23.
B enno?“ Das Erstaunen stand Dennis ins Gesicht geschrieben. Ins reichlich zerknitterte Gesicht. Er sah aus, als hätte Bennos Läuten ihn aus dem Tiefschlaf gerissen, was vermutlich stimmte. Schließlich war es kurz nach halb drei Uhr morgens.
„Was machst du denn hier? Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?“ Dennis’ Blick wanderte an Benno abwärts und seine Augen weiteten sich erschrocken. „Ist irgendwas passiert? Du siehst aus, als ob …“
Benno blickte nun ebenfalls an sich herunter und musste Dennis recht geben. Seine Hose, ebenso wie die Jacke, war schlammig und seine Schuhe starrten vor Schmutz. Richtig, er war ja infolge der Druckwelle bei der Explosion zu Boden gegangen.
„Das ist … ’ne ziemlich lange Geschichte“, erklärte er und fühlte Nervosität aufsteigen. Plötzlich erschien ihm seine Idee, um diese Uhrzeit bei Dennis aufzutauchen, völlig idiotisch. Was hatte er sich nur dabei gedacht? „Tut mir leid, ich … ich hab überhaupt nicht realisiert … ich geh besser, entschuldige“, stammelte er und wollte sich abwenden. Dazu kam es jedoch nicht, denn Dennis fasste energisch nach seinem Arm und hielt ihn fest.
„Hey, hey“, sagte er. „Nicht so schnell! Jetzt bin ich eh wach, also erzähl mir, was los ist, okay?“
Benno zögerte, doch Dennis wirkte weder wütend noch genervt, also nickte er.
„Da war diese Explosion, also im Wald, weil … der Typ hatte Benzin und das wussten wir nicht. Nur, dass er Geiseln bei sich hatte und …“
Dennis’ Augen waren womöglich noch größer geworden und jetzt hob er eine Hand.
„Stopp“, bat er, dann schnappte er sich Bennos Arm und zog ihn über die Schwelle in die Wohnung. „Komm erst mal rein. Das, was du da erzählst, klingt nach was, wofür ich erst mal einen großen Kaffee brauche, um es zu kapieren. Und du siehst, nebenbei bemerkt, aus, als könntest du auch einen gebrauchen.“ Er warf Benno einen prüfenden Blick zu. „Von dem Dreck mal ganz abgesehen.“
Er ließ Bennos Hand los, damit der sich die Schuhe abstreifen konnte, und dirigierte ihn dann in seine Küche. Dort angekommen, deutete er auf einen Stuhl.
„Setz dich.“ Benno ließ sich auf das Sitzmöbel fallen und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Mit einem Mal fühlte er sich erschöpft genug, um auf der Stelle einschlafen zu können, gleichzeitig war er aber noch immer derart angespannt, dass er das Gefühl hatte, am gesamten Körper zu vibrieren.
Dankbar schloss er die klammen Finger um den heißen Kaffeebecher, den Dennis vor ihm abstellte.
„Hier. Trink. Du wirkst, als würdest du jeden Moment umkippen.“
Gehorsam nippte Benno an seinem Kaffee und atmete anschließend tief durch. Hier zu sitzen, in der warmen, hellen Küche, einen Kaffee vor sich und Dennis in greifbarer Nähe, war ein so krasser Gegensatz zu dem, was er während der vergangenen Stunden erlebt hatte, dass er einen dicken Kloß im Hals spürte.
„So. Und jetzt noch mal langsam und zum Mitschreiben, okay?“ Dennis nahm ihm gegenüber Platz. „Was hast du da eben von einer Explosion und von Geiseln gesagt?“
„Wir haben den Fall wohl gelöst. Du weißt schon, den mit dem Skelett aus dem Wald.“ Dennis nickte und plötzlich sprudelten die Worte nur so aus Benno heraus. Mit jedem Satz schwand seine innere Anspannung ein winziges bisschen mehr und am Ende saß er da, fühlte sich leer und wusste nicht, wie er nun das, was ihn eigentlich hergetrieben hatte, in Worte fassen sollte.
