10.
M orgen.“ Benno betrat sein Büro und nickte Gruber zu, der bereits am Schreibtisch saß. Rasch schielte er auf die Uhr und registrierte erleichtert, dass nicht er zu spät, sondern sein Kollege offenbar zu früh an seinem Platz war. Es fehlten noch ganze zehn Minuten bis zur vollen Stunde, der Zeit, zu der sie offiziell ihre Arbeit beginnen mussten.
Vorsichtig ließ er sich auf seinem Stuhl nieder, darauf bedacht, seine Kehrseite, die heute Morgen doch etwas zwickte, keiner unnötigen Belastung auszusetzen. Gruber linste über die Gläser seiner Lesebrille zu ihm herüber und grinste in sich hinein.
„Na?“, meinte er dann. „Verhoben?“
Benno war versucht, ihm die Zunge herauszustrecken, unterdrückte den kindischen Impuls jedoch und beschloss, stattdessen auf Konfrontationskurs zu gehen. Er setzte sein breitestes Grinsen auf und nickte: „Aber so was von.“
Gruber blinzelte verdutzt, dann lachte er lauthals los.
„Was immer dir guttut“, meinte er und vertiefte sich erneut in die Unterlagen auf seinem Schreibtisch.
Benno öffnete die Schublade, in der er die Kopien des in der Waldhütte gefundenen Heftes aufbewahrte, und legte den Blätterstapel vor sich auf den Tisch. Flüchtig sah er sie durch, konnte sie aber selbstverständlich noch immer nicht lesen und checkte schließlich seufzend die Uhrzeit auf seinem Handydisplay.
Erst kurz nach neun Uhr, bis die Übersetzerin eintraf, würde es also noch dauern. Neugierig schielte er zu Gruber, der nach wie vor in irgendwelche Papiere vertieft zu sein schien.
„Irgendwas Neues?“, fragte er und sein Partner sah hoch.
„Nicht wirklich“, erwiderte er achselzuckend. „Falls deine Frage darauf abzielt, was ich hier vor mir habe – das ist das Verzeichnis über die Aktenentnahmen aus dem Archiv der letzten Woche. Natürlich nur eine Kopie, aber ich dachte mir, wenn ich schon sonst gerade nichts Wichtiges zu tun habe, vergleiche ich doch mal die Unterschrift von diesem angeblichen Horst Gruber, der die Akte über Ahmad Gazizow entliehen hat, mit Schriftproben der übrigen Kollegen und der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft.“
„Und?“ Benno war gespannt, doch Gruber seufzte und zuckte erneut die Achseln, ehe er antwortete.
„Schwer zu sagen. Der Kerl hat seine Schrift definitiv verstellt und versucht, meine Unterschrift nachzuahmen, aber dass es nicht meine eigene Handschrift ist, sieht ein Blinder mit Krückstock, würde ich meinen. Darüber hinaus? Da stoße ich an meine Grenzen. Wahrscheinlich wäre es am besten, da einen Gutachter zurate zu ziehen.“
Benno nickte.
„Gute Idee“, sagte er. In diesem Moment klopfte es und die Tür des Büros wurde geöffnet. Ein Uniformierter steckte den Kopf nach drinnen.
„Hier ist eine Leila Rasulow, die sagt, sie hätte einen Termin mit Kommissar Hagemann.“
„Stimmt.“ Benno war überrascht, stand aber eilig auf, um die Dame in Empfang zu nehmen. „Soll reinkommen.“
Der Mann nickte und zog sich zurück, stattdessen tauchte gleich darauf eine junge Frau im Türrahmen auf. „Frau Rasulow?“, fragte Benno und ließ rasch einen Blick über die etwas auffällige Erscheinung gleiten. Sie nickte und Benno bat sie nach drinnen. „Mein Kollege, Kommissar Gruber“, stellte er seinen Partner vor und Leila Rasulow nickte lächelnd in dessen Richtung, während sie das Büro betrat und Benno die Tür hinter ihr schloss.
„Ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass ich früher gekommen bin?“, fragte sie und wieder fiel Benno die tiefe Stimmlage der jungen Frau auf.
