Achtes Kapitel
Hanna beobachtete beim Gruppentreffen erstaunt, wie euphorisch die anderen darauf reagierten, dass die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren. »Endlich!«, sagte Rebekka. »Nur weil die Japaner die amerikanische Flotte in Pearl Harbor bombardiert haben.«
»Wo ist das eigentlich, dieses Pearl Harbor?«, fragte Rosa.
»Das ist ein amerikanischer Flottenstützpunkt auf Hawaii«, sagte Schula. »Aber frag mich ja nicht, wo diese Insel liegt. Die Hauptsache ist doch, dass die Amerikaner jetzt dabei sind.«
Hanna konnte die Aufregung nicht ganz verstehen, Amerika war doch so weit weg. Trotzdem ließ sie sich von der Begeisterung anstecken. Und als Schula sagte: »Mit der Hilfe der Amerikaner geht der Krieg bestimmt bald zu Ende«, nickte sie, wie auch die anderen nickten.
»Hitler kann nicht gegen die ganze Welt gewinnen«, sagte Rachel.
Alle Mädchen stimmten zu, und Hanna schob die Hände hinter den Rücken und legte beschwörend ihre Zeigefinger über die Daumen, wie Janka es ihr beigebracht hatte, und sagte dreimal: »Hoffentlich!« Und als Rosa anfing zu singen, sang sie laut mit.
Das war allerdings die einzige Freude, die das neue Jahr bescherte, ansonsten verlief dieser Winter nicht besser als der letzte, im Gegenteil, der Frühling ließ in diesem Jahr besonders lange auf sich warten. Und als er endlich kam, brachte er zwar die ersehnte Arbeit auf dem Feld, doch die Momente des Glücks und der plötzlich aufwallenden Lebenslust, die Hanna im letzten Jahr noch so oft empfunden hatte, wollten sich nicht einstellen. Obwohl die Tage länger und heller wurden, hatte sie das Gefühl, als bleibe es in ihrem Inneren weiterhin dämmrig und grau. Sie empfand eine fast schmerzhafte Sehnsucht nach Lachen, nach Unbeschwertheit.
Statt mit Frühlingsgefühlen fing das Jahr 1942 damit an, dass Rasmus, der inzwischen einen halben Kopf größer war als sie, aufhörte, ihr heimlicher Spielkamerad zu sein. Er ging ihr aus dem Weg, und wenn sie eine gemeinsame Arbeit erledigen mussten, schaute er an ihr vorbei und sagte kein Wort. Es gab keine verstohlenen Blicke mehr, kein scheues Lächeln, keine hastigen, wie zufällig erscheinenden Berührungen der Hände. Hanna vermisste dieses Spiel, das sie für sich »Hin-und-her« nannte und das sie vor dem Winter so oft gespielt hatten, es hatte Farbe und Wärme in ihr Leben gebracht. Sosehr sie auch grübelte, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt oder getan hatte, es wollte ihr nichts einfallen.
Am Samstag nach ihrem siebzehnten Geburtstag, der ihr diesmal besonders traurig vorgekommen war, machte sie mit Mira und Axlan einen Spaziergang zum Birkenwäldchen. Und da wurde ihr plötzlich klar, warum Rasmus sich so seltsam verhielt. Erst hörte sie ihn mit seiner neuen, tiefen Stimme lachen, dann trat Rasmus aus dem Schatten eines Waldwegs, Arm in Arm mit einem Mädchen aus dem Dorf. Hanna kannte sie, sie war die einzige Tochter eines wohlhabenden Bauern, ein ewig kicherndes, süßes Ding. Rasmus erstarrte, als er Hanna und Mira sah, und hörte schlagartig auf zu lachen. Die Röte stieg ihm ins Gesicht, seine abstehenden Ohren leuchteten. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wehrte er Axlan ab, der schwanzwedelnd zu ihm hinüberlief und sogar trotz seines Alters versuchte, an ihm hochzuspringen, und zog sein Mädchen hastig und mit zur Seite gewandtem Gesicht an ihnen vorbei.
