12.
„
H
m.“ Gruber stützte das Kinn in die Hand und schielte mit skeptischem Blick zu Benno hinüber, während er nachdenklich mit dem Kaffeebecher spielte, der vor ihm auf der Tischplatte stand. Sie saßen sich im Büro gegenüber und Benno hatte soeben berichtet, was Dinnebier gesagt hatte. „Glaubst du ihm das?“, wollte er dann wissen.
„Was jetzt? Dass er Gert Wiedebrück nicht kennt? – Nie im Leben! Mit wem hat er denn so eilig telefoniert, nachdem ich raus bin? Ich würde eine Menge drauf wetten, dass es Wiedebrück war!“
„Das meine ich nicht, Benno. Ich wollte wissen, ob du ihm glaubst, dass seine Frau sich nicht drum schert, ob ihr Mann fremdvögelt und mit wem.“ Fragend hob er die Brauen, doch Benno zuckte nur die Schultern.
„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete er irritiert. War das jetzt wichtig? „Kann sein, kann nicht sein, keine Ahnung. Ich kenne diese Frau Dinnebier nicht.“
„Ich auch nicht“, sagte Gruber. „Zumindest nicht persönlich. Trotzdem, das kommt mir doch sehr merkwürdig vor. Wir sind hier schließlich nicht in irgendeiner anonymen Großstadt. Selbst wenn es ihr persönlich egal wäre, was ihr Mann hinter ihrem Rücken treibt, kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr der Ruf ihrer Familie ebenfalls gleichgültig ist.“
„Der Ruf ihrer Familie?“ Gruber lehnte sich nach vorn und setzte zu einer längeren Erklärung an.
„Ja. Soweit ich weiß, ist Frau Dinnebier eine geborene von Froning. Eine alteingesessene, adelige Familie. Das kleine Landschloss, draußen im Wald, ist der Stammsitz derer von Froning und die Eltern von Frau Dinnebier leben auch noch immer dort. Beide inzwischen recht alt, aber nach allem, was man hört, geistig noch immer rege und dazu sehr auf Traditionen bedacht. Frau Dinnebier ist das einzige Kind der beiden und wird demnach wohl eines Tages das Familienvermögen erben. Ich kann mir ehrlich gesagt kaum vorstellen, dass die Fronings das Lotterleben ihres Schwiegersohnes so einfach hinnehmen würden, sollte öffentlich werden, dass er sich mit Prostituierten einlässt, noch dazu mit männlichen!“
„Hm“, machte nun auch Benno. Er musste zugeben: Das war
interessant.
„Vielleicht ist die gute Frau Dinnebier dann ja so eine Art Rebell?“, wagte er dennoch einzuwenden. „Jemand, der gegen die starren Traditionen der Familie aufbegehrt? So was soll ja schon öfters vorgekommen sein. Und immerhin hat ihr Mann auch angedeutet, dass sie selbst es mit der ehelichen Treue ebenfalls nicht so genau nimmt.“
Gruber dachte nach und schüttelte schließlich den Kopf.
„Wie gesagt kenne ich die Dame nicht persönlich, lediglich von ein paar offiziellen Anlässen, wo sie und ihr Mann anwesend waren. Und natürlich aus Berichten der hiesigen Zeitung. Ich weiß, man sieht den Menschen nur bis vor die Stirn, aber mir kam sie nicht vor wie jemand, der … na ja, eine lockere Moral hat oder so. Sie ist … wie soll ich sagen? Der Inbegriff einer Dame, falls du verstehst, was ich meine, aber besser kann ich es nicht beschreiben. Irgendwas passt da nicht zusammen.“
„Du meinst, die Frau des Zahnarztes hat was mit Ahmads Ermordung zu tun? Das klingt nun aber wirklich arg weit hergeholt, findest du nicht? Ich meine, wenn sie so eine feine Dame ist, kannst du dir dann vorstellen, dass sie da raus zu der Waldhütte gefahren ist, den Jungen erschlagen und anschließend verscharrt hat?“
„Hm, eigentlich nicht“, räumte Gruber ein. „Aber ihrem Mann, dem würde ich das durchaus zutrauen.“
„Okay, ich auch“, räumte Benno ein. „Allerdings macht mich da ein anderes Detail stutzig“, gab er zu bedenken. „Wenn Dinnebier Gazizow getötet hätte, um die Familienehre zu schützen oder wie man das auch immer nennen will, warum sollte er dann jetzt so bereitwillig zugeben, dass er Sex mit ihm hatte? Wir stützen uns bisher doch nur auf Hörensagen.“
„Stimmt auch wieder.“ Gruber seufzte und rieb sich über die Stirn. „Trotzdem, irgendwas sagt mir, dass der Mann irgendwelchen Dreck am Stecken hat. Warum sonst dieses hektische Telefonat, unmittelbar nach deinem Aufbruch? Obwohl doch angeblich noch eine dringende Operation anstand?“
„Mit anderen Worten“, schlussfolgerte Benno, „der gute Doktor Dinnebier hat was zu verbergen, ganz egal, ob es nun um seine Ehe geht oder um mögliche Kontakte zu Gert Wiedebrück. – Apropos: Sollten wir den nicht auch langsam mal zur Vernehmung vorladen?“
Sein Partner nickte.
