Neuntes Kapitel
Es war noch stockdunkel, als Hanna, von lautem Lärm geweckt, aus einem Traum hochschreckte, den sie im selben Moment schon vergessen hatte. Der Lärm tat ihr in den Ohren weh. Und dann verstand sie, dass draußen jemand gegen die Tür und die Fensterläden schlug. Holz splitterte. »Los, aufmachen!«, wurde gebrüllt, erst auf Deutsch, dann auf Dänisch. »Los, aufmachen!«
Verwirrt fuhr sie hoch und tastete, noch immer benommen, nach der Nachttischlampe, blinzelte gegen das gelbe Licht. In ihren Ohren begann es zu rauschen, ihre Muskeln verkrampften sich, ihr Magen fühlte sich an wie ein Stein. Das Rauschen ließ nach, als sie hörte, wie eilige Schritte die Treppe vom ersten Stock herunterkamen, wo sich die Schlafzimmer der Familie befanden. Hanna sprang aus dem Bett und zog sich hastig an. Vom Flur her waren unterdrückte Stimmen zu hören, dann ein lautes Quietschen, als der Eisenriegel an der Haustür aufgeschoben wurde. Das gleiche Quietschen hatte sie am Vorabend gehört, als jemand den Riegel geschlossen hatte.
»Einen Moment!«, rief ein Mann, der Herr Hvid sein musste, obwohl sie seine Stimme nicht erkannte. Sie klang hoch und zittrig und hatte nichts mehr von der gestrigen Selbstsicherheit und Zuversicht.
Hanna machte die Tür zum Flur auf. Herr Hvid stand an der Haustür, die Hand noch immer am Riegel, als wären seine Finger festgefroren. Er trug einen Morgenrock aus dunkelblauem Velours und das Licht der Deckenlampe über seinem Kopf ließ seine Haare fast weiß aussehen. Ein paar Schritte hinter ihm standen seine Frau und Sarah und Samuel, ebenfalls in Morgenröcken. Sarah und ihre Mutter hielten sich an den Händen. Alle sahen sehr blass und verschreckt aus.
Herr Hvid löste die Finger vom Riegel und drehte langsam den Schlüssel im Schloss. Die Tür wurde aufgestoßen. Männer drängten herein, bewaffnete deutsche Soldaten in Uniform und Männer in Zivil, aber ebenfalls bewaffnet.
Einer der Zivilisten hielt eine Liste in der Hand. »Wir suchen den Juden Aaron Hvid, seine Frau Dora, seinen Sohn Samuel und seine Tochter Sarah«, sagte er auf Dänisch. »Sind Sie Aaron Hvid?«
Herr Hvid nickte und wich zurück, bis er vor seiner Frau und seinen Kindern stand. Langsam breitete er die Arme aus, hielt sie waagrecht zur Seite gestreckt, als könne er seine Familie mit dieser Geste schützen. »Ja«, flüsterte er. »Ja, der bin ich, Aaron Hvid.«
»Anziehen und fertig machen zum Transport«, sagte der Zivilist.
Fassungslos starrte Herr Hvid die Eindringlinge an. Seine Arme sanken nach unten und blieben neben seinem Körper hängen, leicht baumelnd wie die Arme einer Marionette. Der Mann mit der Liste hatte Hanna entdeckt. Er deutete auf sie und fragte: »Und wer ist das?«
Frau Hvid trat einen Schritt vor. Für einen Moment war sie wieder die schöne Frau vom vergangenen Abend, die Dame des Hauses. »Das Mädchen gehört nicht zu uns«, sagte sie in festem Ton. »Sie ist nur zu Besuch.« Sie wandte den Kopf, schaute Hanna an. »Geh nach Hause, Kind, deine Eltern werden sich schon Sorgen machen, wo du bleibst.«
»Wie heißt du?«, fragte der Mann.
Hanna machte den Mund auf, aber nur ein Krächzen drang aus ihrer Kehle.
»Deinen Namen!«, fuhr er sie an.
Sie kämpfte mit dem Brocken in ihrem Hals, und als sie ihren Namen schließlich herausbrachte, klang ihre Stimme rau und schnarrend.
»Bist du Jüdin?«, fragte einer der Deutschen, an seinen Schulterstücken als ranghöher zu erkennen, vielleicht war er ein Offizier, ganz offensichtlich aber der Leiter der Aktion. Er sprach Dänisch mit einem starken deutschen Akzent.
»Nein«, rief Frau Hvid und schüttelte den Kopf.