Das war es also. Auf dem Rückweg war Hanna schweigsam und antwortete nur kurz, wenn Mira sie etwas fragte, und als Axlan sich an sie drückte, krallten sich ihre Finger so fest in sein Fell, dass er aufjaulte. Sie war gekränkt, fühlte sich plötzlich wieder so armselig und mickrig wie früher. Vor dem Einschlafen fragte sie sich, wie es sein konnte, dass sie enttäuscht über den Verlust eines Menschen war, der ihr in Wirklichkeit nie gehört hatte. Es ist bloß ein Spiel gewesen, sagte sie sich immer wieder, und das Spiel ist vorbei, so wie jedes Spiel einmal zu Ende geht. Warum tut es dann so weh?
Die zweite Enttäuschung war, dass Schula die Gruppe verließ, um Jakob Korn zu heiraten, Inger Abrahamsons Bruder. Es war Sommer, als sie es den Mädchen mitteilte. Hanna erschrak. Schula war in diesen drei Jahren zu einem selbstverständlichen und, wie sie jetzt erst merkte, wichtigen Teil ihres Lebens geworden, ihr graute vor dem drohenden Verlust. Sie sah Schula zwar nur einmal in der Woche, viel seltener als Mira, und trotzdem … Sie hörte nicht mehr, was gesprochen wurde, sie ließ sich von ihren Gedanken treiben. Ich weiß, wie sich ihre Hand anfühlt, wenn sie einem über die Haare streicht, dachte sie, ich weiß, welche Blusen und Röcke sie besitzt und dass ihr Blau am besten steht, ich weiß, wie sie aussieht, wenn sie traurig ist, ich weiß, wie sich ihre Augenbrauen zusammenziehen, wenn ihr nicht gleich eine Antwort einfällt, ich weiß, wie sie sich am Ohrläppchen zupft, wenn sie nachdenkt, und ich weiß, wie hübsch sie plötzlich aussieht, wenn sie lacht. Und das alles werde ich nicht mehr sehen, dieses Wissen ist sinnlos geworden. Am liebsten hätte sie geweint, aber ihre Augen blieben trocken. Es war, als hätte der Schreck alle Flüssigkeit aus ihrem Körper gesaugt. Bella war es, die weinte, sie weinte so leicht, und auch Estherke hatte Tränen in den Augen.
»Ich werde mit meinem Mann in Odense leben«, sagte Schula, »und euch deshalb nicht mehr oft sehen können. Ihr bekommt einen neuen Madrich, er heißt Efraim und ist Däne. Er ist ein sehr netter junger Mann, der zwar kaum Deutsch spricht, dafür aber ausgezeichnet Hebräisch. Außerdem hat Inger versprochen, sich mehr um euch zu kümmern. Es wird also alles so weitergehen wie bisher, ihr behaltet euer Zentrum. Und ich bin nicht aus der Welt, ich kann notfalls herkommen, wenn irgendetwas passiert.«
Erst abends, im Bett, als Bentes rasselnder Atem bewies, dass sie eingeschlafen war, konnte Hanna weinen.
Es stellte sich heraus, dass Efraim wirklich ein netter junger Mann war, wie Schula gesagt hatte, groß und kräftig und mit braunen Locken. Er war freundlich und gesellig, sang gern und lachte viel schneller und lauter als Schula. Er sei fast so schön wie Joschka, flüsterten sich die Mädchen hinter seinem Rücken zu, und Hanna dachte an eine Stelle in ihrem Buch: Oh, wie schön war der junge Prinz, der fröhlich lachend allen Menschen die Hand drückte, während die Musik in die herrliche Nacht hinausklang.
Hanna ertappte sich dabei, dass sie immer öfter an Efraim dachte, auch während der Woche, tagsüber bei der Arbeit und abends vor dem Einschlafen, und sie spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Diese Gedanken weckten Gefühle in ihr, die sie verwirrten. Manchmal träumte sie davon, er würde sie in den Arm nehmen, sie stellte sich vor, wie sie den Kopf an seine Brust legen und durch das Hemd hindurch die Wärme seines Körpers spüren würde, und er würde nach Seife und Schweiß riechen und ein bisschen nach Schokolade. Bei den Gruppentreffen wurde sie immer stiller und wagte kaum, ihn anzuschauen, weil sie fürchtete, jemand, vielleicht sogar er selbst, könne ihr ansehen, was sie empfand.
