ Janowski zuckte die Achseln. „Ich hab doch schon gesagt, dass ich ewig nicht hier gewesen bin.“
Benno machte eine Kunstpause, ehe er fortfuhr: „Stimmt, das haben Sie gesagt. Aber nehmen wir nur mal an, sie wären doch hier gewesen, vielleicht sogar kurz nachdem Scholz den Jungen hierher verfrachtet hat, und nehmen wir mal weiter an, Sie hätten die beiden auch noch sozusagen in flagranti erwischt. Hier! In Ihrer Hütte! Ich frage mich ehrlich, wie Sie reagiert hätten?“
Janowski zuckte zusammen, wurde zuerst blass, dann rot und schließlich machte er einen Satz vorwärts, packte Benno am Kragen und drängte ihn rückwärts Richtung Hüttenwand.
„Ach, so läuft das, ja?“, rief er völlig außer sich. „Du willst mir da was anhängen? Ausgerechnet du? Du miese Drecksschwuchtel! Ich mach dich fertig!“
Benno umklammerte reflexartig die Handgelenke des anderen Mannes und versuchte sie von seinem Jackenkragen zu lösen, doch es gelang ihm erst, als Gruber sich einschaltete und Janowski seinerseits energisch zurückzerrte.
„Verdammt noch mal! Janowski!“, rief er. „Beherrschen Sie sich doch mal! Ich denke, Sie sind Polizeibeamter? Wo bleibt denn Ihre Professionalität?“
Das wirkte scheinbar. Der Griff des Mannes lockerte sich, er wich zurück, holte tief Atem und spuckte schließlich demonstrativ zur Seite hin aus.
„Ich hab euch zur Hütte geführt“, knurrte er. „Damit bin ich raus und hab ab sofort zu der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu sagen. Wenn ihr noch was von mir wollt, wendet euch ab jetzt an meinen Anwalt.“ Er wandte sich ab und machte Anstalten zu gehen.
„Es könnte durchaus sein, dass wir noch Fragen haben“, rief Gruber ihm nach. Darauf reagierte er nur mit einer wegwerfenden Handbewegung. Ohne innezuhalten oder sich umzudrehen, erwiderte er: „Ohne Anwalt sag ich gar nichts mehr.“
Benno und Gruber sahen ihm hinterher, wie er zwischen den Bäumen verschwand. Irgendwann seufzte der ältere Beamte.
„Musste das jetzt wirklich sein, Benno?“
„Was denn?“
„Ach, komm! Du hast ihn doch bewusst mit deiner Fragerei provoziert. Denkst du, ich bin blöd?“
Benno zuckte die Achseln.
„Nein. Natürlich nicht. Aber mit dem Kerl stimmt doch irgendwas nicht“, verteidigte er sich dann. „Irgendwas ist faul an seiner Geschichte. Hast du bemerkt, wie unangenehm ihm die Frage nach Gazizows Habseligkeiten war?“
„Und du denkst, du hast uns jetzt weitergeholfen, indem du ihn endgültig vergrätzt hast?“ Gruber hob spöttisch die Brauen.
„Na ja, das stimmt schon“, räumte Benno ein und schob die Hände in seine Jackentaschen. „Ich hab das vielleicht ein bisschen ungeschickt angefangen. Eigentlich wollte ich ihn ja bloß etwas aus der Reserve locken, in der Hoffnung, dass er sich vielleicht verplappert oder so.“
„Aus der Reserve locken?“, wiederholte Gruber und stieß ein kurzes Schnauben aus. „Ich würde sagen, das ist dir hervorragend gelungen. Der macht jetzt höchstens total dicht. Von dem hören wir keinen Pieps mehr!“ Er seufzte und strich sich das Haar glatt. „Na schön. Das lässt sich jetzt ohnehin nicht mehr ändern. Sehen wir uns in der Umgebung um.“
Gemeinsam mit Benno stapfte er während der darauffolgenden halben Stunde durch das die Hütte umgebende Unterholz. Die Bäume, vorwiegend Nadelgehölze, standen hier sehr dicht und mehr als ein Mal peitschten tief hängende Äste ihnen unangenehm gegen Körper und Kopf. Lediglich dort, wo sich einst der kleine Waldsee befunden haben musste, war eine freie Fläche, einzig bewachsen mit struppigem Gras und Binsen.
„Das bringt nichts“, meinte Benno schließlich und blieb stehen. „Nach vier Jahren ist hier draußen einfach nichts mehr. Falls es überhaupt noch irgendwas gibt, dann höchstens drinnen in der Hütte und …“
Ein lauter Ruf erscholl und unterbrach seine Ausführungen. Einer der Kriminaltechniker war aus der Hütte gekommen und hielt einen Beweismittelbeutel hoch. Darin befand sich etwas, was von Weitem wie eine Art Heft oder ein Magazin aussah.
„Gruber? Herr Hagemann?“, wiederholte der Mann seinen Ruf und wandte sich in ihre Richtung, als er sie entdeckte.
„Sieht aus, als hättest du recht“, meinte Gruber lakonisch und marschierte so rasch wie möglich zurück zur Hütte.
„Was habt ihr denn da Schönes?“, fragte er, als er den Kriminaltechniker erreichte, und nahm ihm den Plastikbeutel ab.
„Sieh es dir selbst an“, erwiderte der achselzuckend und deutete auf das Fundstück, das sich bei näherem Hinsehen tatsächlich als Schreibheft entpuppte, noch dazu in erstaunlich gutem Zustand. Nach vier Jahren hier draußen hätte man erwarten können, dass es vermodert oder wenigstens halbwegs in Auflösung begriffen war, aber außer einem leichten Gelbstich des Einbands und dezent aufgequollenen Rändern war davon nichts zu bemerken.
„Eine der Fußbodendielen, hinten in der Ecke, unter der Pritsche, war locker und darunter haben wir einen Hohlraum gefunden. Da drin steckte das Heft, allerdings noch zusätzlich eingewickelt in eine Tragetasche aus Kunststoff. Deswegen ist es wohl nach der langen Zeit so gut erhalten geblieben.“
Benno fischte ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Tasche und nahm das Heft dann vorsichtig aus dem Beutel. Behutsam, um es nicht zu beschädigen, blätterte er ein paar Seiten durch und zog die Brauen zusammen.
Die Seiten waren dicht beschrieben, allerdings konnte er nichts von dem lesen, was da stand, denn die Worte entstammten ganz offensichtlich einer fremden Sprache. Zudem hatte der Schreiber keine besonders saubere Handschrift.
„Was zum Teufel soll das denn alles heißen?“, murmelte er. „Kommt dir hier irgendwas bekannt vor?“, wandte er sich an seinen Kollegen, der ihm über die Schulter blickte, doch der schüttelte den Kopf.
„Ich hab keinen Schimmer, aber ich lehne mich mal ein Stück aus dem Fenster und vermute, dass dieses Heft dasjenige welches ist, von dem uns Scholz erzählt hat. Ahmads Lebensversicherung.“
„Die ihm aber offensichtlich nicht wirklich was genützt hat, wie wir wissen.“ Benno seufzte und blätterte weiter durch die Seiten, immer in der Hoffnung, irgendwo Einträge in Deutsch zu finden, oder wenigstens in irgendeiner Sprache, die er verstand. Doch sie wurde enttäuscht.
„Na toll“, knurrte Benno. „Was für eine Sprache spricht man eigentlich in … wo kam er noch gleich her? Aserbaidschan, oder?“
„Japp. Keine Ahnung.“ Gruber zuckte die Achseln. „Finden wir’s raus.“