Fünftes Kapitel
Hanna wachte auf, wie sie sonst nur an Sonntagen aufwachte, tauchte langsam aus einem Traum hoch, nur um wieder abzusinken. Es war, als hätte die Zeit ein Loch bekommen. Dieses Schweben zwischen Schlafen und Wachen wurde nicht von Rasmines Händen an ihren Schultern gestört, nicht von dem üblichen »Hanna, Zeit zum Aufstehen!«. Irgendetwas war heute anders, aber sie war zu verschlafen, um zu verstehen, was es war. Sie fröstelte, ihre Zudecke war vom Bett gerutscht. Sie beugte sich vor, hob die Zudecke auf, wickelte sich hinein und döste weiter vor sich hin. Doch das Gefühl, dass etwas sonderbar war, ließ sie nicht los.
Sie hatte von Janka geträumt. Im Traum hatten sie nebeneinander auf der Wiese am Elsterbecken gelegen, die Sonne schien, die Blumen blühten und um sie herum flogen Hummeln und erfüllten die Luft mit ihrem Brummen. Viele, viele Hummeln. Gestern Abend hatte sie vor dem Einschlafen noch lange an ihre Freundin gedacht, denn Janka würde heute, am 9. April, ihren fünfzehnten Geburtstag feiern. Sie hatte sich vorzustellen versucht, wie Janka jetzt wohl aussah, ob sie gewachsen war, ob sie ebenfalls Brüste bekam oder vielleicht schon ihre Periode hatte. Mit Janka hatte sie oft über solche Dinge gesprochen. Einmal, es war tatsächlich auf der Wiese am Elsterbecken gewesen, hatte Hanna, die damals noch Hannelore hieß, sich darüber beklagt, dass sie noch immer fast so flach war wie ein Waschbrett. »Was ich habe, sind höchstens zwei Erbsen.« Janka hatte gelacht, doch dann hatte sie gesagt: »Meine Mutter meint, wir wären einfach ein bisschen spät dran, du und ich, das wäre aber kein Grund zur Sorge, nicht alle Mädchen hätten mit dreizehn schon einen Busen.« Und nach einer Pause hatte sie hinzugefügt: »Weißt du was? Ich glaube, ich will nie einen Busen bekommen. Ich glaube, ich will immer ein Kind bleiben.« – »Ich nicht«, hatte Hanna geantwortet.
Und plötzlich fiel ihr ein, dass heute gar nicht Sonntag war, sondern Dienstag. Wieso hatte Rasmine sie nicht geweckt? Und wieso brummten die Hummeln noch immer um ihren Kopf? Hummeln in einem Kinderzimmer mitten in Kopenhagen? Sie riss die Augen auf. Im Raum war es dämmrig, doch die Lichtstreifen in den Ritzen des Rollladens sagten ihr, dass es schon heller Tag war. Sie hatten verschlafen.
Noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, ging die Tür auf, Frau Golde kam herein, ging mit raschen Schritten zum Fenster und zog den Rollladen hoch. »Aufstehen!«, sagte sie mit abgewandtem Gesicht. »Zieht euch an! Euer Vater und ich erwarten euch im Salon.« Hanna bemerkte erstaunt, dass aus ihrem stets korrekt aufgesteckten Knoten unordentliche Strähnen heraushingen.
»Was ist los, Mama?«, fragte Dani verschlafen, aber seine Mutter, die sonst ihrem »kleinen Mann« gegenüber besonders zärtlich und nachgiebig war, wiederholte nur, sie sollten sich anziehen und in den Salon kommen. Ihre Stimme klang ungewohnt streng und hart, und sie verschwand ohne ein Lächeln, ohne eine weitere Erklärung.
Die drei sprangen aus den Betten und zogen sich an. Das Brummen war noch lauter geworden. Aber es waren keine Hummeln, natürlich nicht. Es war ein Geräusch, das Hanna noch nie gehört hatte und das ihr Angst machte. Sie meinte es auf ihrer Haut zu spüren, ein Vibrieren, das durch die Poren in ihren Körper drang und sie innerlich erzittern ließ. Sie sah Britta und Dani an, dass auch sie erschrocken und verängstigt waren.