Der schöne Efraim war schuld an der dritten großen Enttäuschung dieses Jahres. Das war im Herbst, als Hanna bemerkte, dass sich zwischen ihm und Mira etwas angebahnt hatte. Immer öfter musste sie nach den Gruppentreffen allein nach Hause radeln, weil Mira noch bei Efraim bleiben wollte, und sie besuchte Hanna auch seltener als früher, manchmal nur alle zwei, drei Wochen. Hanna war tief getroffen, und wenn sie Mira sah, musste sie sich zusammenreißen, um nicht wie ein trotziges, gekränktes Kind auf die Freundin loszugehen und ihr Vorwürfe zu machen. Dabei wusste sie nicht, welche Enttäuschung schwerer wog, die Enttäuschung darüber, dass Mira sich nicht mehr so fürsorglich um sie kümmerte, wie sie es gewohnt war, oder die, dass Efraim in ihr nur das armselige, mickrige Kind sah und in Mira die Frau.
Erst als sie eines Abends im Bett für Bente das Märchen von der kleinen Meernixe übersetzte und Bente über die traurige Liebe der jüngsten Tochter des Meerkönigs Tränen vergoss, konnte Hanna ebenfalls weinen und den beiden viel Glück wünschen. Schließlich war Mira zwanzig, im heiratsfähigen Alter, wie es in den Märchen hieß, und sie erst siebzehn. Doch diese Einsicht reichte nicht, die Traurigkeit aus ihrem Herzen zu vertreiben, und dabei stand ihr der lange Winter erst noch bevor. Auch die anderen Mädchen waren still geworden. Alle bis auf Mira. Mira strahlte, Mira war glücklich, Mira lachte. Obwohl es eigentlich nichts zu lachen gab.
Efraim war viel interessierter an Politik, als Schula es gewesen war, das merkten die Mädchen bald. Er hörte regelmäßig die Nachrichten der BBC, obwohl das natürlich verboten war, und er verheimlichte den Mädchen auch nicht, was er erfahren hatte. Zum Beispiel berichtete er von den Deportationen der Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten in den Osten, in sogenannte Konzentrationslager. Es machte ihnen Angst, auch wenn sie nicht wussten, was das bedeutete. »Die Deutschen behaupten, es handle sich um Arbeitslager«, sagte Efraim. »Aber wir wissen ja, dass man ihnen nichts glauben kann.«
Abends, im Bett, fragte sich Hanna bedrückt, wie ihre schwache und kränkliche Mutter es aushalten würde, wenn man sie in ein Arbeitslager schickte. Doch dann tröstete sie sich damit, dass es auch in einem Arbeitslager Wäsche gab, die geflickt und ausgebessert werden musste.
Ab und zu kamen Gerüchte auf, die Deutschen wollten die dänischen Juden ebenfalls deportieren, aber nichts passierte und die Gerüchte versickerten wieder wie Wasser im Sand. »Wenn die Deutschen hier in Dänemark etwas gegen die Juden unternehmen wollten, hätten sie es doch schon in den letzten zweieinhalb Jahren tun können, oder etwa nicht?«, sagte Rebekka. Die anderen stimmten zu, weil sie ihr so gerne glauben wollten, und Mira betonte, dass die dänischen Juden noch nicht mal einen gelben Stern tragen müssten. In Dänemark war alles anders, Dänemark war sicher, das wiederholten sie so oft, bis auch Hanna anfing, es zu glauben. Aber ihre Zweifel ließen sich nicht ganz verdrängen.
»Ich habe Angst«, bekannte sie.
»Brauchst du nicht zu haben«, sagte Rachel beruhigend.
