19.
„
A
ls ich gestern Abend vom Einkaufen gekommen bin, hab ich irgendwann gemerkt, dass mir jemand folgt“, erzählte Leila Rasulow. Sie und Benno saßen sich in ihrer Wohnung gegenüber. Leila wirkte mitgenommen, reichlich erschöpft und war etwas blass um die Nase. Ansonsten unterschied sich ihr Erscheinungsbild jedoch kaum von dem ihrer ersten Begegnung. Das Make-up war wie schon beim letzten Mal sorgfältig aufgetragen, vermutlich inzwischen auch restauriert worden, und die Kleidung täuschte weibliche Rundungen vor, die von Natur aus vermutlich nicht wirklich gegeben waren.
Die Beamten von der Spurensicherung waren bereits wieder gegangen, lediglich eine einzelne uniformierte Polizistin war noch geblieben, hielt sich jedoch unaufdringlich im Hintergrund. Benno kannte sie vom Sehen, hätte aber ohne das Namensschild an ihrer Uniformbluse nicht einmal gewusst, wie sie hieß.
„Wann war das?“, wollte Benno wissen.
„So gegen halb neun, schätze ich. Eigentlich gehe ich ja um die Zeit möglichst nicht mehr allein nach draußen, aber ich habe ehrlich gesagt über dem Lesen und Übersetzen des Textes gar nicht gemerkt, wie spät es schon war. Und weil ich nicht mehr viel Essbares zu Hause hatte, bin ich noch mal schnell in den Discounter zwei Straßen weiter gegangen.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich habe immer ein Pfefferspray in der Handtasche, wissen Sie? Ich dachte, damit könnte ich mich zur Wehr setzen. Tja, falsch gedacht. Ich bin nicht mal dazu gekommen, auch nur an das blöde Spray zu denken!“ Leila zog ihre flauschige Strickjacke enger um sich zusammen.
„Was passierte dann?“
„Es ging ziemlich schnell. Gemerkt, dass jemand hinter mir war, hab ich, als ich in meine Straße eingebogen bin, und keine Minute später hatte er mich auch schon gepackt und mir ein Messer an die Kehle gedrückt.“ Sie schauderte sichtbar. „Er sagte, ich sollte das Maul halten und keine Zicken machen, dann würde mir nichts passieren. Weil ich dachte, dass er auf Geld aus ist oder vielleicht auch darauf, mich zu vergewaltigen, hab ich mich nicht gewehrt, sondern ihm einfach nur mein Portemonnaie angeboten. Aber er ist gar nicht darauf eingegangen, sondern hat mich stattdessen gezwungen, ihn mit hierher zu nehmen, in meine Wohnung.“ Sie stockte und trank einen Schluck Kaffee aus der Tasse, die sie mit verkrampften Fingern hielt. „Und hier hat er dann nur nach dem Manuskript gefragt, das ich für die Polizei übersetzen würde. Ich hab es ihm gegeben, anschließend hat er mich mit dem Gürtel von meinem Morgenmantel gefesselt, mich geknebelt, im Wohnzimmer liegen lassen und ist abgehauen.“
In Bennos Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn jemand es so sehr auf das Manuskript abgesehen hatte, dass er bereit war, es mittels eines Überfalls an sich zu bringen, bedeutete das, dass der Inhalt des Textes verflucht brisant sein musste. Allerdings hieß es auch, dass irgendjemand von der örtlichen Polizei in die Sache verwickelt sein musste oder sogar selbst der Täter war. Woher hätte irgendein Außenstehender denn sonst wissen sollen, wo sich der Text befand? Er selbst hatte es niemandem erzählt und Gruber vermutlich auch nicht, immerhin lag der ja seit dem gestrigen Abend in der Klinik.