Aus der Küche war ungewohnt lautes Klirren von Geschirr zu hören, eine Schranktür wurde zugeschlagen, dann fiel etwas krachend auf die Steinfliesen. Im Salon lief das Radio, aber so leise, dass sie den Nachrichtensprecher nicht verstehen konnten, sie hörten nur, wie aufgeregt seine Stimme klang. Herr und Frau Golde standen sehr dicht nebeneinander an der offenen Balkontür und schauten hinaus. Herr Golde hatte den Arm um die Schulter seiner Frau gelegt.
Nun wandte er den Kopf, winkte die Kinder näher und deutete zum Himmel. »Flugzeuge«, sagte er, »deutsche Flugzeuge. Die deutsche Wehrmacht hat Dänemark überfallen. Bald werden die Soldaten auch in Kopenhagen sein.« Sein langes, schmales Gesicht sah noch länger aus als sonst und die Falten von seinen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln schienen über Nacht tiefer geworden zu sein.
Die Kinder starrten hinauf zum Himmel. Flugzeuge brausten über die Stadt wie riesige Vögel, wie Ungeheuer aus einem bösen Traum. Das Brummen wurde hier, an der offenen Balkontür, zu einem Dröhnen.
Britta sprach die Frage aus, die Hanna im Hals würgte und ihr die Luft nahm. »Heißt das Krieg?«, fragte sie mit einer Stimme, die nichts Kindliches mehr hatte. Auch ihr süßes Puppengesicht sah plötzlich älter aus.
Herr Golde nahm den Arm von der Schulter seiner Frau und zog seine Tochter an sich. Seine langen Arme hingen wie die Flügel eines lahmen Raben über Brittas hellem Rüschenkleid. »Wir wissen noch nicht, was das heißt, niemand kann das wissen. Einstweilen können wir nur warten. Ihr bleibt jedenfalls heute zu Hause. Keiner geht auf die Straße, habt ihr mich verstanden?«
»Aber wir wollten heute mit der Klasse ins Museum gehen«, protestierte Britta. »Ich habe mich schon so darauf gefreut.« Auf einmal war sie wieder die verwöhnte Elfjährige.
»Keine Schule, kein Museum, ihr bleibt zu Hause«, sagte Frau Golde und schob sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Du auch, Hanna. Heute gibt’s auch keine Werkstatt.« Jetzt sah Hanna, dass ihre Augen gerötet waren, sie musste geweint haben.
»Diese blöden Deutschen«, sagte Britta und warf Hanna einen giftigen Blick zu. »Hast du davon gewusst?«
Ihre Mutter strich ihr über die Haare. »Sei nicht albern, Britta. Hanna ist Jüdin, genau wie du. Mit diesen Nazis hat sie nichts zu tun.«
»Aber deutsch ist sie trotzdem«, murmelte Britta.
Hanna zog die Schultern hoch und schaute hinunter auf die Straße. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Straße war leer, vollkommen leer, kein Mensch war zu sehen, keine Katze, kein Hund und sogar die Vögel hatten sich irgendwo versteckt.
Gestern hatte sie sich noch über die ersten grünen Blätter an den Bäumen gefreut, darüber, dass endlich der Frühling anfing, und auf einmal war alles anders. Die grünen Blätter waren bedeutungslos geworden, wichtig waren nur noch die Flugzeuge, die über Kopenhagen donnerten.
»Ihr geht jetzt in die Küche«, sagte Frau Golde. »Rasmine soll euch das Frühstück machen. Und dann möchte ich, dass ihr ruhig in eurem Zimmer bleibt. Ruhig, verstanden? Ohne Krach und ohne Streit.«
Sie gehorchten. Auch Rasmine war ernst und bedrückt. »Dieser verdammte Hitler«, sagte sie, als sie ihnen das Frühstück auf den Tisch stellte. »Der Schlag soll ihn treffen! Der Teufel soll ihn holen! Er soll in der Hölle braten!«
Den ganzen Tag über kamen Leute ins Haus. Hanna zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Türglocke ertönte. Sie wusste selbst nicht, was sie daran erschreckte. Es war das Gefühl einer unbestimmbaren Bedrohung, als könne jeden Moment noch etwas anderes passieren, als stünde ihnen eine weitere, noch unheilvollere Nachricht bevor. Doch es waren nur Besucher, die, wenn Rasmine ihnen die Tür aufgemacht hatte, sofort in der Bibliothek verschwanden. Von dort war Stimmengemurmel zu hören, das mal lauter, mal leiser wurde, immer wieder unterbrochen von längerem Schweigen. Und von Zeit zu Zeit gingen alle, die Goldes und ihre Besucher, in den Salon und stellten den Radioapparat lauter, bevor sie in die Bibliothek zurückkehrten.