Und Mira legte den Arm um ihre Schulter und sagte: »Püppchen, du bist und bleibst ein kleines Schaf.«
Efraim gab sich große Mühe, die Mädchen aufzumuntern, deshalb schlug er vor, am 1. Januar ein Neujahrsfest zu feiern und zwei, drei Gruppen von anderen Inseln dazu einzuladen. »Jeder Grund zum Feiern soll uns recht sein«, sagte er. »Habt ihr früher, daheim, nicht auch die christlichen Feiertage mitgefeiert?«
»Alle außer Ostern«, sagte Rachel. »Eine prima Idee, Efraim. Endlich mal ein bisschen Abwechslung.«
Inger Abrahamson, die inzwischen Schulas Schwägerin geworden war, half ihnen bei den Vorbereitungen. Sie machte eine Liste, welche Lebensmittel die Mädchen von ihren Höfen mitbringen sollten, und organisierte eine Scheune, die groß genug war, dass die Gäste nach der Feier darin schlafen konnten. Efraim hatte verschiedene Gruppen von anderen Inseln eingeladen, an die zwanzig Jugendliche kamen. Nach dem Essen gab es Musik, sie sangen und tanzten Hora, wie sie es früher auf der Hachschara getan hatten.
Hanna betrachtete die Jungen und Mädchen, von denen sie die meisten kannte, entweder von der Fähre und dem Zeltlager oder weil sie ihnen irgendwann in Kopenhagen begegnet war, im Zentrum, dem Treffpunkt der jüdischen Jugend, und sie wunderte sich darüber, dass sie ihr so fremd vorkamen. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, warum das so war. Sie unterhielten sich so selbstverständlich auf Dänisch, als hätten sie nie eine andere Sprache gesprochen. Es lag also nicht nur an Efraim, dass sie, nachdem Schula sie verlassen hatte, bei ihren Gruppentreffen angefangen hatten, nur noch Dänisch zu sprechen, die anderen taten es auch. Waren sie in diesen dreieinhalb Jahren zu Dänen geworden?
Efraim hielt eine lange Ansprache. »Abgesehen davon, dass die Alliierten durch den Eintritt der USA in den Krieg viel stärker geworden sind, hat sich auch das Kriegsglück von Hitlers Truppen gewendet«, sagte er. »Die Deutschen haben den russischen Winter unterschätzt. Dreißig Kilometer vor Moskau sitzen sie fest, die Kälte hat sie mit minus dreißig Grad überfallen, und bei solchen Temperaturen versagen Motoren und Waffen und ihre schweren Panzer frieren im Schlamm fest. Die Deutschen sind eingekesselt, sie haben Schwierigkeiten mit dem Nachschub und leiden unter Hunger und Kälte. Die russischen Truppen kämpfen ausdauernder als erwartet. Der Kampf um Stalingrad dauert nun schon seit August, er ist nicht zu gewinnen. Das ist die Wende, sagen sie in der BBC, das ist der Anfang vom Untergang der Nazis, sie werden den Krieg verlieren. Ihr könnt das ruhig glauben. Selbst wenn die BBC vielleicht ein bisschen übertreibt, werden die Alliierten letztlich siegen, das erkennt jeder, der nur ein bisschen Verstand im Kopf hat.« Am Schluss seiner Rede hob Efraim das Glas und sagte: »Chawerim und Chawerot*, lasst uns hoffen, dass uns das Jahr 1943 unserem großen Ziel Palästina näher bringt.«
Doch erst einmal ging das Jahr im üblichen Trott weiter, ein Tag war wie der andere: bei Dunkelheit aufstehen, Tiere versorgen, frühstücken, arbeiten, zu Mittag essen, arbeiten, zu Abend essen, schlafen. Es gab nichts Neues. Hanna langweilte sich, jeder Handgriff war ihr bis zum Überdruss vertraut, und wenn Bente den Mund aufmachte, wusste Hanna im Voraus, was sie sagen würde. Natürlich war ihr klar, wie ungerecht sie war, sie wies sich selbst zurecht. Woher sollte Bente denn etwas Neues wissen, sie hatte ja ihr ganzes Leben in dieser Langeweile verbracht. Aber sosehr sie sich auch bemühte, die Ungeduld und die Unlust in ihrem Inneren blähten sich auf und drohten sie zu ersticken. Immer häufiger dachte sie an früher, an die Schule, und verstand nicht mehr, dass sie damals so bereitwillig aufs Lernen verzichtet hatte, sie war doch immer gern zur Schule gegangen. Und wie stolz war sie gewesen, als die Lehrerin ihren Aufsatz über den Herbst am Flussufer laut vorgelesen hatte! Sie war eine gute Schülerin gewesen, sogar eine sehr gute. Erst als Janka weggeschickt worden war, hatte sie angefangen, sich zu langweilen. Warum eigentlich? Warum hatte sie danach geglaubt, ihr Leben sei öde und leer? Sie hätte doch verstehen müssen, dass es in der Schule jeden Tag etwas Neues zu lernen gab, etwas Neues zu denken. Und jetzt?