„Er hat nur das Manuskript gewollt? Sonst nichts? Sind Sie sicher?“
„Natürlich bin ich sicher.“ Leila Rasulow schnaubte. „Ich habe selbstverständlich nachgesehen, nachdem ich irgendwann heute Morgen den Scheiß-Knoten endlich so weit gelockert hatte, um mich befreien zu können. Der Dreckskerl hat das Ding so fest gezogen, dass ich schon dachte, ich komme da nie wieder raus!“
„Und haben Sie auch sein Gesicht sehen können?“
„Nein.“ Leila schüttelte bedauernd den Kopf. „Er hatte eine Skimaske auf oder so was. Dunkle Klamotten, Handschuhe, das volle Programm. Ich weiß nur, dass er ziemlich groß war, also noch etwas größer als ich. Ach ja, und sein After Shave, das hab ich erkannt. Ist ziemlich teuer, das Zeug. Wenn mich nicht alles täuscht, war es Eros
von Versace.“
Benno hob die Brauen.
„Das können Sie so genau sagen?“
„Für solche Dinge hab ich ein Näschen, mein Lieber. Glauben Sie mir ruhig. Ich hatte als Kosmetikerin zwar mehr mit Produkten für Frauen zu tun, aber ich habe schon seit jeher ein gewisses Faible für alle Arten von Düften. Ich vergesse nie einen.“ Leila Rasulow reckte das Kinn in die Höhe.
„Okay, ich glaube Ihnen“, räumte Benno ein. „Sie sagen, das Zeug ist teuer? Wie teuer?“
Leila schürzte die Lippen.
„Grob würde ich schätzen, zwischen 50 und 80 Euro der Flakon, je nach Anbieter. Es gibt natürlich Nachahmer, aber das hier war das Original. Hundertprozentig.“
„Und hat Ihr Angreifer vielleicht sonst noch etwas gesagt? Etwas, was uns einen Hinweis auf die Identität des Täters geben könnte, oder sein Motiv?“
Die Frau schaute ungläubig.
„Ist das Ihr Ernst? Der Kerl wollte an das Manuskript! Das ist doch wohl glasklar. Und ehrlich gesagt wundert es mich auch nicht. Nach dem, was ich bis jetzt gelesen habe, ist das ein ganz heißes Eisen.“
„Aha? Warum? Was hat Ahmad denn geschrieben?“ Benno beugte sich vor und hielt gespannt den Atem an.
Doch Leila Rasulow schielte zu der Polizistin hinüber und meinte: „Vielleicht sollten wir das besser unter vier Augen bereden?“
Benno fing einen leicht empörten Blick der anwesenden Beamtin auf und bat sie mit Blicken um Verständnis, während er an sie gewandt sagte: „Ich denke, wir kommen jetzt gut allein zurecht …“ Er studierte das Namensschild. „… Obermeister Weller“, fügte er hinzu. „Wenn Sie unten warten, nehme ich Sie anschließend mit zum Präsidium.“ Die Angesprochene nickte nur knapp und verließ wortlos den Raum. Gleich darauf klappte auch die Wohnungstür.
„Nun?“ Auffordernd sah Benno Leila an.
„Ahmad hat sehr genau Buch geführt, Herr Kommissar. Über alle seine Kunden, deren jeweilige Präferenzen, zum großen Teil mit Namen, Daten, sämtlichen schmutzigen Details und den Summen, die für seine Dienste gezahlt wurden. Und da sind einige Herren aus der hiesigen High Society dabei, denen es gar nicht recht sein dürfte, wenn das publik würde.“ Sie überlegte kurz und trank einen weiteren Schluck Kaffee. „Und vermutlich ist auch genau das der Grund dafür, warum ich überfallen wurde. Irgendjemand, der da drin steht, will verhindern, dass sein Geheimnis ans Licht kommt.“
„Klingt plausibel“, räumte Benno ein. „Aber womöglich steckt noch mehr dahinter, denn vielleicht handelt es sich stattdessen um Ahmads Mörder, der verhindern will, dass wir seinen Namen erfahren.“
„Aber wer auch immer der Verantwortliche hier ist, er dürfte bis gestern Abend, bis er die Blätter in der Hand hielt, jedenfalls nicht gewusst haben, dass es sich bei meinem Exemplar nur um eine Kopie gehandelt hat, sonst hätte er diese ganze Nummer hier ja wohl nicht abgezogen, oder?“, spann Leila den Faden weiter. „Ich hoffe für Sie, das Original ist sicher unter Verschluss?“
Benno nickte, überlegte aber gleichzeitig, ob er sich wirklich darauf verlassen konnte. Immerhin war aus dem Archiv der Staatsanwaltschaft erst vor Kurzem unter mysteriösen Umständen ausgerechnet die Akte verschwunden, die Gregor Scholz zu dem Vermisstenfall Gazizow angelegt hatte. Da war es keinesfalls garantiert, dass der oder die Täter vor dem Schloss von Bennos Schreibtisch im Büro halt machen würden.