Mit den Kindern sprach niemand. Hanna wusste nicht, was sie tun sollte, manchmal stand sie am Fenster, manchmal versuchte sie zu lesen, dann ging sie wieder in die Küche. Aber Rasmine wusste ebenso wenig wie sie, nur dass die Deutschen in Dänemark eingedrungen waren, und sie war ungewöhnlich mürrisch und gereizt, genau wie Britta. Sie fuhrwerkte in der Küche herum, ihr rundlicher Körper, der sich sonst eher wie ein Kreisel drehte, bewegte sich eckig und ungeschickt. Hanna dachte voller Sehnsucht an die Werkstatt und formte in Gedanken Vögel aus Ton, Raubvögel, die zu unheimlichen Drachen anwuchsen. Im ganzen Haus herrschte eine deutlich spürbare Anspannung, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Nur Dani schien froh darüber zu sein, dass die Deutschen ihm einen Tag schulfrei beschert hatten. Aber als er, seine Schwester und Hanna auch am nächsten und am übernächsten Tag in ihrem Zimmer bleiben mussten und die Erwachsenen sich nicht um sie kümmerten, fing auch Dani an zu quengeln.
Am Nachmittag des dritten Tags stand Hanna am Fenster, als sie unten auf der Straße die ersten deutschen Soldaten sah, eine kleine Gruppe von fünf Männern, in Uniform und mit Gewehren in den Händen. Sie unterhielten sich miteinander, das konnte sie deutlich erkennen, und sie lachten. Worüber lachten sie? Hatte einer einen Witz erzählt? Plötzlich fiel ihr ein, wie lange sie, außer mit Mira und der Gruppe, nicht mehr Deutsch gesprochen hatte. Am liebsten wäre sie hinuntergelaufen und hätte gefragt: Was war das für ein Witz? Doch da waren die Männer auch schon vorbei.
Hanna war so aufgeregt, dass sie Frau Goldes Anweisungen missachtete und die Tür zur Bibliothek aufmachte. In dem düsteren Raum mit den vielen hohen Bücherschränken an den Wänden und dem großen Tisch in der Mitte wogten blaue Rauchwolken. Zwei Herren saßen mit Herrn und Frau Golde am Tisch, auf dem außer einer Teekanne und Tassen auch eine angebrochene Flasche Aquavit und kleine Gläser standen. Einer der Gäste war ebenso lang und schmal wie Herr Golde, Hanna erkannte ihn, es war sein Bruder. Den anderen Gast, einen älteren, vornehm aussehenden Herrn mit einem grauen Backenbart und einem steifen Kragen, hatte sie noch nie gesehen. Er hielt eine Pfeife zwischen den Lippen und stieß immer wieder Rauchwolken aus. Süßlicher Tabakgeruch hing in der Luft. Hanna blieb verlegen in der Tür stehen.
»Was ist, Hanna?«, fragte Herr Golde.
Hanna musste schlucken, bevor sie die Worte herausbrachte: »Gerade sind fünf deutsche Soldaten am Haus vorbeigegangen, in Uniform und mit Gewehren.«
Herr Golde deutete auf den freien Stuhl neben seiner Frau. »Komm her, Kind.«
Unsicher setzte sie sich. »An diesen Anblick werden wir uns gewöhnen müssen«, sagte Herr Golde. »Hör zu, ich werde es dir erklären. Letztes Jahr hat Dänemark mit Deutschland einen Nichtangriffspakt geschlossen, aber es hat nichts genützt. Die Deutschen haben unser Land besetzt. Angeblich um zu verhindern, dass wir von den Engländern besetzt werden.«
»So etwas nennt man die Wahl zwischen Pest und Cholera«, sagte der ältere Herr zornig. Er zog an seiner Pfeife und Rauch quoll aus seinem Mund.