Sie beklagte sich bei Mira über die Eintönigkeit ihrer Tage auf dem Lindenhof und sprach auch von ihrer Sehnsucht danach, etwas anderes zu erleben, etwas zu lernen. Mit wem hätte sie sonst sprechen können? Etwa mit Bente? Das war unvorstellbar, Bente würde sie nicht verstehen. Ihre Erwartungen und Wünsche an das Leben bestanden nur in Arbeit, Essen und Schlafen.
Mira sagte: »Verdammt, Hanna, du bist siebzehn. In deinem Alter sollte man ins Kino gehen, man sollte sich mit Jungen verabreden, man sollte tanzen. Ich verstehe gut, dass du alles satthast und dich nach ein bisschen Abwechslung sehnst.« Und als sie sah, dass Hanna den Tränen nahe war, fügte sie hinzu: »Ich werde mit Efraim darüber sprechen, vielleicht fällt ihm etwas ein.«
Ein paar Wochen später schlug Efraim Hanna vor, an einem Kurs für Hauswirtschaftslehre teilzunehmen, und Hanna nahm das Angebot begeistert an. Erst hatte sie Angst, Bente würde sie nicht gehen lassen, aber ihre Angst war unbegründet. Bente und der Bauer stimmten sofort zu. »Es kann dir später im Leben nur nützen, wenn du etwas lernst«, sagte Bente. »Du sollst nicht so dumm bleiben wie ich.«
Der Kurs begann im Juli und fand in einem ehemaligen Landschulheim in der Nähe von Nyborg statt. Erst war Hanna erschrocken, als sie merkte, dass ihre Finger ihr beim Schreiben nicht mehr gehorchten, sie bewegten sich langsam und ungelenk, und außerdem hatte sie große Schwierigkeiten mit der dänischen Rechtschreibung. Früher war sie immer die Beste in Deutsch gewesen, sie war für ihre Aufsätze gelobt worden, für ihre schöne Schrift, für ihre fehlerfreie Rechtschreibung. Bin ich denn so dumm geworden?, dachte sie verzweifelt und mutlos.
Doch alles änderte sich, als die Lehrerin für Hygiene und Krankenpflege anfing, ihr Nachhilfeunterricht zu geben, von da an wurde es jeden Tag besser und bald schrieb sie wieder so flüssig wie früher. Hanna blühte auf, sie genoss es, zu lernen.
Ein ganz besonderes Vergnügen bereitete es ihr, ihre Hefte ordentlich zu führen. Stundenlang konnte sie abends dasitzen, um mit Buntstiften Bilder zu verschiedenen Themen zu malen. Das hatte sie schon früher gern getan. Für das Fach Vorratshaltung malte sie einen Kellerraum mit Schränken und Regalen, für Textilverarbeitung zeichnete sie verschiedene Arten von Nähten, von Verschlüssen und Ausbesserungsmethoden. Als es um häusliche Krankenpflege ging, dachte sie plötzlich wieder an die verstorbene Bäuerin, deren langes Siechtum sie ja noch mitbekommen hatte, und daran, wie aufopfernd Bente sie gepflegt hatte. Zerknirscht nahm sie sich vor, Bente gegenüber freundlicher zu sein und ihr die Zuneigung auch zu zeigen, die sie für sie empfand.
