20.
F rustriert seufzend steuerte Benno eine Bäckerei an, um sich einen Cappuccino zu holen. Er hatte den gesamten Bahnhofsbereich, inklusive der angrenzenden Fußgängerzone, abgesucht, aber keine Spur von Gregor Scholz gefunden. Wo zum Teufel steckte der Kerl?
Gut, er war obdachlos, konnte also im Grunde überall sein. Rein theoretisch konnte er die Stadt sogar schon wieder verlassen haben, aber irgendwie glaubte Benno nicht daran. Der Mann war ihm viel zu interessiert daran erschienen, dass Ahmads Mörder endlich gefasst würde, da würde er doch sicher nicht sang- und klanglos verschwinden. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass Ahmads Mörder der Meinung gewesen war, Scholz stellte eine zu große Gefahr dar und ihn ebenfalls umgebracht hatte, aber Benno hoffte einfach, dass dem nicht so war.
Mit dem Kaffeebecher in der einen Hand und einem Plunderteilchen in der anderen trat Benno zurück auf die Straße, nahm einen vorsichtigen Schluck und scannte die Umgebung.
Während er sich umschaute, versuchte er sich vorzustellen, ob Frederick von Froning über die Umtriebe seines vergötterten Großvaters im Bilde war. Wenn er daran dachte, was seine Mutter über die nächtliche Auseinandersetzung mit seinem Erzeuger berichtet hatte, die sie belauscht hatte, dann wohl eher nicht. Zumindest damals nicht.
Falls er tatsächlich nichts davon weiß, steht ihm womöglich eine ziemlich heftige Enttäuschung bevor , dachte Benno und war sich nicht sicher, ob er Schadenfreude empfinden sollte oder doch lieber Mitleid.
In diesem Augenblick vibrierte das Diensthandy in seiner Gesäßtasche. Er klemmte sich das Plundergebäck zwischen die Finger der Hand, die den Kaffee hielten, und griff nach dem Gerät.
„Hagemann?“
Ein Schluchzen war die Antwort. Das verzweifelte Schluchzen einer Frau.
„Hallo? Wer …?“
„Er hat ihn! Frederick! Er war hier und … Er hat ihn gezwungen …!“ Erneutes Schluchzen. Benno runzelte die Stirn und suchte mit den Augen bereits die Umgebung nach einem Ort ab, wo er Becher und Gebäck loswerden konnte.
„Frau Dinnebier?“, vergewisserte er sich, dass er die Frauenstimme richtig zugeordnet hatte. Ah! Ein Papierkorb!
„Ja!“, schluchzte sie. „Bitte … Sie müssen etwas unternehmen! Er … er wird ihn töten!“
Benno warf seine angefangene Mahlzeit in den Abfallbehälter und wandte sich im Laufschritt in Richtung seines Wagens, der in der Nähe parkte.
„Bitte beruhigen Sie sich“, sagte er, möglichst ruhig. „Wer hat wen? Was ist passiert?“
Hektisches Atmen drang durch den Hörer.
„Na, dieser Mann“, sagte sie dann. „Der von damals, ich habe Ihnen doch von ihm erzählt. Der Polizist, der hier war und mit Roman reden wollte! Er … er kam heute Morgen und wollte zu Frederick. Ich wollte ihn gar nicht ins Haus lassen, aber … Er hatte ein Messer dabei, das hat er mir vor die Nase gehalten und … Er hat mich einfach zurückgedrängt und … dann hat er mich im Wohnzimmer an einen Stuhl gefesselt und gemeint, er wartet. Darauf, dass Frederick heimkommt!“ Sie schluchzte erneut los. Benno war mittlerweile an seinem Auto angekommen, hatte aufgesperrt und sich hinter das Steuer geschwungen.
„Wo ist der Mann jetzt?“, fragte er.
„Hören Sie mir denn nicht zu?“, rief die Frau und klang mehr als nur ein bisschen hysterisch. „Er hat Frederick entführt!“
„Und hat er irgendwas gesagt? Wo er mit ihm hinwill? Oder sonst was?“, hakte Benno nach und kämpfte mit sich selbst. Er fühlte sich mies, weil er diese Eskalation nicht vorausgesehen hatte. Fairerweise musste er einräumen, dass es keine Anzeichen gegeben hatte, die darauf hinwiesen, aber trotzdem … Er konnte nun mal nicht aus seiner Haut.