»Wir waren neutral und wollten neutral bleiben«, fuhr Herr Golde fort. »Aber damit ist es nun vorbei. Die Deutschen sind nicht nur in Dänemark einmarschiert, sondern auch in Norwegen und haben beiden Ländern ein Ultimatum gestellt. Dänemark und Norwegen sollen sich unter den Schutz des Deutschen Reichs stellen und dafür ihre Regierung und ihre politische Unabhängigkeit behalten dürfen. Norwegen unter König Håkon, dem Bruder unseres Königs Christian, hat das Ultimatum abgelehnt und sich für den Krieg entschieden. Aber die dänische Regierung und unser König Christian haben das Ultimatum nach wenigen Stunden der Gegenwehr angenommen.«
Er schwieg. Hanna spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief, der Ernst und die angespannte Stimmung im Raum waren deutlich spürbar. Sie hatte, als sie die Soldaten sah, nur »Deutsche« in ihnen gesehen, jetzt dachte sie: Es waren deutsche Nazis. Frau Golde schenkte Aquavit aus. Ihr Mann nahm einen Schluck, dann wandte er sich wieder an Hanna. »Unsere Regierung will dem Land die Not und das Elend eines Kriegs ersparen, der sowieso von vornherein verloren wäre. Dänemark ist ein kleines Land und seine Armee ist nicht ausreichend gerüstet, um den Kampf mit einem so mächtigen Gegner wie Deutschland aufzunehmen, verstehst du, was das bedeutet?«
»Wie soll sie die Bedeutung von etwas verstehen können, was noch nicht mal wir verstehen?«, stieß der ältere Herr aus. Seine Worte wurden von erneuten Rauchwolken begleitet, die sein Gesicht für einen Moment verschwinden ließen, bevor es wieder auftauchte.
»Ich habe Angst«, sagte Hanna.
Frau Golde beugte sich zu ihr und umarmte sie. »Wir auch, Hanna, wir haben auch Angst.«
»Aber im Vergleich zu den Juden in Deutschland und in Polen sind wir hier sicher«, sagte Herr Goldes Bruder, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir sollten uns jedoch überlegen, ob wir unsere Kinder nicht lieber in eine Internatsschule nach Schweden schicken. Schweden scheint ja seine Neutralität wahren zu können.«
Frau Golde warf ihrem Schwager einen entsetzten Blick zu. »Vorläufig bleiben die Kinder hier«, sagte Herr Golde und legte seiner Frau beruhigend die Hand auf den Arm.
Ein paar Tage später, als feststand, dass es zu keinen weiteren Kampfhandlungen kommen und die Regierung im Amt bleiben würde, durften Britta und Dani wieder in die Schule gehen, allerdings nicht allein. Sie wurden von einem jungen Angestellten aus Herrn Goldes Kanzlei begleitet, er holte sie morgens von zu Hause ab und brachte sie nachmittags zurück.
Auch Hanna ging wieder zu Jesper und Marie, die sich sehr freuten, als sie die Werkstatt betrat. »Wir hatten schon Angst, du kommst nicht mehr«, sagte Jesper. Und Marie sagte: »In was für einer Welt leben wir! Diese verdammten Deutschen!« Sie zuckte zusammen, umarmte Hanna und drückte sie an ihren weichen Busen. »Dich meine ich natürlich nicht, Herzchen.«
Hanna befreite sich verlegen und verwirrt aus der Umarmung und machte sich an die Arbeit. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die Worte »deutsch« und »Deutsche« waren zu Schimpfwörtern geworden, und sie fühlte sich jedes Mal getroffen, wenn jemand sie in ihrer Gegenwart aussprach. Schließlich waren es ja wirklich die Deutschen, die Dänemark überfallen hatten. Und sie, Hanna, konnte doch nicht jedem einzelnen Menschen erklären, dass sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besaß, dass die Deutschen selbst sie nicht als Deutsche anerkannten, auch wenn sie in Deutschland geboren war und sich ihr Leben lang deutsch gefühlt hatte.
Den anderen in der Gruppe ging es nicht viel besser, sie sprachen an ihrem ersten Gruppentreffen nach der Besetzung Dänemarks darüber.
»Es ist eine schwierige Situation«, sagte Schula. »Wir müssen jetzt noch viel vorsichtiger sein. Lasst euch auf der Straße nicht anmerken, dass ihr Deutsch versteht, tut so, als wärt ihr so dänisch wie die anderen auch. Und dass es euch ja nicht einfällt, mit einem deutschen Soldaten zu sprechen. Verhaltet euch so unauffällig wie möglich.«
Meine Mutter hat es schon immer gewusst, dachte Hanna. Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen.