„Ja“, sagte er trotzdem, nahm sich aber vor, so bald wie möglich nachzusehen. Kurz überlegte er, ob es sinnvoll sein könnte, im Präsidium anzurufen und jemanden zu bitten, das für ihn zu übernehmen, aber er verwarf den Gedanken wieder. Besser, er lenkte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf Ahmads Heft.
„Wer hat eigentlich noch alles davon gewusst, dass Sie mir das Dokument zum Übersetzen anvertraut haben?“, hakte Leila Rasulow nach und stieß damit das Tor zu einer neuen Serie an unangenehmen Spekulationen und Mutmaßungen auf. Oder waren es weniger Mutmaßungen, als vielmehr eindeutige Schlüsse?
Benno hätte den Verdacht, der sich ja auch ihm längst stillschweigend aufgedrängt hatte, am liebsten weit von sich gewiesen.
„Niemand außer meinem Kollegen Gruber und mir“, sagte er zögernd.
„Dann ist Ihnen hoffentlich auch klar, was das im Umkehrschluss bedeutet?“ Leila war gnadenlos in ihrer Logik.
Sie fixierte Benno ernst, und der verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Er mochte es eigentlich nicht laut aussprechen, aber es sah leider ganz so aus, als hätten sie im Präsidium einen Maulwurf.
Einen, der mit ganz miesen Typen gemeinsame Sache machte. Benno überlegte, beschloss aber, sich zuerst anderen, wichtigeren Dingen zuzuwenden.
„Wissen Sie denn noch einen oder mehrere Namen, die in Ahmads Aufzeichnungen erwähnt wurden?“, fragte er und hoffte, dass dem so war. Natürlich war ihm klar, dass er Leila im Falle eines Falles für eine wasserdichte Beweisführung eine erneute Übersetzung durchführen lassen musste. Sollte ihr Gedächtnis aber gut genug sein, um ihm schon jetzt ein paar gute Ansätze zu liefern, verlor er nicht unnötig viel Zeit.
Zu seiner Überraschung grinste sie jedoch triumphierend, stand auf und trat an ihren Schreibtisch. Dort öffnete sie eine Schublade und fischte einen Collegeblock heraus. Den klappte sie auf und reichte ihn an Benno.
„Meine Aufzeichnungen“, sagte sie. „Die eigentlichen Übersetzungen schreibe ich am Computer, aber in diesem Fall wollte ich zusätzlich eine Tabelle anfügen, mit den Eckdaten sämtlicher Kunden. Dazu habe ich mir die Namen, auf die ich bisher gestoßen bin, bereits notiert. Sie werden die Liste sicher ebenso interessant finden wie ich, oder?“
Benno hob verblüfft die Brauen. Das war weitaus mehr, als er erwartet hatte.
„Wow“, sagte er und nahm den Block entgegen. „Das war mutig von Ihnen, dass Sie das dem Räuber gegenüber verschwiegen haben.“ Doch Leila schnaubte nur geringschätzig.
„Er hat ja nicht danach gefragt“, erwiderte sie.
Benno warf einen Blick auf das oberste Blatt und entdeckte dort eine ganze Kolonne an Namen, die fast komplett bis nach unten in die letzte Zeile reichte. Er überflog die Einträge und ihm entkam ein anerkennendes Pfeifen.
„In der Tat“, sagte er. „Wirklich interessant.“ Er kannte längst nicht alle Personen auf der Liste, aber eine Handvoll sprangen ihm doch sofort ins Auge. Wenn ihn nicht alles täuschte, waren außer Roman Dinnebier noch mindestens zwei weitere ortsansässige Ärzte darunter, außerdem ein Notar, ein Mitglied des Stadtrats und … Moment!