„Schon passiert. Das hab ich gleich gemacht, nachdem ich von Kremer zurück war. Die Kollegen müssten ihn eigentlich jeden Moment herbringen.“
„Ach ja, richtig. Was hat deine Unterhaltung mit dem Alten, ähm, ich meine natürlich mit Kremer ergeben?“
„Er ist ähnlich besorgt wie wir und hat zugestimmt, ein Vergleichsgutachten erstellen zu lassen. Da haben wir also grünes Licht. Es wird allerdings ein paar Tage dauern, fürchte ich. So was geht nicht von jetzt auf gleich, zumindest nicht, wenn man seriöse, belastbare Ergebnisse haben will.“
Benno nickte, wollte etwas sagen, wurde aber vom Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein uniformierter Beamter sah herein und meldete: „Wir hätten den Wiedebrück jetzt hier. Soll er gleich reinkommen?“
Gruber nickte und winkte auffordernd.
„Immer her mit ihm. Hat er euch irgendwelche Schwierigkeiten gemacht?“
„Nein.“ Der Beamte schüttelte den Kopf. „Er hat zwar zuerst ein bisschen rumgezickt, ist aber freiwillig mitgekommen.“
Der Mann zog sich zurück und wenige Augenblicke später kam ein vierschrötiger Kerl durch die Tür. Er wirkte tatsächlich wie der typische Klischee-Zuhälter, angefangen bei den schütteren, blondierten Haaren, die ihm fusselig bis über die Ohren fielen, über den billigen Anzug, die künstliche Bräune, bis hin zu der breiten Goldkette und dem protzigen Armband.
Jetzt nickte er den beiden Kommissaren mürrisch zu und steuerte ohne Aufforderung sofort den Besucherstuhl an, auf dem er sich mit widerwilliger Miene niederließ.
„Tach, die Herren“, sagte er und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.
„Guten Tag, Herr Wiedebrück“, erwiderte Gruber mit ausgesuchter, wenn auch reichlich unterkühlter Höflichkeit.
„Vielleicht hätten Sie die Güte, mir zu sagen, was Sie von mir wollen?“, raunzte der. „Ihre beiden uniformierten Clowns hatten entweder keine Ahnung oder keine Manieren. Jedenfalls haben die mir überhaupt nichts gesagt.“
„Sie sind hier, weil wir Sie im Fall Ahmad Gazizow befragen möchten“, antwortete Benno an Grubers Stelle. Er konnte den Mann schon auf den ersten Blick nicht leiden und wenn er sich vorstellte, dass der Riesenkerl den schmächtigen Gazizow mit seinen Pranken vermöbelt hatte, kam ihm die Galle hoch. Allerdings erwartete er nicht, dass sie mit dieser Befragung irgendetwas erreichen würden. Er kannte den Typ. Vermutlich würde Wiedebrück alles abstreiten und sich selbst als unbescholtenen Bürger und Unschuldslämmlein darzustellen versuchen. Das taten diese Kerle doch immer. Und richtig …
„Ahmad wer?“ Wiedebrück riss die Augen auf und gab sich alle Mühe, möglichst ahnungslos auszusehen. „Wer soll denn das sein? Und was hab ich mit ihm zu tun?“
„Tja, sehen Sie, Herr Wiedebrück“, schaltete Gruber sich wieder ein. „Genau darum geht es hier. Sie haben vielleicht schon gehört, dass draußen im Wald ein Skelett gefunden wurde. Wir konnten die sterblichen Überreste als die Knochen von Ahmad Gazizow identifizieren und nun hat uns ein kleines Vögelchen gezwitschert, dass Sie den Jungen vor seinem Tod zur Prostitution gezwungen haben. Klingelt da irgendwas bei Ihnen?“
Gert Wiedebrück verzog keine Miene, während Gruber redete. Dann jedoch hob er spöttisch einen Mundwinkel.
„Ist das euer Ernst?“, fragte er und schnaubte abfällig. „Wofür haltet Ihr mich? Für einen Zuhälter oder was?“
Gruber schürzte die Lippen.