»Ich habe geglaubt, wir wären in Dänemark sicher«, sagte Mira. »Und jetzt haben uns diese verdammten Nazis auch hier eingeholt.«
»Können wir nicht in ein anderes Land fahren?«, fragte Bella. »Ich wäre jetzt wirklich lieber in England oder sonst wo.«
Schula seufzte. »Ich auch«, sagte sie. »Aber wir haben keine Wahl, wir müssen es durchstehen. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Aber seid vorsichtig, bitte, seid vorsichtig.«
Hanna war vorsichtig. Zu Hause, in der Werkstatt und bei den Gruppentreffen fühlte sie sich einigermaßen sicher. Ganz anders war es auf der Straße. Wenn sie sich morgens auf den Weg zur Werkstatt machte und wenn sie abends nach Hause ging, hatte sie Angst. Wenn sie deutsche Soldaten traf, musste sie sich zwingen, ruhig an ihnen vorbeizugehen, so wie sie sich zwingen musste, nicht zu reagieren, wenn sie deutsche Worte hörte. Sie war schon vorher nicht gern allein in Kopenhagen herumgelaufen, jetzt bedeutete jeder Schritt vor die Haustür eine Überwindung. Sogar Mira, die sich sonst vor nichts und niemandem fürchtete, zog es vor, bei ihren ungeliebten Gasteltern zu bleiben, jedenfalls besuchte sie Hanna nur noch selten. Sogar an ihrem fünfzehnten Geburtstag kam sie nicht. Dabei hätte Hanna ihr so gern das silberne Armband gezeigt, das Geschenk von Jesper und Marie. Noch nie hatte ihr jemand ein Schmuckstück geschenkt. Nun musste sie bis zum nächsten Gruppentreffen warten, um Mira ihren Schatz zu zeigen.
Im Mai überfielen die Deutschen auch die neutralen Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg und marschierten in Nordfrankreich ein. Schula war ganz aufgeregt, als sie ihnen erklärte, was sie sowieso schon im Radio gehört hatten. Schula war direkt von ihrer Arbeit im Krankenhaus gekommen und trug noch ihre Schwesterntracht. »Nach einer Bombardierung Rotterdams haben die Niederlande kapituliert und die holländische Königin Wilhelmina ist nach London geflohen. Eine Woche lang haben sich die Niederlande gewehrt und das war’s auch schon.« Schula sah auf einmal nicht mehr älter aus als die anderen Mädchen. Sie wischte sich über die Augen. »Ich muss dauernd an meine Brüder denken.«
»Wie alt sind deine Brüder?«, fragte Bella.
»Vierzehn und sechzehn«, antwortete Schula. »Gott sei Dank noch zu jung zum Kämpfen.«
Mira beugte sich zu Hanna und flüsterte ihr ins Ohr: »Noch!«
Schula hatte es zum Glück nicht gehört. Sie wechselte das Thema, offenbar wollte sie nicht länger darüber sprechen, aber die Angst war ihr anzusehen.
Am 10. Juni gab sich auch Norwegen geschlagen. »Churchill hat wegen der deutschen Erfolge in Frankreich den Abzug der Alliierten aus Norwegen angeordnet«, erklärte Schula. »Ich habe es in der BBC gehört. Daraufhin konnte sich Norwegen nicht halten, die Soldaten haben kapituliert, der König ist mit seiner Familie nach London geflohen. Jetzt bekommt Norwegen auch einen Reichskommissar.«
»Was ist das, ein Reichskommissar?«, fragte Rachel.
Schula seufzte. »Das ist der Leiter einer deutschen Militärbehörde für besetzte Länder, ein Reichskommissar hat viele Vollmachten und kann alles durchsetzen, was die Deutschen wollen. Genau wie dieser verdammte niederländische Nazi Seyß-Inquart*.«
»Und warum gibt es in Dänemark keinen Reichskommissar?«
»Weil Dänemark kampflos kapituliert hat, deswegen konnte das Land seine Regierung unter König Christian behalten.«
»Wird das so bleiben?«, fragte Mira.