„Nein. Nur …“ Sie schniefte. „Nur dass es Zeit wäre, die Rechnung endlich zu begleichen, oder so ähnlich.“
„Sind Sie verletzt?“
Die Frage kommt vielleicht ein bisschen spät , dachte er, war jedoch beruhigt, als sie verneinte.
„Gut“, erwiderte Benno, fädelte sich in den fließenden Verkehr ein und unterdrückte einen Fluch, als er die Blechlawine sah, die sich über die Hauptverkehrsstraße durch die Innenstadt schob. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte so ein schickes Blaulicht, das sich per Magnet auf dem Dach jedes beliebigen Wagens befestigen ließ. In Fernsehkrimis sah man so was ständig, in der Realität leider wesentlich seltener.
„Ich bin auf dem Weg zu Ihnen, aber das kann ein bisschen dauern“, sagte er. „Der Verkehr ist um diese Zeit ziemlich dicht. Wenn Sie sich allein unsicher fühlen, rufen Sie ruhig die 110. Die Kollegen sind dann in wenigen Minuten bei Ihnen.“
„Können Sie nicht von unterwegs aus schon irgendwas unternehmen? Wegen … wegen Frederick, meine ich. Denken Sie, er bringt ihn um? Oder hat ihn vielleicht schon …“ Ihre Stimme brach und sie begann erneut zu weinen.
„Ich gebe die Fahndung natürlich sofort raus“, versprach Benno. „Wir tun alles, was wir können, das versichere ich Ihnen, Frau Dinnebier.“
Der Fahrer vor ihm trödelte so lange vor der grünen Ampel, dass die bereits wieder gelb war, bis er endlich selbst losfahren konnte. Mit quietschenden Reifen schoss er über die Kreuzung und ignorierte die empörten Blicke der übrigen Verkehrsteilnehmer. Anschließend missachtete er gleich noch mehr Verbote, indem er nach Beendigung des Telefonats erneut wählte und seine Kollegen im Präsidium über das Geschehen informierte. Die Fahndung nach Gregor Scholz und Frederick Dinnebier war rasch ausgegeben und eine Streifenwagenbesatzung auf dem Weg zur Villa der Dinnebiers. Mehr konnte Benno zunächst nicht tun.
Als er die nächste Kreuzung erreichte, wo er links abbiegen musste, meldete sich erneut sein Diensthandy und diesmal unterdrückte er den Fluch nicht. Zum Glück war der Weg vor ihm frei und er steuerte nach dem Einbiegen in die Querstraße an den Fahrbahnrand, ehe er das Telefon zur Hand nahm.
„Was ist?“, bellte er hinein, ungehalten über die erneute Verzögerung. Dass Gregor Scholz so schnell gefunden und festgenommen worden war, erschien ihm äußerst unwahrscheinlich.
„Herr Hagemann?“
„Ja“, entgegnete er. Er konnte die Stimme nicht zuordnen.
„Polizeiobermeister Eilinger hier. Ich habe Weisung von Kriminalrat Kremer, Sie zu informieren, dass Gert Wiedebrück heute Nachmittag in seiner Pension tot aufgefunden wurde. Er wurde dem Anschein nach erstochen und der Doc meint, vermutlich schon gestern Abend oder heute Nacht. Außerdem gibt es an der Leiche Spuren, die ein Hinweis darauf sein könnten, dass er vor seinem Tod gefoltert worden ist.“
„Was?“ Benno war … nein, nicht geschockt, das wäre eine Lüge gewesen. Bestürzt vielleicht? Er hatte für den schmierigen Typen wenig Sympathien gehegt, aber Folter und Tod hatte er ihm gewiss nicht gewünscht.
In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er schloss die Augen, rieb sich über das Gesicht und überlegte fieberhaft. Wiedebrück war, nach allem, was Benno wusste, beileibe kein Unschuldslamm gewesen und vermutlich gab es mehr als eine Person, die über sein Ableben nicht traurig war. Aber es war nun mal auch ein Fakt, dass Gregor Scholz ein verflucht starkes Motiv hatte. Wenn man dann noch berücksichtigte, dass der ehemalige Polizist offenbar auch noch Frederick Dinnebier entführt hatte, sah es schon sehr danach aus, als wollte Scholz sämtliche offenen Rechnungen auf einmal eintreiben.
Ihm kam ein Gedanke.