„So könnte man es ausdrücken, ja“, gab er zu. Im nächsten Moment warf Wiedebrück sich nach vorn, lehnte sich über den Schreibtisch und deutete mit dem Finger auf Gruber.
„Das ist üble Nachrede, du Spacken! Wie oft soll ich mir den Scheiß jetzt noch anhören? Eure Kollegen von der Sitte haben mir vor einem Jahr die komplette Bude auf den Kopf gestellt! Und? Was haben sie gefunden? Nix! Weil es nix zu finden gibt bei mir! Ich führe eine stinknormale Pension, weiter nichts! Meine Bücher sind in Ordnung, alles korrekt und vollkommen legal! Da könnte ihr das Finanzamt fragen oder eure Kollegen von der Sitte, wen ihr wollt! Ich hab nichts zu verbergen und diesen Kerl da, diesen …“ Er wedelte mit der Hand. „Diesen Gazizow oder wie der heißt, den kenn ich auch nicht, klar? Also, wenn ihr irgendwas Konkretes gegen mich in der Hand habt, schlage ich vor, dass ihr damit rausrückt, andernfalls hau ich jetzt ab!“
Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch Benno hatte nicht vor, den Stinkstiefel einfach so gehen zu lassen.
„Ahmad hat ein Tagebuch geführt, wussten Sie das?“, fragte er. Wiedebrück fuhr zu ihm herum.
„Ja und?“, fragte er.
„Nun, es dürfte vielleicht von Interesse sein, was da so alles drinsteht. Ich meine, vielleicht hat er ja auch was über Sie geschrieben? Aber Sie haben ja gerade erklärt, dass Sie den jungen Mann gar nicht kannten, also …“ Er machte eine vage Handbewegung. „Also brauchen Sie sich ja überhaupt keine Sorgen zu machen, nicht wahr? Wo Sie ja so ein unbescholtener Bürger sind.“
Wiedebrück starrte ihn an, an seiner Schläfe pochte eine Ader, aber unter der Solariumsbräune wurde er doch merklich blasser. Einen Moment lang sah es aus, als wollte er sich wütend auf Benno stürzen, dann jedoch drohte er nur erneut mit dem Finger.
„Wenn ihr Scheißbullen mir irgendwas anhängen wollt, verklage ich euch, ist das klar? Wegen übler Nachrede und Verleumdung! Ich mag ja in euren Augen nur ein schäbiger, kleiner Pensionswirt sein, aber ich kenne auch einflussreiche Leute!“
Benno hob die Brauen.
„Hm, irgendwo hab ich den Spruch doch heute schon mal gehört“, gab er sich nachdenklich. „Ach, richtig! Als ich beim Zahnarzt war, stimmt!“
Wiedebrücks Augen wurden schmal.
„Ihr habt mich gehört“, insistierte er. „Ich verklag euch und euren ganzen Laden hier, bis ihr schwarz werdet!“
Damit wandte er sich ab und stampfte aus dem Büro. Benno sah ihm nach.
„Wow“, meinte er. „Was für ein Auftritt.“
„Es gibt da ein altes Sprichwort“, begann Gruber und Benno verzog das Gesicht.
„Nicht du auch noch“, bat er.
„Was?“ Das Gesicht seines Partners war ein einziges Fragezeichen.
„Der gute Doktor hat mir auch schon ein Sprichwort serviert: Der kluge Hund scheißt nicht, wo er frisst, oder so ähnlich. Bezogen auf seine Ehe.“
„Aha. Und willst du meins nun hören oder nicht?“
„Bevor du platzt? Immer raus damit.“ Benno seufzte ergeben.
„Wir sagen hier: Der getroffene Hund bellt! Und wenn das gerade kein Bellen war, was dann?“ Benno erwiderte nichts und sein Partner schnaufte. „Du hast mir die Pointe versaut“, grummelte er beleidigt.
„Tut mir leid.“ Benno grinste. „Und was nun? Fühlen wir der Zahnarztgattin auf den …“ Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Du hast einen schlechten Einfluss auf mich und meine Sprachkompetenz“, meinte er vorwurfsvoll zu Gruber.
„Ne, ne!“, wehrte der jedoch ab. „Schlechte Wortspiele sind ganz allein dein Metier! Wenn ich mich recht erinnere, hast du diesen blöden Spruch heute Morgen doch schon mal gebracht. Ganz ohne mein Zutun übrigens. Aber um deine Frage zu beantworten: jawohl. Lass uns der guten Frau Dinnebier …“ Er machte eine Pause und grinste zu Benno hinüber. „Einen Besuch abstatten“, vervollständigte er seinen Satz.
„Puh. Da hast du ja gerade noch mal Glück gehabt.“ Benno erwiderte das Grinsen und stand auf. „Dann auf ins Gefecht.“