Wieder seufzte Schula. »Wer kann das wissen, auf diese Nazis kann man sich nicht verlassen. Sie haben jetzt schon fast ganz Europa in den Krieg gezogen. Im Moment sind wir hier wie auf einer Insel.«
»Klar, Dänemark besteht doch aus Inseln«, warf Bella ein.
Jetzt lächelte Schula, aber es war ein schiefes Lächeln. »Ich meine doch eine politische Insel, Dummerchen.«
Ebenfalls im Juni begann die deutsche Offensive an der Aisne und der Somme, kurz darauf überschritten die deutschen Soldaten die Seine, am 14. Juni besetzten sie Paris. Schula zeigte ihnen auf einer Landkarte die Bewegung der Truppen. Und sie erklärte ihnen, dass der italienische Diktator Mussolini sich den Deutschen angeschlossen hatte, seine Truppen kämpften gegen die Westalliierten Frankreich und England.
Eine Woche später, beim nächsten Treffen, teilte Schula ihnen mit, sie würden Kopenhagen schon bald verlassen, es werde hier mit den vielen deutschen Soldaten allmählich zu gefährlich für sie. »Wir suchen schon seit Wochen Plätze auf Bauernhöfen für euch, auf Fünen«, sagte sie. »Die Insel ist weit genug von Kopenhagen entfernt, da seid ihr vorläufig sicher.«
»Und du?«, fragte Hanna. »Bleibst du hier?«
»Nein«, sagte Schula, »ich komme mit euch. Ich habe mich erkundigt, das Krankenhaus in Nyborg braucht Krankenschwestern für die Nachtwachen.« Sie strich Hanna über den Kopf. »Für dich haben wir bereits einen Platz gefunden, Hanna. Du bist jetzt auch schon fünfzehn, alt genug, um für deinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Und in den letzten Monaten bist du gewachsen und kräftiger geworden.«
Das stimmte. Frau Golde hatte schon mehrmals neue Kleidungsstücke für sie besorgen müssen, die Sachen, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte, waren ihr längst zu eng und zu kurz geworden. »Außerdem kommt Mira ganz in deine Nähe«, fügte Schula mit einem freundlichen Lächeln hinzu. »Eure Bauernhöfe liegen nur drei, vier Kilometer voneinander entfernt.«
Mira war erleichtert, von ihren Sklaventreibern, wie sie diese Leute nannte, wegzukommen, und auch die anderen freuten sich darauf, die Stadt verlassen zu können, in der sie sich zunehmend unbehaglicher fühlten. Als würden sie von tausend Augen verfolgt, wie Mira es ausdrückte. Es war Sommer, sie kannten die Arbeit auf dem Land, sie sehnten sich nach Luft und Sonne und körperlicher Betätigung.
Hanna war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem Wunsch zu bleiben. Am schwersten würde ihr der Abschied von Jesper und Marie und der Werkstatt fallen, das wusste sie.
Die Goldes bedauerten, dass Hanna weggehen würde. »So traurig es ist, die Entscheidung ist richtig«, sagte Frau Golde. »Ich habe immer Angst um dich, wenn du aus dem Haus gehst. Bis jetzt läuft das Leben in Kopenhagen ja einigermaßen normal ab, aber wer weiß, was uns die Zukunft noch bringt. Diese Nazis sind unberechenbar. Sie haben versprochen, uns in Ruhe zu lassen, aber was man aus anderen Ländern hört, ist nicht gerade vertrauenerweckend. Ihre Zusagen sind weniger wert als das Schwarze unterm Fingernagel. Heute versprochen, morgen gebrochen.«
Rasmine wurde ganz blass, als sie erfuhr, dass Hanna bald weggehen würde, und auch Hanna war jetzt schon traurig, wenn sie an den Abschied von Rasmine dachte. Sie hing an dieser Frau, die ihr das Leben leichter gemacht hatte, und was noch wichtiger war, sie fühlte sich von ihr geliebt. In den letzten Tagen vor der Abreise kochte Rasmine alles, was Hanna gern aß, und jeden Tag gab es zum Nachtisch Pudding mit Schlagsahne. »Du musst viel essen«, sagte Rasmine, als sie in der Küche allein waren. »Versprich mir, dass du immer ordentlich isst, wo du hinkommst. Nicht dass du krank wirst.« Hanna versprach es und wischte sich heimlich ein paar Tränen aus den Augen.