Hanna war so ausgehungert nach Wissen, dass sie alle Fächer spannend fand, Ernährungslehre, Lebensmittelkunde, Ausstattung einer Wohnung und ihre Pflege, soziale Aufgaben in der Familie, das Planen eines Nutzgartens und seine Bewirtschaftung, Kinderpflege, sogar Instandhaltung der Wäsche. Bei den Gruppentreffen erzählte sie von sich aus von ihrem Kurs und von den anderen Schülerinnen, unter denen sich auch drei jüdische Mädchen befanden. Mit einer von ihnen, Sarah Hvid, hatte sie sich gleich angefreundet.
Als die Hohen Feiertage näher rückten, teilte ihnen Efraim mit, dass sie dieses Jahr das Neujahrsfest nicht gemeinsam begehen könnten, er müsse zu seinen Eltern fahren, weil seine Mutter krank geworden sei. Hanna war enttäuscht, doch am Tag darauf lud Sarah sie ein, Rosch Haschana zusammen mit ihrer Familie zu verbringen. Sie wohnten in einem abgelegenen Haus zwischen Middelfart und Fredericia, neben der Getreidemühle ihres Vaters. Hanna war überrascht, sie wurde rot vor Freude. »Oh, ich komme gern«, sagte sie und dachte dankbar an das Geld, das Herr Golde ihr damals zum Abschied gegeben hatte. Jetzt würde sie es brauchen können, um die Busfahrt zu bezahlen. Sie überlegte lange, was sie als Gastgeschenk mitbringen könnte, und fragte Inger Abrahamson um Rat. »Vielleicht ein Glas eingemachte Gänseleber und einen geräucherten Fisch«, sagte Inger.
Bente war sofort bereit, Hanna die Sachen mitzugeben, sie legte sogar noch ein Säckchen getrockneter Pfifferlinge und ein Glas Preiselbeermarmelade dazu.
Schließlich war es so weit. Hanna packte ein paar Kleidungsstücke und die Geschenke in den Rucksack, der sie schon seit Leipzig begleitete, und fuhr mit dem Bus über Odense nach Middelfart, wo Herr Hvid und Sarah sie mit dem Auto abholen wollten.
Die Villa neben der Mühle war groß und sehr gemütlich eingerichtet, nicht so pompös wie die Wohnung der Goldes in Kopenhagen, aber auch nicht so karg wie das Haus der Børresens. Sarahs Mutter, eine schöne, dunkelhaarige Frau mit einer auffallend tiefen Stimme, umarmte Hanna zur Begrüßung und hieß sie so herzlich willkommen, als wäre sie ein lange vermisstes Familienmitglied. Auch Samuel, Sarahs älterer Bruder, der in Kopenhagen Musik studierte, war zu den Feiertagen nach Hause gekommen. Er war so dunkelhaarig wie seine Mutter und sah ebenso gut aus, während die blonde Sarah eher ihrem etwas farblosen Vater glich. Hannah fühlte sich sofort wohl in diesem Haus, in dieser Familie.
Der Vorabend des Neujahrsfestes fiel auf den 1. Oktober. Sie saßen um den festlich gedeckten Tisch, auf dem Kerzen brannten, und ein Dienstmädchen, das höchstens so alt war wie Hanna, servierte die Speisen. So gut hatte Hanna schon lange nicht mehr gegessen. Es gab Hühnersuppe mit Klößchen, danach Fisch und einen Kalbsbraten, gefüllt mit Feigen, die Hanna bisher nur aus Büchern kannte. Als Nachtisch tunkten sie Apfelstücke in Honig, wie es die Juden auf der ganzen Welt taten, und wünschten sich, dass das neue Jahr ebenso süß werde. Nach dem Essen gingen sie in den Salon und machten den Radioapparat an. In der BBC wurde eine Warnung durchgegeben, eine große Aktion gegen die dänischen Juden stehe bevor.
