15.
Z usammen mit Dennis trat Benno ins Freie und atmete instinktiv tief durch. Nach der bedrückenden Krankenhausatmosphäre erschien ihm die Luft hier draußen plötzlich wunderbar klar und rein, obwohl sie sich noch immer mitten in der Stadt befanden.
„Musst du noch mal ins Präsidium?“, fragte sein Freund. Benno schüttelte den Kopf.
„Nein. Da hab ich kurz nach unserer Ankunft hier angerufen und Bescheid gegeben, was passiert ist. Alles andere hat Zeit bis morgen früh. Jetzt will ich nur noch nach Hause, was essen und dann nichts und niemanden mehr sehen oder hören. Jedenfalls bis morgen.“
„Schließt das mich mit ein?“, fragte Dennis. Ohne nachzufragen verstand Benno, dass sein Freund nicht beleidigt war, sondern ihm lediglich den Freiraum zugestehen wollte, den er benötigte. Ihm wurde warm ums Herz. Womit hatte er jemanden wie Dennis überhaupt verdient? Im nächsten Moment korrigierte ein leises, dafür umso gemeineres Stimmchen: Konnte er wirklich glauben, dass ein Kerl wie Dennis sich auf Dauer mit jemandem wie ihm abgeben würde?
Er verscheuchte den Gedanken.
„Nein“, sagte er stattdessen. „Ich hatte im Gegenteil eigentlich gehofft, dass du vielleicht bei mir übernachten würdest.“
Ein Lächeln erschien auf Dennis’ Gesicht und dessen Hand ergriff die von Benno.
„Na dann“, sagte er. „Worauf warten wir noch?“
Sie gingen los in Richtung Parkplatz, kamen jedoch nicht sehr weit. Kaum hatten sie das Parkdeck erreicht, wo Benno den Dienstwagen abgestellt hatte, klingelte sein Handy. Wohlgemerkt das Diensthandy.
„Ne, oder?“, stöhnte er genervt und fischte das Gerät aus der Jackentasche. Er warf einen Blick aufs Display und runzelte die Stirn, als er dort eine ihm völlig unbekannte Nummer entdeckte. „Wer ist das denn jetzt?“
Er nahm das Gespräch entgegen.
„Hagemann, hallo?“
„Herr Kommissar Benno Hagemann?“ Eine Frauenstimme.
„Richtig“, bestätigte er. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Hier spricht Eleonore Dinnebier. Ich muss mit Ihnen sprechen.“
Einen Moment lang war Benno sprachlos. Die Frau des Zahnarztes war eine der letzten Personen, von denen er erwartet hätte, dass sie sich bei ihm meldeten.
„Das lässt sich einrichten, Frau Dinnebier. Kommen Sie doch morgen früh ins …“
„Nein!“, unterbrach sie ihn. „Jetzt! Ich muss sofort mit Ihnen sprechen.“
Benno warf Dennis einen Blick zu, den der mit fragend erhobenen Brauen erwiderte.
„Worum geht’s denn, dass es so dringend ist?“, fragte er.
„Darüber … würde ich lieber persönlich mit Ihnen sprechen. Aber ich versichere Ihnen, es ist wichtig.“
„Das ist ein bisschen sehr vage, finden Sie nicht? Um ehrlich zu sein, Frau Dinnebier, ich habe einen sehr langen und ziemlich anstrengenden Tag hinter mir. Und dass mein Kollege nach unserem Besuch bei Ihnen auf der Straße vor Ihrem Haus zusammengebrochen ist, haben Sie ja vielleicht mitbekommen.“
Er konnte sich die Spitze nicht verkneifen, immerhin hatte sich niemand von den Dinnebiers draußen sehen lassen, während er mit dem röchelnden Gruber im Arm auf den Rettungswagen gewartet hatte. Nicht mal, als der schließlich mit Blaulicht und Martinshorn angekommen war und plötzlich jede Menge Neugieriger aus den umliegenden Häusern angelockt hatte.