Der Tag der geplanten Abreise rückte näher und damit auch der Abschied von der Werkstatt.
Hanna stand vor den Regalen und betrachtete die Figuren, die Gnome, die Elfen, die Feen, die Hexen und Zauberer, natürlich auch die Figuren aus ihrem Märchenbuch, die kleine Meernixe, den Tölpelhans, das Däumelinchen, den Sandmann, den Schweinehirten, die Prinzen und Prinzessinnen. Immer wieder nahm sie eine Figur in die Hand und streichelte sie mit den Fingerspitzen. Besonders lange betrachtete sie die Katzenkörbchen, die Jesper und Marie begeistert in ihr Sortiment aufgenommen hatten, nachdem sie Hannas Geschenk für Mira gesehen hatten. »Nimm dir doch ein paar Figuren mit«, sagte Marie, »du kannst dir so viele aussuchen, wie du willst.«
Hanna zögerte, dann griff sie nach dem Zinnsoldaten, der fest auf seinem einen Bein stand. »Nur den«, sagte sie. »Der musste auch auf eine Reise gehen.«
Und was für eine Reise, dachte Hanna, ein richtiger Leidensweg. Jetzt fing es an zu regnen und es regnete immer stärker, ja es wurde ein richtiger Platzregen. Als der vorbei war, kamen zwei Gassenjungen daher.
»Ei, sieh doch, da liegt ein Zinnsoldat!«, sagte der eine. »Der soll eine Seereise machen.«
Sie machten ein Schiff aus Zeitungspapier, stellten den Zinnsoldaten hinein und ließen ihn den Rinnstein hinuntersegeln: beide Jungen liefen nebenher und klatschten in die Hände. Hilf, Himmel, was sich im Rinnstein für Wellen erhoben! Aber es war ja auch ein Platzregen gefallen. Das Papierboot schwankte auf und nieder und drehte sich von Zeit zu Zeit im Kreise, dass es dem Zinnsoldaten ganz schwindlig wurde; aber er blieb standhaft, veränderte keine Miene, sah geradeaus und schulterte das Gewehr.
Marie suchte eine schöne, mit blauem Samt gefütterte Pappschachtel und legte die Figur hinein. In ihren Augen standen Tränen.
Jesper hüstelte. »Wenn alles vorbei ist, kannst du gern zu uns zurückkommen.«
Und Marie sagte: »Wir werden dich vermissen, Hanna. Ohne dich wird es in unserer Höhle sehr traurig sein …« Ihre Stimme brach, sie weinte. »Wir haben uns an dich gewöhnt, Herzchen.«
Hanna betrachtete ihr silbernes Armband. »Ich werde euch auch vermissen«, sagte sie. Und das war keine Lüge. Die Arbeit mit dem Ton würde ihr fehlen, das Kneten und Formen und die Freude, wenn ein gelungener Gegenstand aus dem Brennofen kam, ebenso Jespers und Maries verschrobene Liebenswürdigkeit, ihre wortkarge Freundlichkeit.
Noch einmal ging sie durch die Werkstatt, um Abschied zu nehmen. Zuletzt blieb sie vor dem Bild mit dem Schutzengel stehen.
»Glaub mir, ich würde dir gern einen Schutzengel mitgeben«, sagte Marie, »einen echten.«
Als Hanna, die Schachtel mit dem Zinnsoldaten in der Tasche, die Werkstatttür hinter sich schloss und sich auf den Heimweg machte, kämpfte auch sie mit den Tränen.
Zu Hause fing sie an zu packen. Ganz unten in den Rucksack legte sie das Märchenbuch, die Schachtel mit dem Zinnsoldaten und den Umschlag mit den Fotos ihrer Mutter und ihrer Schwester und den fünf Postkarten, die sie in den vergangenen Monaten von ihrer Mutter bekommen hatte. Obwohl auf allen immer dasselbe stand, nahm Hanna sie oft in die Hand, jede einzelne, betrachtete die etwas krakelige Handschrift ihrer Mutter und stellte sich vor, was sie in diesem Moment wohl tat, welches ihrer wenigen Kleider sie anhatte, was für ein Essen auf dem Herd stand und für wen sie nähte, stopfte oder flickte.