Benno hielt den Atem an. Elmar Guntram? Etwa der
Elmar Guntram, der pensionierte Staatsanwalt? Steiners Vorgänger? Das war … nun, auf jeden Fall überraschend.
Der Mann war, dem Vernehmen nach, doch stockkonservativ? Zumindest hatte Benno das irgendwann mal von Gruber gehört. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, dann war dieser Guntram doch sogar im örtlichen Kirchenvorstand.
„Einige weitere Namen stehen nicht auf dieser Liste, finden sich aber sehr wohl in Ahmads Aufzeichnungen“, riss ihn Leila Rasulows Stimme aus seiner Verblüffung. Er sah hoch und erwiderte ihren Blick fragend. „Keine Kunden, aber – wenn ich es richtig verstanden habe – zum einen maßgebliche Drahtzieher der Organisation, die hinter dem Ganzen steckt, und …“ Sie zögerte kurz und holte tief Atem. „Ein paar weitere Opfer. Weibliche und männliche. Offenbar ist ihr Toter nicht der Erste, der gewaltsam gefügig gemacht wurde, und auch nicht der Erste, der spurlos verschwunden ist. Wenn mich nicht alles täuscht, dann agiert die Gruppe nicht nur hier in der Stadt, sondern kreisweit und unterhält Verbindungen bis in die Landeshauptstadt. Damit bin ich allerdings noch nicht fertig gewesen.“
„Dann wäre es sicher am besten, ich lasse Ihnen eine weitere Kopie der Aufzeichnungen zukommen, damit Sie Ihre Arbeit beenden können“, meinte Benno hoffnungsvoll. Immerhin hätte er es Leila Rasulow nicht verdenken können, falls sie jetzt nichts mehr mit der Sache zu tun haben wollte.
„Sicher.“ Sie nickte. „Diesen Schweinen muss das Handwerk gelegt werden. Allerdings kann ich Ihnen die Namen von zwei Personen nennen, die hier im Ort leben und daher für Sie vermutlich von besonderem Interesse sein dürften.“
„Als da wären?“
„Gert Wiedebrück und Rigobert von Froning.“
Gerade eben noch hätte Benno geschworen, dass seine Verblüffung nicht mehr größer werden konnte, doch nun sperrte er buchstäblich Mund und Nase auf.
„Was?“, entfuhr es ihm. „Von Froning? Etwa der Schwiegervater von Roman Dinnebier?“
Leila zuckte die Achseln.
„Da bin ich überfragt. So gut bin ich mit dem örtlichen Hochadel nicht vertraut.“ Sie hob spöttisch einen Mundwinkel. „Aber das werden Sie ja sicher rausfinden, oder?“
„Worauf Sie sich verlassen können.“ Benno nickte grimmig und stand auf. „Damit …“ Er wedelte mit dem Block. „Damit haben Sie mir sehr geholfen, Frau Rasulow“, sagte er. Sorgfältig trennte er die erste Seite vom Rest des Blocks, faltete das Blatt zusammen und steckte es ein.
„Ich lasse Ihnen die Unterlagen von einem Beamten bringen“, erklärte er und reichte ihr die Hand.
„Das wird kaum nötig sein“, entgegnete sie. „Ich muss sowieso persönlich aufs Präsidium, wegen der Anzeige und um meine Aussage zu unterschreiben. Ich schaue dann bei Ihnen vorbei und nehme die Sachen mit.“
„Gute Idee“, meinte Benno. „Haben Sie vielen Dank und …“ Er sah sie mahnend an. „Seien Sie vorsichtig.“
„Bin ich doch immer.“ Leila lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht.
Benno nickte verstehend und verabschiedete sich dann. Plötzlich hatte er es eilig. Im Laufschritt eilte er nach unten, winkte nur wortlos der auf ihn wartenden Beamtin, ihm rasch zu seinem Wagen zu folgen und auf dem Weg zum Präsidium verfluchte er jeden trödelnden Fahrer vor sich. Es brannte ihm regelrecht unter den Nägeln, sich zu vergewissern, ob das Originalmanuskript von Gazizow sich nach wie vor sicher in seinem Schreibtisch befand. Er mochte sich gar nicht vorstellen, dass es anders war.