„Ja“, kam es durch den Hörer. „Und bitte glauben Sie mir, dass mir das wirklich außerordentlich leidtut. Ich hoffe sehr, es ist nichts Ernstes?“
Klar , dachte Benno. Wenn es dir nur hilft, jetzt deinen Willen zu bekommen?
Ohne auf die Frage einzugehen, sagte Benno: „Wie auch immer – Fakt ist: Ich habe Feierabend. Wenn Sie von mir erwarten, mich jetzt noch mit Ihnen zu einer Unterhaltung zu treffen, dann müssen Sie mir schon ein bisschen mehr anbieten. Andernfalls sehen wir uns morgen früh auf dem Präsidium.“
Einen Augenblick blieb es still am anderen Ende und Benno rechnete schon damit, dass die Frau wortlos auflegen würde, doch dann hörte er das Geräusch eines tiefen Atemzuges.
„Es geht um meinen Sohn“, sagte Frau Dinnebier. „Ich habe Angst, dass Frederick … dass er einen Fehler gemacht hat.“
Nun wurde Benno hellhörig.
„Einen Fehler?“, wiederholte er. „Was denn für einen Fehler?“
„Eben darüber möchte ich ja mit Ihnen sprechen“, erwiderte die Zahnarztgattin. „Vielleicht irre ich mich auch und … alles war ganz anders, aber … Es lässt mir einfach keine Ruhe.“
Benno überlegte, allerdings nur kurz.
„Einverstanden“, sagte er. „Soll ich zu Ihnen kommen? Oder bevorzugen Sie einen neutralen Ort? Wir können uns auch im Präsidium …“
„Nein!“, fiel sie ihm ins Wort. „Nicht im Präsidium! Das ist zu … heikel. Ich schlage vor, wir treffen uns an einem neutralen Ort.“
Sie klang eindeutig ängstlich und irgendwie passte das nicht zu der Frau, die er wenige Stunden zuvor kennengelernt hatte. Andererseits – wenn an der Geschichte von dem illegalen Prostitutionsnetzwerk, die Scholz ihnen aufgetischt hatte, wirklich was dran war, ihr Mann womöglich in irgendeiner Form darin verwickelt und sie vielleicht tatsächlich etwas darüber wusste …?
Zugegeben, das schien weit hergeholt und vielleicht handelte es sich auch lediglich um den Spleen einer verwöhnten, überkandidelten Akademikergattin. Aber was, wenn nicht? Was, wenn sie tatsächlich irgendetwas wusste? Zumindest der Hauch einer Möglichkeit, dass dem so war, bestand und er durfte keine mögliche Spur verwerfen, bevor er sie überprüft hatte.
„Gut. Dann …“ Benno dachte nach und sagte schließlich: „Wie wäre es am Bahnhof? In einer halben Stunde?“
„Am Bahnhof?“ Frau Dinnebier klang überrascht.
„Da sind um diese Zeit noch genug Leute unterwegs, damit zwei Personen, die sich treffen, nicht weiter auffallen. Und sollte es nötig sein, gibt es im Umkreis genügend Lokale, in die wir uns zurückziehen können.“
Seine Gesprächspartnerin zögerte, doch schließlich erklärte sie sich einverstanden.
„Ich werde da sein.“
Es klickte im Hörer und Benno ließ das Handy sinken. Dennis sah ihn halb belustigt, halb genervt an.
„Lass mich raten“, sagte er. „Du musst noch mal weg.“ Benno nickte zerknirscht.
„Ich kann’s mir nicht leisten, eventuelle Spuren zu ignorieren“, erklärte er. „Es geht um einen Mord und …“
Dennis hob die Hand und er verstummte.
„Schon klar, Schatz. Hättest du das damals bei mir nicht genauso gemacht, stünde ich heute vermutlich nicht als freier Mann mit dir hier, also … Es ist okay. Wirklich! Soll ich schon nach Hause fahren?“
Benno schüttelte den Kopf, denn gerade war ihm ein Gedanke gekommen.
„Im Gegenteil. Du musst mich zum Bahnhof chauffieren.“