Über ihre Schätze legte Hanna die Kleidung. Sie merkte schnell, dass ihr Rucksack zu klein für ihre inzwischen angewachsenen Besitztümer war. Frau Golde hatte ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag neue Sommersachen gekauft, und in den letzten Tagen hatte sie, um Hanna für das Leben auf dem Land zu rüsten, nicht nur einen dicken Trainingsanzug besorgt, sondern auch Gummistiefel, neue feste Halbschuhe und einen wetterfesten Mantel mit Kapuze, auf Zuwachs ausgewählt, weil Hanna im Wachsen war. »Wir schicken dir die Sachen nach«, versprach sie. »Pack jetzt nur ein, was du in der nächsten Zeit brauchst.«
Trotzdem platzte Hannas Rucksack fast aus den Nähten, und auch der zusätzliche Koffer, den Frau Golde ihr brachte, wurde voll.
Dann war es so weit. Sie gab allen die Hand und versprach, so bald wie möglich zu Besuch zu kommen und einmal im Monat einen Brief zu schreiben. Dani schlang die Arme um sie und küsste sie und sogar Brittas Puppengesicht zeigte einen traurigen Ausdruck. Hanna war verwundert und gerührt darüber, dass das Mädchen ihr zum Abschied ein Wörterbuch schenkte, Dänisch-Deutsch, Deutsch-Dänisch. Dani hatte ihr ein Bild mit einem Blumenstrauß gemalt.
Herr Golde fuhr Hanna mit dem Auto zur verabredeten Bushaltestelle, wo Schula und Mira bereits warteten, zusammen mit ein paar anderen. Herr Golde stellte Hannas Koffer und ihren Rucksack zu dem Gepäck auf dem Bürgersteig, dann zog er sie ein paar Schritte zur Seite. »Hier«, sagte er und drückte ihr einen Geldschein in die Hand. Sie wollte das Geld nicht annehmen, aber er sagte: »Nimm es ruhig, Kind, du wirst es vielleicht brauchen können. Und vergiss nicht, dass du immer anrufen kannst, wenn du Hilfe benötigst. Oder ein Telegramm schicken.« Sein langes Gesicht war in sorgenvolle Falten gelegt. Hanna bedankte sich und verstaute den Schein sorgfältig in ihrem Rucksack.
Sie war nicht wirklich traurig darüber, Kopenhagen und ihre Gastfamilie zu verlassen. Die Goldes waren gut zu ihr gewesen, das stimmte, dennoch war die Aussicht, auf dem Land zu leben und sich wieder ohne Angst bewegen zu können, sehr verlockend, und natürlich auch Schulas Versprechen, dass Mira weiterhin in ihrer Nähe sein würde.
Bei all den Veränderungen in ihrem Leben war Mira ihr Halt geworden, ihre Stütze und ihre Zuflucht. So etwas wie eine große Schwester, ein Ersatz für Helene. Manchmal fragte Hanna sich allerdings, ob Mira sie wirklich so gern hatte, und sie gestand sich ein, dass es ihr gar nicht gefiel, wie herablassend die Ältere sich zuweilen verhielt. Doch dann dachte sie sofort: Bei Helene habe ich mich doch auch nie gefragt, ob sie mich gern hat oder nicht. Unter Schwestern spielt das keine Rolle, man gehört einfach zusammen.
Inzwischen waren auch die anderen Mädchen angekommen. Sie standen dicht beieinander auf dem Bürgersteig, neben ihrem Gepäck, so wie sie damals, nach ihrer Ankunft in Dänemark, am Hafen gestanden hatten, und wie damals kam ein kalter Wind auf und ließ sie noch enger zusammenrücken.
»Schon wieder ein Abschied«, sagte Mira, »der fünfte.«
»Diesmal hoffentlich der letzte, bis wir endlich nach Palästina fahren«, sagte Rachel.
»Oder zumindest wieder nach Hause, zu unseren Eltern«, sagte Bella mit leiser Stimme, und Hanna fiel plötzlich ein, wie verweint sie damals, auf dem Bahnhof von Leipzig, ausgesehen hatte. Diesmal fing Rosa nicht an zu singen, sie hatten gelernt, wie wichtig es war, nicht unnötig aufzufallen.
Und dann kam er endlich, der Bus, der sie nach Korsør bringen sollte. Von dort aus würden sie mit einer Fähre nach Nyborg übersetzen, auf die Insel Fünen.