Doch Hanna nickte. »Ja, ich bin Jüdin«, sagte sie. Zu ihrem Erstaunen gehorchte ihre Stimme ihr jetzt.
Der Offizier warf ihr einen Blick zu, mit gerunzelten Augenbrauen, bevor er sich an die anderen wandte. »Wir nehmen sie mit. Je mehr, umso besser. Und jetzt Schluss mit dem Gequatsche, wir sind hier nicht im Kindergarten.«
Der Zivilist, der vorher schon gesprochen hatte, hob seine Waffe und richtete sie auf die verschreckten Juden. »Versteht ihr nicht, was man euch sagt? Anziehen und fertig machen zum Transport!«
Und dann ging alles sehr schnell. Sie sollten das Nötigste zusammenpacken, nicht mehr, als sie bequem tragen könnten, in einer halben Stunde würden sie abgeholt, teilte ihnen der Offizier mit. Im Gegensatz zu seinen Untergebenen sprach er mit ruhiger, allerdings absolut gleichgültiger Stimme. Dann befahl er zwei Soldaten, zurückzubleiben und die Juden zu bewachen, damit ja keiner auf die Idee kommen würde, abzuhauen.
Hanna packte ihre Anziehsachen in den Rucksack und bedauerte nur, dass sie den Umschlag mit den Fotos nicht mitgenommen hatte, er war auf dem Lindenhof geblieben, in ihrem und Bentes Schrank. Sie wunderte sich über die sonderbare Ruhe, die sie empfand, ihre innere Anspannung hatte sich gelöst, sie fühlte sich fast erleichtert. Ihr war, als könne ihr nichts mehr passieren, nun, da das Schlimmste schon geschehen war. Als sie ihren Kapuzenmantel anzog, erinnerte sie sich dankbar an Frau Golde, die ihn damals auf Zuwachs gekauft hatte. Inzwischen war er nicht mehr neu, ein bisschen zu eng war er ihr auch und die Ärmel reichten nur noch knapp bis zu den Handgelenken, aber das war nicht schlimm, Hauptsache, er war warm.
Herr und Frau Hvid und Sarah und Samuel hatten sich bereits angezogen. Schweigend rannten sie herum und suchten Decken und warme Kleidungsstücke zusammen und Frau Hvid drückte Hanna zwei Pullover und eine braune Wolldecke in die Hand. »Danke«, sagte Hanna, überrascht und gerührt davon, dass die Frau, der man die Panik ansah, trotz ihrer eigenen Sorgen noch so viel Mitgefühl aufbrachte, an andere zu denken. Sarah und ihre Eltern packten ihre Sachen in drei Koffer und zwei Taschen, nur Samuel besaß einen großen Rucksack. Und während der ganzen Zeit standen die beiden Soldaten, die Gewehre im Anschlag, im Flur, mit dem Rücken zur Tür, versperrten mit ihren Körpern den Ausgang und machten jeden Gedanken an Flucht unmöglich. Hanna hätte ihnen am liebsten gesagt, wie lächerlich ihre drohende Haltung angesichts dieser Situation war, man sah den Hvids doch an, dass sie sich in ihr Schicksal gefügt hatten, und wer richtete schon sein Gewehr auf verschreckte Hühner.
Das junge Dienstmädchen stolperte mit einem ebenfalls gepackten Koffer die Treppe herunter. Einer der Soldaten sagte mürrisch auf Deutsch: »Du kannst dableiben, wir nehmen nur die Juden mit.«
Hanna übersetzte es ihr leise. Das Mädchen ließ den Koffer fallen, der die letzten Stufen hinunterpolterte, griff nach dem Geländer und blieb mit aufgerissenen Augen stehen. Ihr Mund öffnete sich, als wolle sie anfangen zu schreien, aber nur ein Keuchen kam heraus. So stand sie noch immer da und starrte ihnen hinterher, als der Lastwagen kam, um sie abzuholen.
