18.
A ls Benno am folgenden Morgen aufwachte, war das Erste, was er sah, das leere Kopfkissen neben seinem eigenen. Als wäre es bloß das Überbleibsel eines schlechten Traums, streckte er eine Hand aus und ließ sie auf das weiche Kissen fallen, doch der Anblick blieb derselbe.
Richtig, er hatte Mist gebaut. Vollkommenen, totalen Mist.
Er drehte mühsam den bleischweren Kopf und tastete nach dem Handy auf dem Nachttisch. Halb sieben Uhr früh. Draußen vor dem Fenster kämpfte die Nacht noch gegen die Morgendämmerung.
Vor nicht allzu langer Zeit hatten er und Dennis sich in einer ähnlichen Situation befunden wie die des gestrigen Abends, doch da war es ihm irgendwie noch gelungen, seinen inneren Schweinehund zu überwinden und eine Katastrophe abzuwenden. Er hatte sich entschuldigt und anschließend hatten er und Dennis sehr lange offen und intensiv miteinander geredet.
Das hättest du Blödmann gestern Abend auch machen sollen , dachte er unglücklich und rollte sich unter seiner Decke zusammen.
Ja , ja, antwortete er sich selbst. Hätte, hätte, Fahrradkette. Hinterher ist man immer schlauer!
Nachdem er Dennis so freimütig angeboten hatte, er könnte sich aussuchen, was er genau für eine bescheuerte Idee halten wollte, die Geschichte mit der gemeinsamen Wohnung oder gleich ihre komplette Beziehung, hatte der ihn einen Moment lang nur fassungslos angestarrt. Anschließend hatte er den Kopf geschüttelt und gemeint: „Ich weiß, dass du das in Wirklichkeit nicht so meinst, und vielleicht bin ich selbst schuld, dass ich so früh von einer gemeinsamen Wohnung angefangen habe. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt einfach gehe. Das hier führt zu nichts.“
Selbst an dieser Stelle hätte Benno das Ruder noch herumreißen und sich entschuldigen können. Nein, er hätte es nicht nur gekonnt, er hätte es tun müssen ! Aber er hatte es nicht getan. Stattdessen hatte er nur die Lippen aufeinander gepresst und Dennis’ Abgang stumm beobachtet, während in ihm falscher Stolz, Trotz und Angst um die Oberhand stritten.
Und dann war es zu spät gewesen. Dennis war weg und er allein.
Okay, fast allein. Eine angebrochene Flasche Johnny Walker leistete ihm Gesellschaft, bis er schließlich erschöpft und völlig betrunken ins Bett fiel.
Stöhnend wälzte er sich auf die andere Seite und schloss die Augen, als die fahle Helligkeit, die durch halb geschlossene Vorhänge ins Zimmer fiel, den pochenden Schmerz in seinem Kopf verstärkte. Er wollte nicht aufstehen. Konnte er nicht einfach hier liegen bleiben und an Herzschmerz, kombiniert mit einem fiesen Kater, zugrunde gehen? Aber es half nichts. Seine Blase hatte ihn aufgeweckt und dachte nicht daran, sich wieder einlullen zu lassen.
Vorsichtig stemmte er sich hoch, hockte dann auf dem Bettrand und stützte den schweren Kopf einen Moment lang in die Hände. Und dann, aus heiterem Himmel …
… zuckende Lichter, wummernde Bässe, halb nackte Männerkörper … Hitze, Durst und die willkommene Kühle eines Softdrinks in seinem Mund … ein Mann, ein Fremder, lächelnd … „Darf ich dir noch eine Cola ausgeben?“ …
Benno keuchte. Sein Herz schien explodieren zu wollen, nackte Panik schnürte ihm die Atmung ab und ließ seinen Magen krampfen. Er rutschte von der Bettkante, suchte mit einer Hand an dem Möbelstück nach Halt, glitt ab und sank vornüber. Saurer Mageninhalt stieg ihm in die Kehle, spritzte aus seinem Mund und bildete eine stinkende Pfütze.
Was zur Hölle war das? Warum erinnerte er sich jetzt plötzlich?
Wieder würgte er, als neue Bilder ihn überfluteten …
… das Innere eines Taxis, Hände auf seinem Körper … raues Lachen, eine Ohrfeige, die seinen Kopf zur Seite fliegen ließ wie den einer Lumpenpuppe … „Hey? Kleiner? Nicht schlappmachen! Ich will doch was davon haben, wenn ich schon mal ’ne Jungfrau knacke!“ …
Benno rappelte sich zum Sitzen hoch, ließ den Kopf mit geschlossenen Augen nach vorn hängen und versuchte seinen Puls mit schierer Willenskraft zu verlangsamen. Dabei spürte er feuchte Wärme in seinem Gesicht, fuhr mit einer Hand darüber und begriff, dass er weinte.
Plötzlich überwältigte ihn die Sehnsucht nach Dennis, nach der Wärme und der Geborgenheit, die er stets fühlte, wenn er seinem Freund nahe war, wenn der ihn festhielt. Er dachte an die vielen kleinen Gesten, die so typisch für Dennis waren und die ihm zeigten, was sein Freund für ihn empfand. Aber durfte er an ihn denn überhaupt noch als seinen Freund denken? Nach gestern Abend? Nach allem, was er gesagt und getan hatte?