Frau Hvid schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Das haben wir jetzt von all den Streiks und den Sabotageakten«, sagte sie. »Es war nur ein Anfang, dass die Deutschen das Kriegsrecht über Dänemark verhängt und einen Bevollmächtigten des Deutschen Reichs eingesetzt haben. Ich habe gleich gewusst, dass von diesem Werner Best* nichts Gutes zu erwarten ist, und unser König kann uns nicht mehr helfen.«
Doch ihr Mann beruhigte sie. »Wir haben nichts zu befürchten«, sagte er und goss ihr ein Glas Wein ein. »Die dänische Untergrundbewegung arbeitet mit der Polizei und den jüdischen Organisationen zusammen. Sie haben versprochen, uns rechtzeitig zu warnen, damit wir uns in Sicherheit bringen können. Das ist eine Fehlmeldung der BBC, du weißt doch, dass man sich nicht auf alles verlassen kann, was im Radio gebracht wird.«
Das Gespräch, in das sich auch Samuel und Sarah einmischten, ging weiter, Hanna drückte sich tiefer in den Sessel, ihr war kalt vor Angst und trotzdem spürte sie Schweißtropfen unter ihren Achselhöhlen und zwischen ihren Brüsten, kalte Schweißtropfen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es war das Wort Aktion, das sie in Panik versetzte. Auch Efraim sprach immer von Aktionen. Jeder Deportation ging eine Aktion voraus, eine Aktion war der Anfang einer Katastrophe. Erst als der Name Duckwitz fiel, hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie fragen konnte, wer das sei.
»Georg Ferdinand Duckwitz* ist ein Deutscher, der in Kopenhagen lebt, aber er ist kein Nazi«, antwortete Herr Hvid. »Er arbeitet als Attaché im Dienst der deutschen Abwehr in Kopenhagen. Aber man sagt, dass er sich für die dänischen Juden einsetzt. Und dann gibt es ja noch die dänische Untergrundbewegung, die Kontakt mit den jüdischen Organisationen hat.« Er lachte zufrieden. »Ihr seht, wir brauchen keine Angst zu haben. Es gibt genügend Leute, die uns beschützen.«
Er sprach so sicher, so überzeugend, und seine Zuversicht wirkte so ansteckend, dass Hanna ihre Bedenken zur Seite schob. Sie fragte auch nicht, woher er das alles wusste, das hätte sich angehört, als zweifle sie an seiner Glaubwürdigkeit.
Auch seine Frau hatte sich beruhigt, sie sah wieder ganz entspannt aus. Nun wandte sie sich an ihren Sohn. »Samile, willst du uns nicht noch etwas vorspielen?«
Samuel stand bereitwillig auf, verließ den Salon und kam mit einer Geige zurück. Er strich ein paar Töne mit dem Bogen und drehte an den Wirbeln, strich noch einmal über die Saiten. Dann hob er das Instrument unter das Kinn und begann zu spielen. Noch nie hatte Hanna solche Musik gehört, es klang ganz anders als das, was die Fiedler bei der Hochzeitsfeier im Naundörfchen gespielt hatten, es klang auch ganz anders als die Musik, die sie bei ihren Festen auflegten, anders als die Lieder, die sie sangen. Sie war wie verzaubert und versank in diesen Klängen.
Doch es war nicht nur die Musik, es war auch der junge Mann selbst. Sie konnte den Blick nicht von Samuel wenden. Er stand vor dem hellgrünen Samtvorhang des Fensters, sein schlanker Körper bewegte sich, als würde er, ganz in sich versunken, eine Art Tanz vollführen, einen Tanz mit seiner Geige. Sein Kopf, leicht geneigt, um das Instrument zu halten, hob und senkte sich mit seinen Armen, mit der Geige, mit den Melodien, es war eine Bewegung, die Hanna ans Herz griff. Seine Wimpern warfen Schatten auf die bräunliche Haut, die vollen Lippen waren leicht geöffnet. Hanna spürte, wie sie innerlich ganz weich wurde. Noch nie hatte sie einen so schönen Menschen gesehen, und je länger er spielte, desto schöner wurde er. »Das war die Violinsonate in d-Moll von Georg Friedrich Händel«, sagte er, als er schließlich den Bogen sinken ließ und sich leicht verneigte.
Die anderen klatschten, und Hanna war es, als tauche sie aus einem Traum auf, so benommen fühlte sie sich. Später, als sie im Bett lag, das Frau Hvid in einem Gästezimmer im Erdgeschoss für sie bereitet hatte, hörte sie noch immer die schmelzenden Klänge, und das Bild des schönen jungen Geigers mit den gesenkten Lidern begleitete sie in ihre Träume.