11.
„
I
st es möglich, Herrn Doktor Dinnebier zu sprechen? Ich hätte noch ein paar Fragen an ihn.“
Benno lehnte über dem Empfangstresen der Zahnarztpraxis und lächelte die Sprechstundenhilfe möglichst gewinnend an. Das unangenehme Gefühl in der Magengrube ignorierte er dabei tunlichst.
„Sie sind doch der Kommissar, der vor ein paar Tagen schon einmal hier war, oder?“, wurde er gefragt und nickte.
„Richtig.“
„Einen Moment. Ich werde eben nachsehen, ob der Herr Doktor Zeit hat. Warten Sie bitte inzwischen hier.“
Er nickte erneut zur Bestätigung und lehnte sich dann mit dem Rücken an den Tresen, während er den Blick durch die Praxis wandern ließ, so weit wie sie von seinem Standpunkt aus einsehbar war.
Was so ein Zahnarzt wohl im Monat verdiente? Wenig konnte es nicht sein, wenn er sich die Einrichtung so betrachtete. Alles wirkte sehr edel, viel Holz, indirekte Beleuchtung, blitzsauberer Teppichboden im Gang. An drei Türen stand jeweils „Behandlung“, an einer weiteren „Röntgen“, hinter einer fünften verbarg sich laut Beschriftung das Wartezimmer und eine weitere war komplett unbeschriftet. Das Büro des Dentisten, in dem Benno bereits vor ein paar Tagen schon einmal gewesen war.
Kaffeeduft waberte durch die Luft, gedämpftes Murmeln kam von irgendwoher, ein Telefon an der Anmeldung begann zu läuten, worauf eine weitere, adrett gekleidete Arzthelferin herbeieilte und den Hörer abnahm.
„Herr Doktor Dinnebier hat kurz Zeit für Sie, allerdings nicht lange. Ein Patient wartet bereits auf seine Weisheitszahn-OP“, ertönte es da hinter Benno. Er drehte sich um und blickte der Arzthelferin entgegen, die aus dem unbeschrifteten Raum geflattert kam und mit einer auffordernden Geste auf dessen offen stehende Tür wies.
„Vielen Dank.“ Theo lächelte ihr noch einmal zu und steuerte dann das Büro des Zahnarztes an.
Der Dentist thronte hinter seinem Schreibtisch, diesmal in hellgrüner Montur und mit einem Mundschutz, der lose um seinen Hals hing.
„Herr Hagemann“, sagte er, stand auf und reichte Benno lächelnd die Hand. „Was verschafft mir das unerwartete Vergnügen, noch dazu so früh am Tag?“
Trotz des äußeren Anscheins absoluter Gelassenheit war Dinnebiers Blick wachsam. Außerdem brachte er es irgendwie fertig, selbst diesen an sich harmlosen Satz schon anzüglich klingen zu lassen. Oder bildete Benno sich das ein? Aber dass der gute Doktor seine Hand wieder viel zu lange festhielt, das war kein Produkt seiner Fantasie, oder?
„Ja, erm …“ Benno räusperte sich. „Also, ob das ein Vergnügen für Sie sein wird, kann ich nicht beurteilen, Herr Doktor Dinnebier, aber es haben sich ein paar neue Fragen im Mordfall Ahmad Gazizow ergeben.“
„Aha.“ Der Dentist musterte ihn neugierig und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Aber setzen Sie sich doch erst mal. Kann ich Ihnen irgendwas anbieten? Einen Kaffee? Wasser?“
„Danke, nein.“ Benno hob abwehrend die Hand. Er beschloss, gar nicht erst lange um den heißen Brei herumzureden. „Doktor Dinnebier“, begann er. „Im Laufe unserer Ermittlungen sind gewisse … Behauptungen Sie betreffend aufgekommen. Uns wurde zugetragen, dass Sie sich die Behandlungen von Ahmad Gazizow mit sexuellen Dienstleistungen vonseiten des jungen Mannes vergüten ließen. Entspricht das der Wahrheit?“
Einen Augenblick lang schwieg der Zahnarzt, dann holte er tief Atem und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Allerdings“, sagte er gefasst. „Sie müssen wissen, ich bin bisexuell veranlagt und kann Sex mit einem Mann durchaus etwas abgewinnen. Und der arme Kerl hatte davon zumindest ein ordentliches Gebiss im Mund anstelle einer Sondermülldeponie. Allerdings spielte sich das alles auf einer rein körperlichen, um nicht zu sagen geschäftlichen Ebene ab. An einer Beziehung mit Gazizow oder irgendeinem anderen Mann hatte und habe ich keinerlei Interesse. Immerhin bin ich glücklich verheiratet, und das seit fast 20 Jahren.“
„Ihre Frau weiß also über Ihre Neigung Bescheid?“, wollte Benno wissen. Er konnte nicht sagen, welche Reaktion er erwartete, aber definitiv nicht die, die er nun bekam. Dinnebier lachte amüsiert und es wirkte geradezu widerlich gönnerhaft.