Im Augenblick war das alte Schreibheft der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Ermittlung. Schon allein die Tatsache, dass Gert Wiedebrück und vor allem der alte von Froning darin erwähnt wurden, gab der Sache eine ganz neue Wendung!
Benno wäre am liebsten auf der Stelle zum Landsitz der von Fronings gefahren und hätte Dinnebiers Schwiegervater gründlich auf den Zahn gefühlt.
Gut, dass Gruber das nicht mitbekommt
, dachte er und grinste schief. Sonst würde er sich wieder über das miese Wortspiel beklagen.
Allerdings war ihm auch klar, dass es reichlich dämlich wäre, lediglich auf die Erwähnung des Namens hin zu versuchen, in irgendeiner Form Druck auf von Froning auszuüben. Nicht nach allem, was er über den Mann gehört hatte. Außerdem war auch noch eine weitere Unterhaltung mit Wiedebrück fällig, die wollte er allerdings gern auf einen Zeitpunkt verschieben, nachdem Leila ihre fertige Übersetzung abgeliefert hatte. Der Kerl war schließlich schon länger im Visier der Behörden und vermutlich noch abgebrühter als der alte Adelige.
Apropos – was war der eigentlich? Irgendein Graf oder Herzog? Vielleicht war es doch besser, erst den Hintergrund der Familie zu überprüfen, bevor er dort aufkreuzte. Und womöglich konnte es auch nicht schaden, Steiner zu informieren und sich Rückendeckung für einen Check der Vermögens- und Einkommensverhältnisse zu holen.
Seufzend gestand er sich ein, dass er die Füße noch etwas länger stillhalten musste – im Interesse der Ermittlungen –, auch wenn ihm die Vorstellung überhaupt nicht behagte. Er versuchte sich damit zu trösten, dass Wiedebrück, sofern es stimmte, was Leila gesagt hatte, und der Mann tatsächlich zu den Drahtziehern eines überregional agierenden Menschenhändlerrings gehörte, vielleicht mit Informationen aufwarten konnte, die noch mehr Licht ins Dunkel brachte. Womöglich war er einem Deal mit der Staatsanwaltschaft ja nicht abgeneigt?
Den man ihm natürlich nur schmackhaft machen konnte, wenn man ihm vorher ein oder mehrere Verbrechen tatsächlich nachweisen konnte.
Benno seufzte.
Für seinen Geschmack waren das viel zu viele Wenns und Vielleichts, aber aus Erfahrung wusste er, dass impulsives Agieren ihn nicht weiterbringen würde.
Schön ein Schritt nach dem anderen!
, mahnte er sich im Stillen. Er stellte sich vor, was Gruber sagen würde, hätte er die neuesten Entwicklungen gekannt, und kam zu dem Schluss, dass der ihn ebenfalls zur Geduld gemahnt hätte.
Schon gut, Horst
, dachte er, innerlich seufzend. Ich werde mich zurückhalten.
Am Präsidium angekommen sprang er regelrecht aus seinem Auto, eilte so schnell wie möglich, ohne zu rennen, nach drinnen und in sein Büro. Erst als er die Schublade, in welcher er das Heft aus der Waldhütte aufbewahrte, noch sicher verschlossen vorfand, gestattete er sich ein leises Aufatmen. Trotzdem wollte er nachsehen, stutzte jedoch, als er feststellte, dass sich der Schlüssel nicht ins Schloss schieben ließ. Mit gerunzelter Stirn bückte er sich und brachte das Gesicht dicht davor. Im nächsten Moment entdeckte er die winzigen Kratzspuren rund um den Schließzylinder und gleich darauf, dass irgendetwas bereits im Schloss steckte.
Benno kniff die Augen zusammen. Tatsache! Wie es schien, blockierte ein abgebrochenes Stück Metall den gesamten Mechanismus. Ein Dietrich vielleicht?
Benno setzte sich in seinen Stuhl und überlegte, dann stand er auf und ging nach vorn zum Empfangstresen.