„Krass“, meinte Dennis. „Und was denkst du, wie das jetzt weitergeht? Werden sie die miesen Typen am Ende verknacken für das, was sie mit Ahmad und den anderen gemacht haben?“
Benno zuckte müde mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Ich hoffe es, aber da liegt erst mal noch jede Menge Ermittlungsarbeit vor uns. Selbst wenn Leila das Heft von Ahmad übersetzt hat, kann man jetzt noch nicht absehen, wie stark die Staatsanwaltschaft das gewichtet. Immerhin sind nun er und auch Scholz tot, es gibt also niemanden mehr, der persönlich gegen die Hintermänner aussagen oder befragt werden kann. Zumindest niemanden, von dem wir wüssten. Und die meisten der Männer, deren Namen in der Liste auftauchen, sind nicht nur wohlhabend, sondern auch verdammt einflussreich. Unter Umständen kriegen sie nicht mehr als einen Klaps auf die Finger. Außerdem gibt es da auch noch zwei Tote, Gert Wiedebrück und Roman Dinnebier, denen man die Schuld hervorragend in die Schuhe schieben kann. Sie können ja nicht mehr widersprechen. Obwohl ich davon ausgehe, dass Frederick von Froning mithilfe seines Großvaters dafür sorgen wird, dass auf seine Familie möglichst wenig von dem ganzen Schmutz abfärbt. Zumindest wird er es versuchen, so wie ich ihn einschätze. Es würde mich also nicht wundern, wenn im Nachhinein Wiedebrück als der große Boss dargestellt wird und alle anderen waschen ihre Hände in Unschuld.“ Er rieb sich über das Gesicht, dann schluckte er und machte eine Kopfbewegung, als wollte er diese Gedanken abschütteln. „Aber deshalb bin ich … bin ich eigentlich nicht hier.“ Er umklammerte die Tasse und starrte in seinen Kaffee.
„Nicht?“ Dennis’ Stimme war sanft und gerade diese Sanftheit trieb Benno die Tränen in die Augen.
„Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf, noch immer ohne aufzublicken. „Ich … ich bin hier, weil ich mich entschuldigen will. Es tut mir leid, was ich gesagt habe! Ich …“ Er stockte, zwang sich, den Kopf zu heben und fand Dennis’ blaue Augen direkt auf sich gerichtet. „Ich liebe dich“, fuhr er fort, leiser, mit schwankender Stimme. „Ich hab es vor mir her geschoben, mir professionelle Hilfe zu suchen, ich weiß, aber … jetzt nicht mehr. Ich … ich wollte eigentlich erst zu dir kommen, wenn ich wen gefunden habe, also einen Therapeuten, aber … heute Nacht, da draußen im Wald, da … Weißt du, Scholz hat da was gesagt, das war echt … Er meinte, er wäre doch längst tot. Schon seit dem Tag, als Ahmad verschwunden ist, und da … da hab ich gedacht, dass ich das nie erleben will! Und im nächsten Moment ist mir aufgegangen, dass ich längst kurz davor bin, weil … Ich hab dich von mir weggetrieben und … Fakt ist doch, wenn ich dich verliere, dann bin ich auch tot, genau wie Scholz. Also … innerlich, meine ich … Und deswegen musste ich herkommen. Sofort. Ich musste einfach, verstehst du?“
Dennis schwieg und sah ihn lange an. So lange, dass Benno schon fürchtete, er würde gleich den Kopf schütteln und ihm sagen, dass es leider zu spät war für seine Erkenntnis. Er konnte die Worte praktisch schon hören und ihren bitteren Beigeschmack auf der eigenen Zunge fühlen.