Sie trug eng anliegende schwarze Jeans, eine rote Seidenbluse und dazu einen breiten Gürtel, der ihre schmale Taille vorteilhaft betonte. Die schlanken Beine steckten bis zu den Knöcheln in schicken, schwarzen Stiefeletten und eine auffällige, schwarz-rot-karierte Jacke vervollständigte das Ensemble. Für jeden Heterokerl sicher ein absoluter Augenschmaus, wie Benno schmunzelnd dachte.
Dann kam sie näher und er unterzog sie einer aufmerksameren Musterung. Auf den ersten Blick schien alles an ihr eindeutig weiblich zu sein, angefangen bei den sorgfältig, jedoch nicht übertrieben in Szene gesetzten sanften Rundungen von Hüften und Brüsten über die glänzenden blauschwarzen Haaren, die lose über ihre Schultern fielen, bis hin zu dem dezenten, jedoch äußerst gekonnt aufgetragenen Make-up. Irgendwie wurde Benno das Gefühl nicht los, dass etwas an dem Bild nicht stimmte. Er runzelte die Stirn, musterte sie genauer und aus dem Augenwinkel sah er, dass Gruber dasselbe tat.
Leila Rasulow war jung, sogar ziemlich jung, Benno schätzte sie kaum älter als Anfang zwanzig. Darüber hinaus war sie auffallend groß und schlank, dafür aber etwas grobknochig für eine Frau. Auch die Schultern schienen ihm ungewöhnlich breit. Zwar kaschierte die Kleidung das alles mehr oder weniger, aber ihn beschlich trotzdem ein bestimmter Verdacht.
„Sie sind also die Übersetzerin“, stellte er fest, nachdem er Leila Rasulow gegenüber wieder Platz genommen hatte. Sie nickte lächelnd. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihren Ausweis zu zeigen, bevor wir anfangen?“, bat Benno und das Lächeln der Frau erlosch.
„Warum das?“, fragte sie und wirkte plötzlich alarmiert.
„Wir ermitteln in einem Mordfall, Frau Rasulow, und der Text, um den es geht, ist dabei möglicherweise von entscheidender Bedeutung. Wir möchten einfach sichergehen, dass Sie auch wirklich die Person sind, die uns avisiert wurde“, erklärte er möglichst diplomatisch.
Einen Moment lang sah Leila Rasulow zwischen Benno und Gruber hin und her, dann seufzte sie und fischte ein Portemonnaie aus ihrer Umhängetasche, die sie über der rechten Schulter trug. Ihm entnahm sie das gewünschte Plastikkärtchen und reichte es über den Tisch an Benno. Dann schlug sie in einer eleganten Bewegung die langen Beine übereinander und lehnte sich mit steinerner Miene zurück. Benno nahm den Ausweis entgegen, warf einen Blick auf das Foto und stutzte. Als Nächstes wanderte sein Blick zu seinem Gegenüber und er räusperte sich, als er seinen bisher vagen Verdacht bei genauem Hinsehen tatsächlich bestätigt fand.
„Hier steht zwar der Nachname Rasulow, allerdings lautet der Vorname …“
„Lev! Ja, das weiß ich“, erwiderte sein Gegenüber. „So lautet der Name, den mir meine Eltern gegeben haben.“
„Also sind Sie transsexuell?“, erkundigte sich Benno und Leila nickte.
„So ist es. Ist das ein Problem?“
„Absolut nicht“, meldete sich Gruber zu Wort. „Sie sind hier, um ein Dokument zu übersetzen, weiter nichts. Alles andere ist Ihre Privatangelegenheit.“
„Ja, natürlich“, schnaubte Leila. „Und kaum bin ich nachher zur Tür raus, machen Sie sich über die dämliche Transe lustig. Ich weiß doch, wie so was läuft. Verdammt!“ Sie schüttelte den Kopf und nahm den Ausweis wieder zurück. „Ich hätte ablehnen sollen, als die Anfrage wegen der Übersetzung kam.“
„Frau Rasulow“, sagte Benno ernst. „Ich weiß nicht, was Sie bisher für Erfahrungen mit Behörden im Allgemeinen oder mit der Polizei im Speziellen gemacht haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass es uns nur darum geht, einen Mord aufzuklären. Den Mord an einem noch sehr jungen, homosexuellen Landsmann von Ihnen.“
„Ein Landsmann von mir? Und der war schwul?“ Leila kniff die Augen zusammen. „Wer hat ihn umgebracht? Und warum?“
„Eben das versuchen wir herauszufinden, und wir hoffen, dass uns Ihre Übersetzung dabei hilft.“ Benno schob die Kopien des Schulheftes über die Schreibtischplatte zu ihr hinüber. Zögernd griff sie danach, warf einen ersten Blick darauf und überflog dann das Geschriebene. Benno sah ihr gespannt zu, wie sie die Stirn runzelte, hier und da zu lesen begann und dann weiterblätterte. Schließlich blickte sie auf.