„Ist seit gestern Abend irgendjemand hier gewesen, der zu mir wollte?“, fragte er den diensthabenden Beamten. Der wirkte verwundert wegen der Frage, schüttelte aber den Kopf.
„Nicht dass ich wüsste“, sagte er. „Zumindest nicht, seit ich im Dienst bin. Wegen heute Nacht müsste ich Janowski fragen, der hatte Nachtschicht.“
„Kevin Janowski?“, hakte Benno nach und der Uniformierte hob die Brauen.
„Gibt’s hier noch einen anderen, der so heißt?“, fragte er zurück.
Benno verzichtete auf eine Erwiderung, bedankte sich und ging zurück in sein Büro.
Ausgerechnet Janowski
, dachte er. Na, da schau an.
Was für ein merkwürdiger Zufall.
Aber vielleicht war es ja auch gar kein Zufall? Je länger er darüber nachdachte, umso besser schienen alle Puzzleteile zusammenzupassen. Kevin Janowski gehörte die Waldhütte, in deren Umfeld man das Skelett des toten Ahmad Gazizow gefunden hatte. Janowski war der frühere Partner von Gregor Scholz, der mit dem Toten liiert gewesen war. Und Janowski war es gewesen, der Scholz nach Gazizows Verschwinden gedrängt hatte, sowohl die Suche nach ihm, als auch die Ermittlungen wegen Zwangsprostitution und Menschenhandel einzustellen. Alles wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als wiederum Elmar Guntram, dessen Name laut Leila Rasulow in Ahmads Aufzeichnungen auftauchte, noch Staatsanwalt gewesen war.
War also Guntram derjenige gewesen, der Scholz damals hatte auflaufen lassen? Der ihm weitere Nachforschungen untersagt und die von Scholz angelegte Akte in den Tiefen des Archivs hatte verschwinden lassen?
In der hiesigen Anklagebehörde gab es zwar ein gutes Dutzend Staatsanwälte, aber da Guntram der direkte Vorgänger von Steiner gewesen war, lag zumindest die Vermutung nahe, dass er damals zuständig gewesen war.
Fragte sich nur, ob es auch irgendeine Verbindung zwischen Guntram und von Froning gab.
Zuallererst musste Benno sich aber vergewissern, dass Ahmads Schreibheft noch da war. Erneut stand er auf und holte zwei Kollegen aus dem Nachbarbüro, damit jemand bezeugen konnte, dass es wirklich Einbruchsspuren an seinem Schreibtisch gab, sollte sich das als nötig erweisen.
Da er es jedoch eilig hatte und die Sicherung weiterer Spuren ihm zu lange dauerte, nahm Benno sein Handy zu Hilfe und schoss lediglich einige Fotos von dem Schreibtisch, der Schublade und dem Schloss, ehe er – als Zugeständnis an die eigentlich angezeigte Vorgehensweise – ein Paar Latexhandschuhe überstreifte. Letzteres für den Fall, dass doch noch Fingerabdrücke gesichert werden mussten.
Einer der Kollegen schleppte inzwischen von irgendwo her eine Brechstange an und Benno erbrach damit die Lade. Erleichtert stieß er den Atem aus, als er das abgegriffene Schreibheft in seiner Plastikhülle darin vorfand.
„Danke, Kollegen“, sagte er und die beiden nickten ihm zu, ehe sie wieder zurück an ihre Arbeit gingen. Nachdenklich wog Benno das Heft in der Hand. Wohin jetzt damit? Zwei Mal hatte jemand versucht, es an sich zu bringen, und zumindest ein Mal war dabei auch Gewalt angewendet worden. Er hatte wenig Lust, es auf einen dritten Versuch ankommen zu lassen.
Zwar glaubte er nicht, dass Janowski am vergangenen Abend Leila Rasulow überfallen hatte, wie denn auch, wenn er Dienst geschoben hatte? Aber damit hatte er definitiv die Gelegenheit gehabt, in einem unbeobachteten Moment in Bennos Büro zu schleichen und zu versuchen, das Originalmanuskript in die Finger zu bekommen. Dass es ihm nicht gelungen war, war wohl nur schieres Pech gewesen. Oder Glück, wenn man es von Bennos Warte aus betrachtete. So betrachtet war die Frage, wo das Heft denn sicher sein könnte, allerdings noch schwieriger zu beantworten.