Warum zur Hölle mussten seine Erinnerungen sich ausgerechnet diesen Moment aussuchen, um zurückzukommen? Und warum hatte er sich Dennis gegenüber aufgeführt wie das letzte Arschloch?
Ein Psychologe würde vielleicht sagen, dass er seine eigene Beziehung unbewusst zu torpedieren versuchte, um sich selbst vor zu viel Nähe zu schützen, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass Nähe angreifbar machte. Und womöglich hätte der Psychologe damit sogar recht.
Er holte zittrig Luft. Noch immer schlug sein Puls viel zu schnell, aber es kamen – zumindest vorerst – keine neuen Bilder und die Übelkeit ließ nach. Dafür fühlte er sich am ganzen Körper klebrig, denn er hatte geschwitzt, ohne es richtig zu bemerken. Außerdem pochte sein Schädel und neben ihm befand sich eine stinkende Lache Erbrochenes.
Sieh es endlich ein , dachte er. Du brauchst professionelle Hilfe!
Benno kämpfte sich auf die Füße und wankte ins Badezimmer, wo er als Erstes eine Aspirin in seinem Zahnputzglas auflöste und das Gebräu mit Todesverachtung schluckte. Mit Eimer, Lappen und Gummihandschuhen bewaffnet kehrte er dann ins Schlafzimmer zurück und wischte seine eigene Kotze auf. Anschließend stellte er sich unter die Dusche. Er tat das alles rein mechanisch, ohne groß darüber nachzudenken, während er darauf wartete, dass die Wirkung der Tablette einsetzte.
Nachdem er sich angezogen hatte, riss er in Bad und Schlafzimmer die Fenster weit auf und ging in die Küche, um sich einen starken Kaffee aufzubrühen. In kleinen Schlucken trank er die schwarze Brühe vorsichtig und lehnte sich dabei an die Arbeitsfläche seiner Küchenzeile.
Was Dennis wohl gerade macht?
Er warf erneut einen Blick auf die Uhrzeit. Gleich zehn Minuten nach sieben. Unter Garantie war Dennis bereits auf, immerhin begann er üblicherweise gegen acht mit seiner Arbeit. Benno wusste, dass er früher gerne von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, später zu kommen. Sein Arbeitgeber war zufrieden, solange er bis spätestens um zehn Uhr vormittags an seinem Schreibtisch saß. Seit er und Benno ein Paar waren, ging er aber lieber früher zur Arbeit und verbrachte dafür am Abend mehr Zeit mit ihm.
Bennos Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Am liebsten wäre er sofort zu Dennis gefahren und hätte sich bei ihm entschuldigt. Aber das wäre sinnlos gewesen. Für ein so ausführliches Gespräch, wie es nötig wäre, fehlte morgens einfach die Zeit. Und eine halb gare Unterhaltung zwischen Tür und Angel oder gar via Handy? Das war nicht, was Benno sich wünschte, und es wäre auch nicht angebracht. Um den Mist aus der Welt zu schaffen, den er da gebaut hatte, musste er sich von Angesicht zu Angesicht bei Dennis entschuldigen.
Sicher, ein Teil von ihm hätte am liebsten den Kopf in den Sand gesteckt und jegliche weitere Konfrontation mit seinem eigenen Verhalten vom Vorabend gleich komplett vermieden. Aber er liebte Dennis nun mal und wenn es noch eine Chance gab, die Sache wieder einzurenken, dann musste er über seinen Schatten springen und sich entschuldigen.
Natürlich war auch das keine Garantie dafür, dass sein Freund, sofern Dennis das noch war, ihm verzieh. Er konnte nur darauf hoffen.
Benno starrte auf sein Handy. War es in Ordnung, wenn er wenigstens kurz anrief? Nur, um ein Treffen nach der Arbeit zu erbitten? Oder sollte er lieber eine SMS schreiben?
Plötzlich vibrierte das Gerät in seiner Hand und er zuckte zusammen. Die Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, kam ihm vage bekannt vor, aber er vermochte sie nicht zuzuordnen.
Er nahm das Gespräch entgegen.
„Hallo? Herr Hagemann? Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber … ich bin letzte Nacht überfallen worden.“
Benno schaltete augenblicklich in den Polizistenmodus, wenngleich sein schmerzender Kopf noch ein wenig langsam arbeitete. Das war doch …?
„Frau Rasulow?“
„Nein, hier ist das Bundeskanzleramt.“ Die dunkle Stimme klang ironisch, mit einem leicht hysterischen Unterton.
„Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“
Benno kniff sich in den Nasenrücken und zwang seine übliche Professionalität herbei.
„Sie sind überfallen worden, ja, das hab ich gehört. Was ist genau passiert und wo sind Sie? Geht es Ihnen gut?“
„Mir fehlt nichts. Mal abgesehen davon, dass ein Rudel Ihrer Kollegen gerade meine Wohnung auf den Kopf stellt. Ich bin wohl, wie man so schön sagt, mit dem Schrecken davongekommen. Der Text, den Sie mir zum Übersetzen gegeben haben, ist allerdings weg.“
Sie stieß den Atem aus und es klang, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.
„Bleiben Sie da. Ich mache mich sofort auf den Weg“, bat Benno und stürmte bereits in Richtung Tür.