Soldaten stießen und schoben sie auf eine offene Ladefläche, auf der schon viele Leute dicht gedrängt saßen, Männer, Frauen und Kinder. Hanna ließ sich einfach zu Boden sinken, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie fuhren durch die Nacht, eine wolkenverhangene, sternenlose Nacht, vorbei an dunklen Schatten von Häusern oder Bäumen, die plötzlich auftauchten und gleich wieder verschwunden waren. Wenn sie durch Ortschaften kamen, begleitete sie das wütende Gebell von Hunden. Hanna fror, sie wickelte sich fester in ihren Mantel. Gesprochen wurde nicht viel, und wenn, dann nur flüsternd, was hätten sie auch sagen sollen. Jeder schien in seine Ängste versunken zu sein, in eine eigene, ganz private Angst und in eine andere, allumfassende Angst, die sich wie ein Netz über sie gelegt hatte und sie enger zusammenschob. Atmen konnten sie noch, aber sie waren gefangen. Irgendwo hinter der Fahrerkabine hustete jemand, ein langes, hässliches Husten, bei dem Hanna allein beim Zuhören die Brust wehtat, und ab und zu weinte ein Kind, wurde aber schnell von seiner Mutter beruhigt. Gelegentlich blieb der Lastwagen stehen und weitere Menschen wurden auf die Ladefläche gestoßen.
Im Osten breitete sich schon fahles, graues Licht am Himmel aus, als sie schließlich einen großen Bahnhof erreichten und ihr Lastwagen neben anderen Lastwagen stehen blieb. Sie mussten absteigen und wurden unter lautem Geschrei und Drohungen zu einem Bahnsteig getrieben, wo ein Güterzug wartete. Man zwang sie, in Viehwaggons zu steigen. In dem allgemeinen Durcheinander wurde Hanna von Sarah und ihrer Familie getrennt, verzweifelt drehte sie den Kopf hin und her, aber nirgendwo sah sie Sarahs hellblauen Mantel mit dem dunkelblauen Samtbesatz, nirgends die dunkle Wollmütze, die Frau Hvid Samuel noch in die Hand gedrückt hatte. Hanna gab auf, sie landete in einem Waggon, der vollgestopft war mit Menschen, die sie nicht kannte, Menschen, mit denen sie nur eines verband, dass sie alle Juden waren. Die Tür schloss sich mit einem Knall, es wurde dunkel.
Hanna kauerte auf dem Boden, den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt. Die Enge war unerträglich. Im Rücken und an den Seiten spürte sie Knie und Ellenbogen, die Gliedmaßen fremder Menschen. Auch als ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, schaute sie sich nicht um. Sie fühlte sich, obwohl sie zwischen so vielen Leuten eingequetscht saß, grenzenlos allein und verlassen, so verloren wie nie in ihrem Leben. Sie konnte nicht nachdenken, am liebsten hätte sie geweint wie ein kleines Kind, aber ausgerechnet das Stöhnen und Jammern um sie herum hielt sie davon ab, drängte jeden Ton, der aus ihr herausbrechen wollte, in ihre Kehle zurück.
Es dauerte lange, bis sich der Zug in Bewegung setzte, und auch dann blieb er immer wieder stehen, ohne dass es einen erkennbaren Grund dafür gegeben hätte. Hanna spürte, wie sie von dem Rattern durchgeschüttelt wurde, der harte Bretterboden schlug gegen ihren Körper, der Schmerz setzte sich fort bis in ihren Kopf. Einmal, als ein Mann neben ihr ein belegtes Brot aus der Tasche zog und anfing zu kauen, dachte sie: Warum haben wir uns nichts zu essen eingepackt? Vielleicht wissen die Hvids nicht, dass man Hunger bekommen könnte. Meine Mutter hätte an Essen gedacht und Bente auch, bei den Hvids hätte vermutlich das Dienstmädchen daran denken müssen. Doch sie schob diesen Gedanken schnell zur Seite, es war sowieso nicht mehr zu ändern. Ein- oder zweimal wurde die Waggontür aufgerissen, als der Zug irgendwo stehen geblieben war, und sie bekamen etwas zu trinken. Einem Mann gelang es, einen der Wassereimer zu ergattern. Der Eimer wurde in eine Ecke gestellt, für ihre Notdurft, war aber nach kurzer Zeit schon voll und lief über. Der Gestank im Waggon wurde so schlimm, dass Hanna nur noch ganz flach zu atmen wagte.
Inzwischen war sie weitergerutscht und hatte sich einen Platz an der Rückwand erobert, unter einem Spalt in den Brettern, durch den ein bisschen frische Luft hereindrang. Sie hielt den Rucksack fest an sich gedrückt, ihre ausgestreckten Beine wurden steif, ihre Muskeln verkrampften sich, aber wenn sie versuchte, ihre Stellung zu ändern, stieß sie gegen fremde Körper. Allmählich verlor sie jedes Gefühl, alles war ihr egal, auch die schmerzenden Muskeln, die steifen Gelenke und sogar der Gestank. Das Stöhnen und Weinen um sie herum wurde manchmal leiser, dann schwoll es wieder an und mischte sich mit dem Rattern der Räder zu einem monotonen Geräusch, das Hanna langsam in eine Art Dämmerzustand versetzte. Vielleicht waren es auch der Hunger und der Durst, die ihre Sinne betäubten, besonders der Durst, jedenfalls verlor sie alles Gefühl für Zeit und wusste nicht mehr, ob Stunden oder Tage vergangen waren.