Es sei denn …
Einer plötzlichen Eingebung folgend verließ Benno sein Büro und kehrte eine Viertelstunde später mit leeren Händen zurück. Kriminalrat Kremer hatte ihm aufmerksam zugehört und das Heft schließlich ohne viel Aufhebens an sich genommen, um es in seinem eigenen Bürosafe zu verwahren. Dessen Kombination kannte niemand außer ihm, sodass Benno überzeugt war, hier käme so ohne Weiteres niemand heran.
Vorher hatte er allerdings noch zwei Kopien des Schriftstücks angefertigt, von denen er eine erneut in seinem eigenen Schreibtisch verstaute und die andere in einen großen Umschlag packte, um ihn Leila Rasulow zukommen zu lassen. Er wollte nun doch nicht mehr warten, bis die Frau selbst ins Präsidium kam, um die Unterlagen mitzunehmen, sondern sicher sein, dass sie die Kopien so schnell wie möglich in die Finger bekam, ohne dass die Gefahr bestand, dass erneut irgendwer dazwischenfunkte. Kurz überlegte er, das ein paar uniformierten Kollegen zu überlassen, entschied sich aber dagegen. Es war vielleicht mehr als nur ein kleines bisschen paranoid, aber im Moment traute er niemandem über den Weg außer sich selbst und seinem Chef. Gut, Gruber natürlich auch, aber der war ja im Krankenhaus.
Als Nächstes startete Benno seinen Computer, recherchierte eine Weile im Internet ebenso wie im Netzwerk der Polizei, schrieb ein paar E-Mails und führte einige Telefonate. Die Zeit verging wie im Flug und als er das nächste Mal auf die Uhr schaute, weil aus seinem leeren Bauch ein Geräusch drang wie das Grollen einer wütenden Bestie, war bereits früher Nachmittag.
Dennis hat sich nicht gemeldet.
Der Gedanke kam spontan, als sein Handy ihm zwar die Uhrzeit, aber keine eingegangenen Nachrichten oder Ähnliches anzeigte. Offenbar hatte er ihn diesmal gründlich vergrätzt.
Spontan wollte Benno bereits auf die Kurzwahl von Dennis drücken, bremste sich jedoch im letzten Moment. Dennis arbeitete sicher noch und – hatte er nicht bereits für sich festgestellt, dass er diese Geschichte persönlich klären musste und nicht via Telefon?
Das bedeutete natürlich, dass er es noch aufschieben musste, ganz egal wie sehr es ihn auch danach drängte, zumindest Dennis’ Stimme zu hören, oder wie heftig sein Magen sich bei der Erinnerung an den Vorabend und ihre Auseinandersetzung auch verknoten mochte.
Konzentrier dich! Das ist eine rein private Angelegenheit und hat hier gerade gar nichts verloren!
, mahnte er sich selbst, unsicher, ob das nun bedeutete, dass er professionell handelte, oder sich lediglich im Verdrängen übte.
Natürlich funktionierte es nicht. Genauso wenig, wie man nicht nicht an rosa Elefanten denken konnte, wenn einem jemand sagte, man solle es nicht tun.
… schummerige Beleuchtung, von draußen vor dem Fenster fiel abwechselnd rotes und grünes Licht ins Zimmer … jemand stöhnte, die Welt schaukelte ruckartig. Warum schaukelte alles? … Übelkeit, Schmerz, brennender Schmerz … oh Gott, was war das? … Keine Luft … irgendetwas blockierte seinen Mund … eine Hand? Sie wurde fest auf seine Lippen gepresst, so fest, dass sich die Innenseite auf den Zähnen wundrieb …
Benno schrak zusammen, rieb sich über das Gesicht und fand kalten Schweiß auf Stirn und Oberlippe.
Was zur Hölle …? Schon wieder?
Und wieso ausgerechnet jetzt? Nach all den Jahren? Als ob er sich nicht lange genug das Hirn zermartert hatte, im verzweifelten Versuch, sich zu erinnern!