„Checken Sie mal, ob Doktor Roman Dinnebier, der Zahnarzt, aufzutreiben ist. In seiner Praxis oder wo auch immer. Falls ja, sorgen Sie dafür, dass er vorläufig unter Polizeischutz gestellt wird. Wenn nicht, benachrichtigen Sie mich umgehend!“
„Jawohl, Herr Kommissar.“
Benno drückte das Gespräch weg, blickte über die Schulter und setzte seine Fahrt fort.
Eine knappe Viertelstunde darauf parkte er seinen Wagen in der Straße der Dinnebiers, vor deren Villa bereits zwei Streifenwagen parkten.
Sein Handy klingelte. Es war wieder der Polizeiobermeister von vorhin, diesmal mit der Neuigkeit, dass Doktor Dinnebier vorläufig nicht aufzufinden war. Die Praxis war verschlossen, niemand hatte auf das Klingeln der Beamten reagiert und das Handy des Mannes war offensichtlich ausgeschaltet.
„Danke“, sagte Benno und atmete tief durch. Das klang nicht gut. Natürlich war es denkbar, dass Doktor Dinnebier nur kurz irgendwo hingegangen war, um sich einen Kaffee zu holen oder irgendetwas zu erledigen. In diesem Fall tauchte der Mann also hoffentlich bald wieder auf.
Leider bestand aber auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass er Gregor Scholz in die Hände gefallen war und dieser nun statt einer gleich zwei Geiseln in seiner Gewalt hatte.
Benno betrat das Grundstück, eilte an die Haustür und wurde von einem Uniformierten eingelassen.
Frau Dinnebier, geborene von Froning, hockte wie ein Häufchen Elend auf der riesigen Couch im Wohnzimmer und sah auf, als er sich ihr näherte.
„Herr Hagemann“, sagte sie, richtete sich ein wenig auf und in ihren Augen erschien ein Hoffnungsschimmer. „Gibt es schon was Neues? Haben Sie Frederick gefunden?“
Benno schüttelte den Kopf.
„Leider nicht, Frau Dinnebier. Aber ich habe noch eine andere Frage an Sie. Wann haben Sie Ihren Mann heute zuletzt gesprochen?“
„Meinen Mann?“ Sie blinzelte verwirrt. „Nun, das … das war dann wohl heute früh, kurz bevor er das Haus verlassen hat, um in die Praxis zu fahren.“
„Und wann erwarten Sie ihn zurück?“
„Na ja, also eigentlich …“ Sie schien noch immer verwirrt, runzelte die Stirn und dachte kurz nach, ehe sie antwortete. „Ich denke, wie meistens. Also so gegen neunzehn Uhr. Warum fragen Sie? Was hat das mit Fredericks Entführung zu tun?“
„Womöglich gar nichts“, erwiderte Benno und checkte nebenher die Uhrzeit. „Andererseits haben meine Kollegen mir soeben telefonisch mitgeteilt, dass sie Ihren Mann nicht in seiner Praxis angetroffen haben. Die Tür war verschlossen und sein Handy ist ausgeschaltet.“
Frau Dinnebier öffnete den Mund, blinzelte erneut und schüttelte den Kopf.
„Wie bitte? Nein, er würde doch niemals …“ Sie stockte und riss entsetzt die Augen auf. „Oh mein Gott“, hauchte sie. „Denken Sie, dass er auch …“ Sie hob eine Hand an den Mund, während Benno unbehaglich die Schultern hochzog.
„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Aber es wäre durchaus möglich, dass Gregor Scholz Ihren Mann und Ihren Sohn in seiner Gewalt hat. Die Kollegen suchen weiter mit Hochdruck nach ihm, aber bisher haben wir leider nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo er sich aufhalten könnte.“
Jegliche Farbe war aus Frau Dinnebiers Gesicht gewichen.“
„Aber … warum denn bloß?“, brach es dann aus ihr heraus. „Hat das etwa alles mit diesem Mordfall zu tun, wegen dem Sie gestern hier waren?“
Benno zögerte mit einer Antwort, nickte dann jedoch.
„Es spricht einiges dafür“, sagte er. Frau Dinnebier schluckte, senkte den Blick und starrte ins Leere.
„Was …?“, setzte sie an, zuckte jedoch zusammen, als plötzlich ein melodischer Dreiklang ertönte. Das Festnetztelefon der Dinnebiers, das vor ihr auf dem niedrigen Couchtisch lag, läutete. Die Frau blickte Benno fragend an und er nickte.