„Meine Frau ist zufrieden, solange ich ihrem Bett fernbleibe und jederzeit ausreichend Geld auf unserem Konto liegt, damit sie ihren Lebensstil und ihre Shoppingtouren finanzieren kann. Alles andere ist ihr herzlich egal.“
„Sagten Sie denn nicht gerade, Sie wären glücklich verheiratet?“ Benno war verwirrt.
„Bin ich ja auch“, bestätigte Dinnebier. „Ich habe zwei erwachsene Kinder, ein schönes Zuhause und eine attraktive Gattin, die mich so gut wie nie behelligt. Wenn Sie mich fragen, bin ich damit glücklicher als so mancher andere, bedauernswerte Tropf, der seit Jahrzehnten unter dem Pantoffel steht oder sich ebenso verzweifelt wie vergeblich abmüht, seine Gattin glücklich zu machen. Keine Ahnung, ob meine Frau über meine gelegentlichen …Abenteuer mit jungen Männern Bescheid weiß, und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Gefragt hat sie jedenfalls bisher nie. Im Gegenzug frage ich sie allerdings auch nicht, mit wem sie so alles durch die Betten tobt. Ich finde, das ist ein ziemlich fairer Handel, von dem wir beide profitieren. Und abgesehen davon, Herr Kommissar – es gibt da ein Sprichwort: Der kluge Hund scheißt nicht dort, wo er frisst, verstehen Sie?“
Benno fühlte sich abgestoßen. So viel Egozentrik und Arroganz auf einem Haufen empfand er als Übelkeit erregend und musste sich beherrschen, um keine entsprechende Bemerkung loszulassen. Gruber wäre davon sicher nicht begeistert. Und Kriminalrat Kremer erst recht nicht.
„War das alles, was Sie wissen wollten?“, fragte Dinnebier nun und hob fragend die Brauen.
„Nein.“ Benno schüttelte den Kopf und ergänzte: „Wenn Sie so fragen, nicht. Dieselbe Quelle hat nämlich auch behauptet, dass Ahmad Gazizow das Opfer eines Menschenhändlerrings gewesen ist und dass er zur Prostitution gezwungen wurde. Wissen Sie etwas darüber?“
„Also, Herr Kommissar, ich bitte Sie! Nun hören Sie aber auf.“ Dinnebier runzelte die Stirn. „Bloß weil ich ab und zu mal was mit einem Stricher habe, weiß ich doch nichts über dessen persönlichen Hintergrund. Und es interessiert mich auch nicht. Gazizow hat mir seinen Arsch hingehalten. Als Entlohnung für meine Dienste und weil er sonst nichts hatte! Denken Sie vielleicht, ich hätte mit dem Kerl irgendwelche tiefschürfenden Gespräche geführt? Ich mag zwar einen medizinischen Beruf haben, aber das bedeutet nicht, dass ich mir einbilde, jedem armen Schlucker ein besseres Leben ermöglichen zu müssen. Ich bin ein Mann mit Bedürfnissen und die habe ich an Gazizow hin und wieder gestillt. Ja, zugegeben, so klingt das nicht gerade nett, aber mehr war es nicht.“ Er schnaubte. „Wer bin ich denn? Ich weiß, was Sie jetzt denken: Der Kerl hat’s doch, also kann er doch sicher was abgeben von seiner ganzen Kohle! Und das ist ja auch nicht verkehrt, aber diese Praxis hier läuft auch nicht für einen Gotteslohn. Ich habe schließlich Unkosten! Personal! Strom! Wasser! Sie sollten mal meine monatlichen Abschläge sehen. Und meine Kinder? Sollen die sich einschränken müssen, weil ein paar Nichtsnutze meinen, ich müsste meine sauer verdiente Kohle mit den Armen und Hungernden dieser Welt teilen? Oder wahlweise mit ein paar armseligen Nutten? Wenn ich jedem hergelaufenen Penner unter die Arme greifen wollte, wäre ich bald genauso pleite wie die, und so weit geht meine Nächstenliebe dann doch nicht.“
Benno nickte, scheinbar, als wollte er ihm beipflichten.