Waren das etwa sogenannte Flashbacks? Echte Erinnerungen an die Nacht, in der er betäubt und vergewaltigt worden war? Oder spielte ihm vielleicht bloß sein Unterbewusstsein einen fiesen Streich und produzierte einfach irgendwelche Bilder, die zu dem passten, was er sich nachträglich zusammengereimt hatte?
Benommen blickte Benno sich in seinem Büro um. Er saß auf seinem Stuhl vor dem Schreibtisch und alles ringsum sah noch genauso aus wie vorher. Als er die Uhrzeit checkte, war kaum eine Minute vergangen.
Reiß dich gefälligst am Riemen! Du hast hier schließlich immer noch einen Mordfall zu lösen!
, beschwor er sich. Und danach regelst du die Sache mit Dennis, zusammenbrechen kannst du später, okay?
Es half tatsächlich. Sein Puls beruhigte sich und die Beklemmung, die er empfunden hatte, schwand allmählich. Benno holte tief Atem, schob die unerwünschten Erinnerungen beiseite und rekapitulierte im Stillen, was er bis jetzt herausgefunden hatte. Das war nicht sehr viel, aber immerhin etwas.
Fakt war, dass Guntram und der alte von Froning einander wohl tatsächlich kannten. Sie waren beide Mitglieder im örtlichen Golfclub und gehörten zu den Gründungsmitgliedern einer wohltätigen Stiftung. Deren Zweck war es, begabte Kinder aus sozial schwachen Familien zu fördern und ihnen neben einer angemessenen Schulbildung auch zu einer ordentlichen Ausbildung oder einem Studium zu verhelfen. In den Informationen zu eben dieser Stiftung tauchten auch noch ein paar weitere Namen auf, die auf Leila Rasulows Liste standen. Inwieweit diese Stiftung vielleicht ein Deckmäntelchen für irgendwelche illegalen Aktivitäten darstellte und womöglich sogar mit in der Menschenhandelsgeschichte drinsteckte, das mussten ausführliche Ermittlungen zeigen. Vordergründig schien alles korrekt, aber Benno wusste aus Erfahrung, dass das nichts heißen musste.
Außerdem hatte er herausgefunden, dass Rigobert von Froning regelmäßig, wenn auch in größeren Abständen, respektable Summen auf ein bestimmtes Konto einzahlte, deren Herkunft allerdings reichlich nebulös blieb. Eigentlich sollte ja das neue Geldwäschegesetz in solchen Fällen greifen, aber hier geschah das ganz offenbar nicht. Womöglich, weil auch der Vorstand besagter Bank, bei der von Froning mehrere Konten und Aktiendepots unterhielt, zu dessen Duzfreunden und Golfpartnern zählte und ebenfalls auf Leilas Liste zu finden war?
Benno beschloss, auf jeden Fall das Finanzamt einzuschalten und auch den Kollegen vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität einen Tipp zu geben.
Alles in allem sah es auf jeden Fall stark danach aus, als hätte der alte Adlige einiges an Dreck am Stecken.
Wie viel von all dem hatte wohl Scholz damals herausgefunden? Ausgehend von der Tatsache, dass der Staatsanwalt ihm lediglich das Fortführen seiner Ermittlungen untersagt und die bereits gesammelten Unterlagen beschlagnahmt hatte, war es vermutlich nicht mehr als ein Herumstochern im Nebel gewesen. Hätte er geahnt, welche Dimensionen der Fall annehmen könnte, wäre er ja wohl auch kaum einfach so an Dinnebiers Haustür aufgetaucht, oder? Andererseits hatte er die kriminelle Energie seiner Gegner aber vielleicht auch schlicht unterschätzt? Oder die waren der Meinung gewesen, ein simpler Provinzbulle könnte ihnen nichts anhaben?
Wie man es auch drehte und wendete, um sicherzugehen, dass er wirklich nichts übersah, musste Benno noch einmal mit Scholz reden. Am besten sofort!
Er steckte den Umschlag mit den Kopien ein, um sie auf dem Weg zum Bahnhof bei Leila Rasulow vorbeizubringen, griff nach seiner Jacke und verließ das Präsidium.