„Kann ich das mitnehmen?“, fragte sie.
„Da es sich um eine Kopie handelt, ja“, erwiderte er. „Nur sollte vorerst niemand davon erfahren. Weder dass Sie das Schriftstück haben, noch was darin steht.“
„Selbstverständlich.“ Leila Rasulow nickte und stand auf. „Bis wann brauchen Sie die Übersetzung?“
„Nun, ich möchte Sie nicht hetzen, aber … so schnell wie es Ihnen möglich ist“, bat Benno.
„Das sollte nicht allzu lange dauern“, erklärte sie und packte die Blätter in ihre Tasche. „Aserbaidschanisch ist bei Übersetzungen nicht gerade sehr gefragt, ich kann also nicht behaupten, in Arbeit zu ersticken.“ Sie lächelte schmal.
„Darf ich fragen, was Sie ansonsten beruflich machen?“, erkundigte sich Benno. Aus irgendeinem Grund interessierte ihn das.
„Warum wollen Sie das wissen?“, konterte Leila mit einer Gegenfrage.
„Aus reinem Interesse“, erwiderte Benno und zuckte die Achseln.
„Ich übersetze nicht nur Aserbaidschanisch, sondern auch Russisch ins Deutsche. Ansonsten bin ich ausgebildete Friseurin und Kosmetikerin, allerdings gerade auf der Suche nach einer festen Anstellung. Ist damit das Transen-Klischee für Sie hinreichend erfüllt, Herr Kommissar?“ Sie lächelte zynisch.
Benno blieb die Antwort schuldig, doch Leila Rasulow wartete auch keine ab, sondern warf sich stattdessen den Trageriemen ihrer Tasche über die Schulter, nickte Gruber noch einmal zu und verließ hocherhobenen Hauptes das Büro.
„Wow“, meinte Bennos Partner. „Die Gute hat Temperament.“
„Allerdings.“ Seufzend stemmte Benno die Fäuste in die Seiten und schüttelte den Kopf, ehe er sich wieder hinsetzte. „Aber vermutlich hat sie gute Gründe für ihre Reaktion.“
„Kann sein.“ Gruber räusperte sich. „Also, dann wieder zurück zum Tagesgeschäft. Ich werde gleich mal mit dem Alten reden, wegen der angeblichen Aktenentnahme und der Einholung eines Schriftgutachtens. Ich hab da nämlich so eine Ahnung, dass es uns womöglich weiterhilft, wenn wir rauskriegen, wer das gewesen ist.“
„Also meinst du, Scholz hat recht mit seinen Vermutungen?“ Benno sah seinen Partner mit gerunzelter Stirn an. Gruber zuckte die Achseln.
„Schwer zu sagen. Als Bulle möchte ich natürlich drauf beharren, dass nichts unmöglich ist, schließlich hat man schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen, wie es so schön heißt. Aber als Mensch …“ Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Wer denkt schon gern schlecht von seinen Kollegen? Andererseits kann ja unmöglich irgendein Zivilist so mir nichts, dir nichts in die Staatsanwaltschaft marschieren und irgendeine Akte anfordern, oder? Er – und da es mein Name ist, der verwendet wurde, gehe ich davon aus, dass es ein Mann gewesen ist – muss doch zumindest über grobe Kenntnisse verfügen, wie so was normalerweise abläuft.“
„Na ja, es könnte ja auch jemand direkt aus der Staatsanwaltschaft gewesen sein“, gab Benno zu bedenken. Ihm kam ein Gedanke. „Was hältst du davon, wenn ich noch mal diesem Dentisten auf den Zahn fühle?“ Nicht, dass er sich darum gerissen hätte, dem schleimigen Zahnarzt erneut gegenüberzutreten, aber schließlich war das sein Job und da gab es keinen Platz für solche Empfindlichkeiten. Abgesehen davon glaubte er auch nicht wirklich, dass ihm von Dinnebier irgendeine Gefahr drohte.