„Gehen Sie ran“, sagte er. „Wenn es Gregor Scholz ist, geben Sie ihn an mich weiter.“
Frau Dinnebier griff nach dem Gerät und nahm das Gespräch entgegen.
„Hallo?“ Ihre Haltung war steif, ihre Stimme klang dünn und angespannt. Im nächsten Moment hob sie eine Hand an die Stirn und rieb darüber. „Mutter“, sagte sie und Benno spürte leise Ungeduld aufsteigen. Musste diese Frau ausgerechnet jetzt anrufen? „Was kann ich für dich tun? Es ist gerade ziemlich un…“
Frau Dinnebier unterbrach sich, lauschte kurz und schaute dann mit entsetzt aufgerissenen Augen zu Benno hoch.
„Was?“, fragte sie und gleich darauf: „Wann?“
Wieder hörte sie kurz zu und sagte schließlich: „Die Polizei ist bereits hier, Mutter. Ich reiche dich an den Kommissar weiter. Erzähl ihm, was du mir gerade erzählt hast!“ Kurzes Schweigen. „Doch, das muss sein!“
Sie nahm das Telefon vom Ohr und streckte es Benno hin.
„Meine Mutter“, erklärte sie. „So wie es aussieht, hat Ihr Kollege Scholz nun auch meinen Vater.“
Benno nahm den Hörer mit gerunzelter Stirn entgegen.
„Hagemann“, meldete er sich, worauf es am anderen Ende zunächst still blieb. „Hallo?“
„Ja“, ertönte die zögernde Stimme einer älteren Frau. „Ich bin Caroline von Froning.“ Danach schwieg sie erneut. Benno zwang sich innerlich zur Ruhe, auch wenn er seine Gesprächspartnerin am liebsten geschüttelt hätte.
„Frau von Froning“, sagte er. „Ich verstehe Ihre Unsicherheit, aber wenn es sich tatsächlich so verhält, wie mir Ihre Tochter gerade gesagt hat, dann ist nicht nur Ihr Mann in akuter Gefahr, sondern Ihr Enkel und vermutlich Ihr Schwiegersohn ebenfalls. Also, bitte erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Ein zittriges Einatmen war zu hören. Und dann: „Rigobert, mein Mann, er … er hat einen Anruf bekommen. Vorhin. Also … vor einigen Stunden. Ich habe den Anruf entgegengenommen. Es … es war eine Männerstimme und … er wollte meinen Mann sprechen. Nachdem er aufgelegt hatte, war er … er war ganz blass und er … er meinte, er müsste noch einmal weg und sich um eine Sache kümmern.“
„Eine Sache?“, wiederholte Benno. „Hat er irgendeine Andeutung gemacht, worum es dabei ging?“
„Nein“, sagte Frau von Froning. „Dann ging er und … seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Eigentlich wollten wir heute Abend ins Theater, deswegen habe ich schon mehrmals versucht ihn anzurufen, aber … sein Handy ist ausgeschaltet. Ich dachte, er ist vielleicht bei unserer Tochter und deshalb …“ Sie unterbrach sich. „Was haben Sie da eben gesagt? Frederick ist … entführt worden?“
Benno registrierte sehr wohl, dass sie ihren Schwiegersohn mit keinem Wort erwähnte. Das mochte dem Schock geschuldet sein, konnte aber durchaus auch als Indiz dafür gewertet werden, wie wenig sie von ihm hielt – was sich wiederum mit dem deckte, was ihre Tochter Benno erzählt hatte.
„Es sieht ganz danach aus, ja. Und Sie haben keine Idee, wohin Ihr Mann gefahren sein könnte?“, hakte er nach.
„Nein, tut mir leid. Er … er meinte nur, er müsste kurz weg und sich um eine Sache kümmern, wie bereits gesagt.“
Verflucht! Benno holte tief Atem. Allmählich wurde diese Sache zu groß für ihn allein.
„Ich schicke Ihnen einen Streifenwagen vorbei und informiere meine Vorgesetzten“, sagte er. „Bleiben Sie bitte im Haus und am Telefon, falls Ihr Mann sich meldet oder … oder sein Entführer.“ Letzteres war eher unwahrscheinlich, so wie Benno die Situation beurteilte, aber irgendetwas musste er der Frau ja sagen.
„Ist gut, Herr Kommissar“, erwiderte sie. Benno beendete die Verbindung und zog sein eigenes Handy aus der Tasche. Das würde eine lange Nacht werden …