Sein Herz krampfte sich zusammen und er wollte schon aufstehen, gehen, um den letzten Rest Würde nicht auch noch einzubüßen, indem er zu betteln anfing. Doch da hob Dennis eine Hand und strich ihm zärtlich durchs Gesicht. Dann beugte er sich ein wenig über den Tisch, ließ die Hand in Bennos Nacken wandern und zog ihn zu einem kurzen Kuss heran.
„Nicht weinen“, sagte er und Benno fühlte, wie er ihm mit dem Daumen über die Wange strich.
„Tu ich doch gar …“ Nicht , wollte er sagen, doch jetzt bemerkte er zu seiner eigenen Verblüffung die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht. „Oh.“
„Es tut mir leid, Benno“, hörte er Dennis sagen und schlagartig wurde ihm kalt. Bewahrheitete sich jetzt seine Furcht von eben doch noch? War der Kuss nur eine Art Trost gewesen? Bevor Dennis ihm die endgültige Abfuhr erteilte?
„Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen“, fuhr der jetzt fort, die Hand weiterhin an Bennos Wange. „Ich gebe zu, ich hatte gehofft, du lenkst ein, wenn ich dich ein bisschen schmoren lasse. Aber das war nicht richtig. Überhaupt war diese ganze Idee mit der gemeinsamen Wohnung und so … Na ja, einfach dumm von mir. Mir hätte klar sein müssen, dass das viel zu früh und viel zu viel auf einmal für dich ist. Dafür entschuldige ich mich. Und dafür, dass ich mich heute nicht bei dir gemeldet habe, auch.“ Er legte die Stirn an Bennos und seufzte. „Aber ich bin froh, dass du hier bist. Du hast mir so unglaublich gefehlt und …“ Er stieß den Atem aus und es klang ein bisschen wie ein Schluchzen. „Und ich hatte ehrlich Angst, dass ich mit meiner Ungeduld alles kaputtgemacht haben könnte.“
Benno fasste nach den warmen Fingern in seinem Gesicht, bedeckte sie mit seinen eigenen.
„Also …“ Er schniefte und schämte sich dafür, wenn auch nur ein kleines bisschen. „Also heißt das, du schickst mich nicht weg?“
Dennis löste sich von ihm und betrachtete ihn stirnrunzelnd.
„Warum sollte ich dich denn wegschicken? Ich bin heilfroh, dass du hier bei mir bist! Noch dazu heil und gesund, nach allem, was heute Nacht passiert ist.“
Benno lachte auf. Ein heiseres, feucht klingendes Geräusch, denn gleichzeitig sprangen ihm helle Tränen der Erleichterung aus den Augen. Eine sinnvolle Antwort brachte er nicht zustande, also zuckte er nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Plötzlich fühlte er sich leicht. Noch immer – wenn nicht noch mehr als vorher – zerrte bleischwere Erschöpfung an ihm, aber im gleichen Atemzug glaubte er, wenn er sich jetzt bewegte, würde er abheben und einfach in Richtung Zimmerdecke schweben.
„Bleibst du hier? Ich meine, für den Rest der Nacht?“, fragte Dennis leise. Benno nickte, sah dabei aber an sich herunter und verzog das Gesicht.
„Ich fürchte allerdings, bevor du mich in dein Bett lässt, ist eine Dusche dringend …“
Dennis unterbrach ihn mit einem weiteren Kuss.
„Scheiß drauf“, sagte er. „Meine Bettwäsche kann man waschen. Ich will dich einfach im Arm halten und sicher sein, dass der Albtraum vorbei ist. Duschen kannst du auch noch morgen früh.“
„Heute früh“, korrigierte ihn Benno und Dennis hob eine Braue.