„Ich verstehe“, sagte er. „Natürlich. Ihre Nächstenliebe geht nur so weit, wie auch für Sie was Anständiges dabei rausspringt, richtig? Zum Beispiel ein gelegentlicher Fick mit einem Jungen, der mit Prügeln gefügig gemacht worden ist, damit er die Beine für zahlende Kundschaft breit macht.“
„Vorsicht, Herr Kommissar“, sagte der Dentist jetzt leise und sah ihn aus schmalen Augen an. „Ich kenne einflussreiche Leute. Auch aus Ihrer Behörde! Sollten Sie versuchen, mich in irgendwas hineinzuziehen, werden Sie es bitter bereuen.“
„Ist das eine Drohung, Herr Doktor?“
„Nein. Nur eine ziemlich exakte Beschreibung Ihrer Zukunft, sollten Sie sich nicht mäßigen in Ihren sogenannten – Ermittlungen.
“
Benno hob die Brauen. Na, da schau an
, dachte er. Der gute Doktor hatte die joviale Maske aber schnell fallen lassen. Bedeutete das, er hatte tatsächlich Dreck am Stecken? Er entschloss sich, trotzdem noch einen draufzusetzen und war gespannt, was dann passierte.
„Sagt Ihnen der Name Gert Wiedebrück etwas?“, fragte er deshalb. Dinnebier zögerte. Einen Augenblick zu lange, ehe er sich unwissend gab.
„Wiedebrück? Nein. Wer ist das? Etwa auch ein Stricher?“, wollte er wissen. Doch Benno hatte das kaum merkliche Zusammenzucken des Mannes registriert. Es war eindeutig: Der Dentist log.
„Nein“, sagte er. „Der Name ist in unseren Ermittlungen aufgetaucht, ohne dass wir bisher irgendwas Genaueres über ihn wissen. Ich dachte nur, wenn ich schon mal hier bin und wir gerade so nett miteinander plaudern, frage ich doch mal nach. Aber da kann man wohl nichts machen. Wenn Sie ihn nicht kennen, kennen Sie ihn eben nicht. Und jetzt habe ich Ihnen genug Zeit gestohlen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Doktor.“
Er stand auf und wandte sich zum Gehen.
„Ja, danke sehr.“ Dinnebier erhob sich ebenfalls, wirkte aber zerstreut und leicht fahrig, so als wäre er in Gedanken bereits ganz woanders. „Ich nehme an, Sie finden allein hinaus?“
„Natürlich. Machen Sie sich nur keine Umstände.“ Benno verließ das Büro und rief den beiden Helferinnen hinter dem Tresen noch einen freundlichen Abschiedsgruß zu. Dann ging er zur Eingangstür, öffnete sie, ging aber nicht hinaus, sondern ließ sie nach einem Augenblick möglichst lautstark ins Schloss fallen.
Der eigentliche Eingangsbereich der Praxis verbarg sich hinter einem Stück Wand und konnte vom Tresen aus nicht eingesehen werden. Hinter dieser Wand bezog Benno nun rasch Stellung, spähte vorsichtig um die Ecke und spitzte die Ohren. Die Unterhaltung der beiden Arzthelferinnen bezog sich, so viel Benno hören konnte, auf Berufliches, war also nicht weiter von Belang. Doch das Büro des Zahnarztes, das Benno gerade erst verlassen hatte, lag in gerader Linie zu seinem Standort. Weil er die Tür hinter sich nicht geschlossen hatte, konnte er direkt hineinsehen.
Doktor Dinnebier war inzwischen hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen, hielt ein Handy ans Ohr gepresst und telefonierte, während er sich langsam der Tür näherte. Dabei gestikulierte er hektisch und Benno gratulierte sich innerlich. Der Mann war eindeutig mehr als nur ein bisschen beunruhigt!
Im nächsten Moment schloss Dinnebier seine Bürotür und Benno beschloss, dass es Zeit war, Gruber über seine Erkenntnisse in Kenntnis zu setzen.