Das Schütteln, das vom Bretterboden bis in ihren Kopf stieg und jeden Ansatz eines möglichen Gedankens wie Glas zersplittern ließ, war furchtbar. Aber noch furchtbarer war es, wenn der Zug stehen blieb und Hanna nicht wusste, was im nächsten Moment geschehen würde. Manchmal hörte sie ein lautes Krachen, spürte ein plötzliches Schütteln, offenbar wurden Waggons rangiert und neue angehängt, bevor die Fahrt weiterging. Bis der Zug erneut anhielt und die Angst alle anderen Gefühle verdrängte. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden, es gab keine Regel mehr, keinen Rhythmus, keinen natürlichen Ablauf der Ereignisse. Nur wenn Hanna den Kopf zu dem Spalt in der Bretterwand hinaufreckte, erkannte sie am Licht, ob es Tag oder Nacht war, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, der wievielte Tag, die wievielte Nacht. Dann wieder hatte sie das Gefühl, in einem schrecklichen Traum gefangen zu sein, doch wenn es ihr gelang, die Augen zu öffnen, erschrak sie und wünschte sich den Traum zurück. Wie lange konnte man so etwas aushalten?
Einmal spürte sie, wie jemand nach ihrer Hand griff und sie festhielt. Mit größter Mühe wandte sie den Kopf und sah in dem dämmrigen Licht in das Gesicht einer alten, weißhaarigen Frau, die sie unverwandt anschaute. Hanna senkte den Blick, besaß aber nicht die Kraft, ihre Hand aus dem Griff der Frau zu befreien.
Dann, als sie sich schon fragte, ob dieser Zug bis in alle Ewigkeit so weiterfahren würde, blieb er plötzlich stehen, die Tür wurde aufgerissen, Luft und Licht drangen herein. Im ersten Moment spürte sie nur einen brennenden Schmerz in ihren Lungen und ihren Augen. Die alte Frau hatte ihre Hand losgelassen, Hanna drehte den Kopf zur Seite. Die Frau war umgekippt, ihre noch immer offenen Augen starrten ins Leere. Sie sah nicht erlöst aus, nicht so friedlich, wie die Bäuerin vom Lindenhof ausgesehen hatte. Hanna wollte sich abwenden, doch da meinte sie Bentes Stimme zu hören, die sie drängte: Los, du musst es tun! Gehorsam streckte sie die Hand aus und drückte der toten Frau die Augen zu. Ihr Gesicht war noch warm.
Dann stand sie auf und ließ sich treiben, stieg über am Boden liegende Menschen hinweg und schlug sich die Knie und Hände auf, als sie sich, den Rucksack fest an sich geklammert, aus dem Waggon hinunter auf den Bahnsteig fallen ließ.
Irgendwo in ihrer Nähe sagte ein Mann auf Deutsch: »Wir sind in Bauschowitz.«
»Wo?«, fragte ein anderer.
»In Bauschowitz«, wiederholte der Mann. »Nicht weit von Theresienstadt*.«
Hanna meinte, den Namen Theresienstadt schon einmal gehört zu haben, konnte allerdings nichts damit verbinden. War es ein Ghetto? Ein Arbeitslager? Gehörte es zu Namen wie Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald und die Namen irgendwelcher Lager in Polen, die Efraim in der BBC gehört hatte? Sie wollte den Mann fragen, wo dieses Theresienstadt eigentlich lag, in welchem Land, da hörte sie plötzlich, wie jemand ihren Namen rief: »Hanna! Hanna! Hier sind wir!«
Es war Mira, die mit Bella, Rachel und Rosa etwa zwanzig, dreißig Meter von ihr entfernt stand und heftig winkte. Hanna drängte sich zu ihr durch, stieß mit den Ellenbogen Menschen zur Seite, achtete nicht auf ihr lautes Schimpfen, sie sah nur noch Miras dunkle Haare neben Rachels rotblondem Kopf, Bellas fahlblonde Haare und die braunen Locken Rosas. Dankbarkeit stieg in ihr auf und verdrängte jedes andere Gefühl. Sie klammerte sich an Mira, weinte, lachte, weinte wieder. Sie war nicht mehr allein.