„Klugscheißer.“
„Angenehm, Hagemann“, erwiderte Benno und sie grinsten einander an. Es schien ein bisschen bizarr, nachdem sie sich gerade erst versöhnt hatten, schon wieder dumme Witze zu reißen, aber es fühlte sich gut an. Vertraut. Benno seufzte und ließ sich von Dennis auf die Füße ziehen. Noch immer spürte er diese wunderbare Leichtigkeit, im Kopf und in der Brust. Fast war er versucht, es Unbeschwertheit zu nennen, ein Gefühl, als könnte ihnen nichts und niemand etwas anhaben.
Aber das war verrückt, wenn man bedachte, dass sie ihren gemeinsamen Weg gerade erst begonnen hatten. Mit Sicherheit würden sie noch häufiger Auseinandersetzungen haben wie die, die sie soeben beigelegt hatten. Benno ahnte, dass nicht nur die Aufarbeitung seines Traumas einiges an Konfliktpotenzial barg, sondern auch der ganz gewöhnliche Alltag. Erst recht, wenn sie wirklich irgendwann in einer gemeinsamen Wohnung lebten, und er zweifelte nicht, dass es dazu kommen würde. Jetzt nicht mehr.
Und wie in jeder anderen Beziehung würde es nicht nur Harmonie und eitel Sonnenschein geben, sondern auch Streitereien. Um falsch ausgedrückte Zahnpastatuben, den nicht ordentlich getrennten Müll, Haare im Waschbecken und ähnlich alltägliche Dinge. Es lag an ihnen, was sie im Endeffekt daraus machten.
Er musste lächeln.
„Was ist so lustig?“, wollte Dennis wissen und schlang die Arme um ihn.
„Ich habe mir gerade vorgestellt, wie wir beide uns über Nichtigkeiten in die Haare geraten“, erwiderte Benno.
„Und das amüsiert dich?“ Sein Freund schien empört.
„Nein.“ Benno schüttelte den Kopf. „Aber ich habe mir gerade vorgestellt, wie wir uns im Bett wieder versöhnen“, erklärte er.
Dennis’ Ausdruck wechselte und wurde eindeutig lüstern.
„Versöhnungssex?“, fragte er. „Hm. Ich wusste doch, dass ich was vergessen habe. Wie dumm von mir.“ Er schnappte nach Bennos Lippen und küsste ihn. „Aber Gott sei Dank ist das ja nichts, was man nicht ändern könnte.“ Erneut verschmolzen ihre Lippen miteinander, bis ihnen die Atemluft ausging. Wie gebannt schaute Benno in die geweiteten Pupillen seines Freundes und spürte, dank dessen spärlicher Bekleidung den eindeutigen Beweis seiner steigenden Erregung, die sich hart gegen ihn drückte. Nicht, dass es bei ihm etwa anders ausgesehen hätte. „Wenn ich genau drüber nachdenke“, meinte Dennis jetzt und runzelte die Stirn, als würde er überlegen. „Hast du eigentlich recht. Persönliche Hygiene ist immens wichtig.“ Er grinste breit und rieb seine Nase an der von Benno.
„Falls das bedeuten soll, dass du mit mir zusammen duschen willst …?“, begann Benno.
„Meisterhaft kombiniert, Herr Kommissar“, raunte Dennis und stahl sich einen weiteren Kuss. „Irgendjemand muss ja sicherstellen, dass du genügend Sorgfalt walten lässt bei der Reinigung gewisser … delikater Körperstellen.“
„Irgendjemand?“ Benno hob die Brauen.
„Ertappt.“ Wieder grinste Dennis. „Ich muss das sicherstellen und niemand sonst. Oder gibt es Einwände?“
„Nicht im Geringsten.“ Benno wand sich aus der Umarmung und schnappte nach der Hand seines Freundes. „Dann mal los“, sagte er. „In knapp dreieinhalb Stunden muss ich wieder im Präsidium sein.“
Ein Hauch Verunsicherung huschte über Dennis’ Züge.
„Du solltest vielleicht doch besser einfach nur schlafen“, wandte er ein.
„Später“, sagte Benno. „Schlaf wird überbewertet.“