Gruber verzog das Gesicht.
„Boah! Schlechte Wortspiele so früh am Morgen? Verschon mich! Aber ja, gute Idee. Ich glaube zwar nicht, dass dabei viel Neues rauskommt, immerhin hat er ja schon zugegeben, dass er Gazizow gekannt und behandelt hat. Was mich übrigens immer noch wundert und in meinen Augen wiederum gegen Scholz’ Behauptung spricht, dass der Kerl sich an dem kleinen Gazizow schadlos gehalten haben und mit in der ganzen Chose drinstecken soll.“
„Tja, weißt du, darüber hab ich auch nachgedacht“, erklärte Benno und stand auf. „Und ich schätze, da hat Dinnebier einfach Pech gehabt. Wenn ich mir sein Verhalten vor Augen führe, glaube ich wirklich, dass er vorgehabt hat, den Ahnungslosen zu spielen und womöglich abzustreiten, Ahmad gekannt zu haben. Aber seine übereifrige Assistentin hat ihm da wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich hatte ihr bei meiner Ankunft schon grob skizziert, worum es ging und sie kam kurz drauf einfach mit der Akte des Jungen und dessen Röntgenbildern zur Tür reinspaziert. Der gute Doktor schien nicht begeistert, aber was hätte er machen sollen?“
„Hm, wäre natürlich möglich, hilft uns aber nicht wirklich weiter“, brummelte Gruber. „Aber knöpf ihn dir ruhig noch mal vor. Wer weiß, vielleicht bringst du ihn ja dazu, diesmal noch ein bisschen mehr auszuspucken, wenn du durchblicken lässt, dass wir darüber im Bilde sind, wie er sich seine zahnärztlichen Behandlungen vergüten ließ? Wenn das stimmt, was Scholz sagt, wenn diese ominöse Sex-Clique wirklich existiert und Dinnebier regelmäßig welche von deren Prostituierten behandelt hat, wäre es doch zumindest denkbar, dass er mehr über die Sache weiß. Wenn er nicht sogar selbst bis zum Hals mit drinsteckt.“
„Das wäre nun wirklich zu schön, um wahr zu sein.“ Benno grinste und stand auf. Mit seiner Jacke in der Hand ging er zur Tür. Die Klinke schon in der Hand zögerte er jedoch und wandte sich noch einmal zu Gruber um.
„Hab ich dir eigentlich erzählt, wie dieser Doktor Dinnebier beim letzten Mal versucht hat, auch mich anzubaggern?“
Gruber sah hoch, die Augen erstaunt aufgerissen.
„Er hat was? Der Dinnebier?“ Er schüttelte den Kopf. „Ist das dein Ernst? Und dabei dachte ich, der Kerl wäre glücklich verheiratet.“
Benno grinste schief.
„Zumindest hab ich es so empfunden“, schränkte er ein. „Vielleicht hab ich es mir aber auch bloß eingebildet … Na ja …“ Er fuhr sich durch die Haare.
„Was hat er denn gemacht?“, wollte Gruber wissen.
„Nicht viel eigentlich“, erwiderte Benno abwehrend, dem es bereits leidtat, aus dem Nähkästchen geplaudert zu haben. „Ich sagte ja schon, vielleicht hab ich auch überreagiert, keine Ahnung. Es war nur … so ein Gefühl halt. Die Art, wie er mich angeschaut hat und so. Ach, vergiss es einfach!“
Er wandte sich zum Gehen, doch sein Partner rief ihn zurück.
„Warte! Möchtest du lieber nicht allein zu dem Kerl? Soll ich mitkommen?“
„Quatsch!“, widersprach Benno entrüstet. „Ich bin doch kein kleines Mädchen! Und diesem Schleimbeutel ja wohl allemal gewachsen. Geh du zu Kremer und ich fahre zu Dinnebier. Wir sehen uns dann nachher.“
„Okay“, meinte Gruber. „Aber Benno?“, hielt er seinen Kollegen noch einmal zurück. Der drehte sich um und schaute fragend.
„Hm?“
„Bitte nicht schon wieder ein Alleingang, okay? Wenn irgendwas ist, ruf an“, mahnte Gruber eindringlich.
„Ja, Papa. Schon klar.“ Benno grinste noch einmal und ging.